DIE MÄR VON DER ÜBERALTERUNG

Das Hauptargument der Rentreform an der Realität geprüft

in (25.01.2001)

Otto Meyer über den Glauben, der Rückgang der Geburtenrate werde in einigen Jahrzehnten Renten und Pensionen unbezahlbar machen! aus "Ossietzky" Heft 13/00

Ein Argument für die angestrebte Umstellung der gesetzlichen Rente von
der bisherigen Umlagefinanzierung auf Kapitalfonds ist schon derart fest
in den Überzeugungen vieler Menschen verankert, daß es mit Hinweisen auf
die Realität kaum noch zu knacken ist. Bis in linke Kreise reicht
inzwischen der Glaube, der Rückgang der Geburtenrate bei gleichzeitig
weiter steigender Lebenserwartung werde in einigen Jahrzehnten die
herkömmlichen Renten und Pensionen unbezahlbar machen. Eine
"Überalterung der Bevölkerung" sei offenkundig; sie werde unaufhaltsam
fortschreiten. Die KundenberaterInnen für Rentenfonds bei den Banken und
Versicherungen müssen nicht auf eigenes Propagandamaterial
zurückgreifen, wenn sie verkünden, im Jahre 2030 werde jeder
Erwerbstätige für mindestens einen Rentner aufzukommen haben. Sie können
sich auf Schriften der Parteien, gar Verlautbarungen der Regierung
berufen.
Soviel stimmt: Seit Jahrzehnten liegt die Geburtenrate in
Gesamtdeutschland niedriger als in den meisten vergleichbaren
Nachbarländern. In den fünfziger Jahren wurden circa 1,2 Millionen
Kinder jährlich geboren, in den Sechzigern um die 1,3 Millionen. In den
Siebzigern folgte der Absturz auf etwa 800 000 jährlich, der seine
Ursache in den schwachen Kriegsjahrgängen hatte. Doch später erhöhte
sich diese Zahl kaum wieder; 1990 lag sie bei 908 000, 1997 bei 812 000,
1998 wurden 782 000 Lebendgeborene gezählt.
Solch ein Rückgang der hier im Land geborenen Bevölkerung mag national
gesonnene Menschen, die sich um den langfristigen Bestand des deutschen
Volkes sorgen, beunruhigen. Sie hätten sich aber zu fragen, wieso in der
DDR die Geburtenrate in den Siebzigern längst nicht so weit zurückging
wie in Westdeutschland und dort in den Achtzigern fast den Stand der
Fünfziger und Sechziger wieder erreichte. Auf 1000 Bewohner wurden 1965
in der BRD 17,8 Lebendgeborene gezählt, in der DDR 16,5; und 1985 waren
es in der BRD 9,6, in der DDR 14,7. Den Bevölkerungspolitikern müßte
auch zu denken geben, wie es in den sogenannten neuen Ländern nach deren
Anschluß an die BRD weiterging: Die Geburtenrate dort ist seitdem mehr
als halbiert worden; 1995 lag sie bei 6,5 Lebendgeborenen auf 1 000
Bewohner.
Daß die Entscheidung einer Frau oder eines Paares für oder gegen
aufzuziehende Kinder viel mit den Zukunftsaussichten der Kinder, mit
eigenen sozialen Absicherungen, materiellen Entschädigungen und den
beruflichen Perspektiven für Frauen zu tun hat, weiß jeder. Doch Kinder-
und Familienpolitik hatte in Bonn und hat jetzt in Berlin kaum einen
Stellenwert. Wer wirklich etwas tun will für mehr Geburten in
Deutschland, sollte hier ansetzen, anstatt zum Beispiel für einen
Kindergartenplatz den Eltern bis zu 500 Mark Gebühr im Monat
aufzuerlegen.
Die Geburtenrate ist keine von Natur gegebene Größe, sie ist durch
politisch-gesellschaftlichen Wandel schnell massiv zu verändern ­ zu
verringern oder, wenn man wollte, auch zu erhöhen. Bis zum Jahre 2030
sind es noch 30 Jahre. Wer heute sagt, es sei vorherbestimmt, wie sich
bis dahin die Bevölkerung in Deutschland entwickelt, will nichts ändern
an der Diskriminierung von Frauen und Kindern.
Die Geburtenrate als Argument für den Abbau der gesetzlichen,
umlagefinanzierten Rente zu instrumentalisieren, ist Demagogie. Selbst
wenn man die obigen Zahlen einfach fortschreibt und nur sie in Beziehung
setzt zu der abzuschätzenden Zahl der über 65jährigen im Jahre 2030 ­
was völlig unzureichend wäre ­ , erhält man nie die Relation von 1:1.
Vielmehr ergeben 40 bis 45 Jahrgänge à 800 000 mindestens 32 bis 35
Millionen im erwerbsfähigen Alter. Auch wenn die durchschnittliche
Lebenserwartung der Menschen über 65 von gegenwärtig 18,5 Jahren noch
leicht steigen sollte (was bei der Verschlechterung der
Krankenversicherungsleistungen kaum anzunehmen ist), ergäben 19
Jahrgänge mit durchschnittlich dann noch knapp 1,1 Millionen pro
Jahrgang gut 20 Millionen. Dann würde die Relation möglicher
Erwerbstätiger zu den über 65-Jährigen 1,7:1 betragen und noch lange
nicht 1:1.
Doch jedes derartige Zahlenspiel kann nur in die Irre führen, wenn
unberücksichtigt bleibt, daß Deutschland seit Jahrzehnten ein
Einwanderungsland ist. Seit 1980 ziehen durchschnittlich Jahr für Jahr
300 000 Menschen mehr nach Deutschland, als von hier auswandern. Wie
sonst wäre die Steigerung der Gesamtbevölkerung von 78 Millionen 1980
auf 82 Millionen im Jahre 1998 zu erklären? Dieser Trend wird sich in
den nächsten Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach noch verstärken, z. B.
nach dem EU-Beitritt Polens und der baltischen Länder. Zwar wurde das
Grundrecht auf Asyl ausgehöhlt und wird vielleicht ganz abgeschafft
werden. Aber die Politiker sind sich einig, daß ein Einwanderungsgesetz
kommen muß. Berücksichtigt man die jetzt schon acht Millionen Menschen
ohne deutschen Paß und jene Millionen (vor allem junge, gut
ausgebildete), die noch hereingelassen werden, und schließt auch eine
mögliche Steigerung der Geburtenrate nicht aus, so erweist sich das
Gerede von der "Überalterung der Bevölkerung" als Irreführung der
Öffentlichkeit. Die in dem Begriff "Überalterung" mit transportierte
Diffamierung alt gewordener Menschen erfüllt den Tatbestand der
Volksverhetzung: Was "über" ist, darf verderben oder muß vernichtet
werden!
Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Rentenkassen haben wenig zu tun
mit geringen Geburtenraten und längerer Lebenszeit. Die Statistik weist
aus, daß 1998 von 39 645 000 Erwerbspersonen nur 35 999 000 tatsächlich
erwerbstätig waren ­ die Differenz zeigt die Zahl der registrierten
Arbeitslosen an. Die Zahl derer, die schon seit Jahrzehnten ohne
Erwerbsarbeit sind, liegt noch wesentlich höher. Würden die Jüngeren in
Umschulungen und Zweitstudien berücksichtigt sowie jene angeblich nicht
mehr vermittelbaren Älteren in Anpassung und vorzeitiger Rente oder auch
Frauen, die es aufgegeben haben, sich als arbeitssuchend zu melden, so
sind zur Zeit sieben Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter ohne
Arbeit und ohne gesichertes Einkommen. Allein diese skandalöse
Massenarbeitslosigkeit führt zu finanziellen Engpässen in den
gesetzlichen Sozialkassen. Würden heute fünf Millionen mehr dort ihre
Pflichtbeiträge einzahlen, gäbÂ’s überhaupt keine Probleme; die Beiträge
könnten leicht unter den Stand von 1980 gesenkt werden. Außerdem sollte
man fordern, daß der Staat für Sonderlasten wie Babyjahre oder
Anwartschaften älterer Aussiedler auch vermehrt Steuern einspeist, daß
er vor allem auch Vermögenseinkommen mit Abgaben für die Sozialkassen
belegt und Menschen mit hohem Verdienst nicht länger freistellt.
Das Phänomen ist schwer zu begreifen: 420 000 registrierte Arbeitslose
unter 25 Jahren, tatsächlich wohl fast 1,5 Millionen junge Menschen ohne
feste Anstellung ­ und trotzdem sind die heute 35Jährigen fest davon
überzeugt, eine ständig steigende Zahl langlebiger Rentnerinnen und
Rentner könne bald nicht mehr versorgt werden, weil zu wenige
Beitragszahler nachwüchsen. Und dann setzen sie auf Renten aus
Kapitalfonds, weil sie offensichtlich glauben, das Kapital sei sicherer
als die Solidarität zwischen den Generationen. Und wenn solche
Absurditäten inzwischen auch von Gewerkschaftsfunktionären für wahr
gehalten und propagiert werden, dann haben die neoliberalen Kreuzritter
für ihr Vorhaben Umbau des Sozialstaates die ideologische Hegemonie
schon erreicht.