Was ist postmoderner Sozialismus?

Umrisse eines neuen ökonomischen Projekts

An der Schwelle des neuen Jahrtausends erleben wir, wie die Bastionen der Moderne und der westlichen Zivilisation zerfallen. Was kommt, ist eine lange Zeit des Übergangs. Neue Gesellschaftsformen und neue Wertesysteme werden sich langsam aus dem Chaos der alten Weltordnung lösen. Kapitalismus und liberale Demokratie, der ökonomische und der liberale Eckpfeiler der Moderne, haben global triumphiert - und sind unfähig, die Probleme zu lösen. Gleichzeitig hat der "real existierende" Sozialismus jede Bedeutung als Alternative verloren. Es geht um ein neues historisches Projekt, das sich aus den Paradoxien und Widersprüchen des Kapitalismus, der Demokratie und des Sozialismus erhebt.

Angesichts der im Kapitalismus der letzten Jahre herrschenden Trends - Aushöhlung des Staates, Verschwinden des traditionellen Klassenkampfs und der traditionellen Klassenorganisation durch die flexible Produktion, Bedeutungsverlust des klassischen Proletariats gegenüber der wachsenden Zahl der Marginalisierten - dürfte es unvermeidlich sein, daß sich in den meisten Gesellschaften der Graben zwischen "reicher" Ökonomie und "marginalisierter" Ökonomie noch vertieft. Aber diese extreme Polarisierung fängt langsam an, zur Wiege einer Alternative zu werden. Das, was wir als "postmoderne Ökonomie" bezeichnen, die vielfältigen ökonomischen Aktivitäten der beschäftigungslosen Menschen und der aufgegebenen Sektoren, wird an Bedeutung gewinnen.

Wenn man sich genauer ansieht, was jenes Drittel der Weltbevölkerung eigentlich macht, das vom globalen ökonomischen System zunehmend ausgegrenzt wird, dann sieht man eine unglaubliche Geschäftigkeit, eine Fülle von Aktivitäten. Straßenverkäufer, Mini-Unternehmen, Zulieferer, Müllsammler und Wiederverwerter, Händler mit weichen Drogen, all diejenigen, die in der sogenannten informellen Ökonomie tätig sind - sie und viele andere ökonomische Unternehmungen bilden das Herz einer neuen Ökonomie, die sich in den verschiedensten Gesellschaften rund um den Globus herausbildet.

Nach der herrschenden Lehrmeinung handelt es sich dabei schlicht um marginale ökonomische Aktivitäten am Fuße der kapitalistischen Pyramide, bestenfalls um einen Bodensatz, aus dem sich hin und wieder neue Unternehmen erheben und eine Nische erobern, die weiter oben in der wirtschaftlichen Ordnung angesiedelt ist. Unsere Auffassung ist das nicht. Unsere These ist, daß diese Aktivitäten kein Teil des heute herrschenden ökonomischen Systems sind - sie sind Teil einer neuen, sich erst herausbildenden Produktionsweise. Der heutige Kapitalismus ist nicht in der Lage, sie in substantieller Weise zu absorbieren. Stattdessen steigt ihre Zahl, je mehr die Globalisierung, angetrieben durch immer fortgeschrittenere Technologien, mit immer weniger Arbeitern auskommt, um Güter und Dienstleistungen zu produzieren. Die herrschende Ökonomie kann sicherlich ohne diejenigen funktionieren, die sie ausschließt; sie bezeichnet sie ja auch als überflüssig und nutzlos. Aber dieser Vorgang hat auch den umgekehrten Effekt. Er verwandelt die Ausgeschlossenen in Widersacher, für die das herrschende System keinen Nutzen hat. Es gibt ihnen nichts und macht aus ihnen potentielle Gegner.

Ob in den verarmten Städte und Metropolen verschiedener afrikanischer Länder oder in den Innenstädten der USA: eine Woge von Kleinhandel und Kleinproduktion geht durch den Spätkapitalismus. Alle diese simplen ökonomischen Unternehmungen werden nach und nach mit anderen Projekten zusammenwachsen, mit Kooperativen, genossenschaftlichen Firmen oder städtischen Betrieben. Sie werden eine große Klasse "assoziierter Produzenten" bilden. An einem bestimmten Punkt werden sie beginnen, das herrschende System zu überwältigen - durch ihre schiere Zahl, durch das Ausmaß ihrer ökonomischen Aktivitäten, und durch ihre Fähigkeit, den herrschenden staatlichen Institutionen entgegenzutreten.

Wenn das passiert, wird es der klassische Fall einer Produktionsweise sein, die eine andere ablöst. Es wird nicht das Proletariat sein, sondern eine weit größere Gruppe ökonomischer Akteure, involviert in einer Vielzahl von "bodennahen" Tätigkeiten und Projekten, die langsam eine neue Alternative formen und zum Träger der neuen sozialen Revolution werden.

Ein neues ökonomisches Projekt

Wenn wir versuchen, uns die neuen Gesellschaften vorzustellen, müssen wir uns klarmachen, warum der Sozialismus des 20. Jahrhunderts scheiterte. Sein prinzipieller Fehler war, daß seine politischen und ökonomischen Institutionen hierarchisch und oft sogar autoritär waren. Das Individuum war dem "kollektiven Willen" untergeordnet, den Partei- und Staatsführer festlegten. Der demokratische Kapitalismus triumphierte über den Sozialismus, weil er sich als weit geeigneter erwies, das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen und ihm bestimmte Rechte und Freiheiten einzuräumen, die mit der kapitalistischen Wirtschaft und ihrem Wachstum kompatibel waren. Jede neue historische Alternative zum Kapitalismus muß das zum Ausgangspunkt nehmen. Sie muß Initiative, Kreativität und Selbstvertrauen der Individuen ins Zentrum stellen.

Im Gegensatz zu den sozialistischen Ökonomien basiert die postmoderne Ökonomie gerade darauf, daß sie keine Schöpfung des Staates ist. Sie gründet sich auf die Initiative von Einzelnen oder von Gruppen. Es ist der Zwang zu überleben, der Menschen dazu bringt, ökonomische aktiv zu werden, mit irgendetwas zu handeln oder, auf einem anderen Level, kriselnde Unternehmen aufzukaufen, die sonst bankrott gehen und ihre Belegschaften entlassen. Wenn sie ihr eigenes ökonomischen Schicksal kontrollieren, suchen diese Kleinproduzenten und organisierten Arbeiterschaften, in genossenschaftlichen Firmen oder Kooperativen, nach den effektivsten Wegen ihre Kosten niedrig zu halten und ihren Lebensunterhalt so gut wie möglich aus dem zu bestreiten, was sie da in Händen halten.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreiteten sich Kooperativen sehr rasch in Westeuropa, Kanada und den USA, und es gab von den ArbeiterInnen selbstverwaltete Unternehmen in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen, im Finanzwesen ebenso wie in Produktion und Handel. Bis heute sind genossenschaftliche Unternehmen ein wenig beachteter, aber funktionierender Wirtschaftssektor in den entwickeltsten Industrienationen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wurde jedoch, wie Assef Bayet in Work Politics and Power, beschreibt, die Dritte Welt zum Schauplatz intensiver Arbeiterkämpfe mit dem Ziel, ihre Unternehmen zu übernehmen und selbst zu führen. In so unterschiedlichen Ländern wie Algerien, Ägypten, Peru oder Chile kontrollierten ArbeiterInnen eine beachtliche Zahl der einheimischen Produktionsbetriebe.

In Nicaragua haben die Anstrengungen von ArbeiterInnen und Bauern, Produktionsstätten und Land zu übernehmen, nach der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 stark zugenommen. Einige dieser Unternehmen gehörten vorher dem Staat, andere waren von ihren früheren Besitzern aufgegeben worden. Heute gibt es mehr als 350 landwirtschaftliche Unternehmen in Nicaragua, die von ihren Belegschaften kontrolliert werden. Dasselbe ist in El Salvador passiert, seit der Bürgerkrieg zuende ist. Kooperativen und Bauern tun sich sogar mit kleinen internationalen Finanz- und Handelsunternehmen zusammen, um den Würgegriff abzuschütteln, mit dem die Salvadorianische Finanzoligarchie Wirtschaft und Außenhandel umklammert hält.

In vielen Fällen ist es der Bankrott herkömmlicher Unternehmen, die nicht länger auf lokalen oder globalen Märkten konkurrenzfähig sind, der die Übernahme durch die Belegschaften ermöglicht. Ein Beispiel ist die US-amerikanische Stahlindustrie, wo ArbeiterInnen Unternehmen wie Republic Engineered Steels aufgekauft und wieder zum Erfolg gebracht haben. United Airlines ist eines der jüngsten Beispiele für die Übernahme eines großen, in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Unternehmens durch Beschäftigte und Gewerkschaften.

Gar Alperovitz vom National Center for Economic Alternatives in Washington, D.C. hat darauf hingewiesen, daß all dies das neoliberale Dogma widerlegt, nur das Privatkapital könne ökonomisch erfolgreich sein. Kläranlagen, Kabelkanäle, Kraftwerke, Bauunternehmen, Football-Mannschaften und auch Exportfirmen befinden sich heute in städtischem oder Arbeiterbesitz und wirtschaften profitabel.

Eine neue Ökonomie kann jedoch nicht von Arbeiterräten oder Gewerkschaften kontrolliert werden. Wenn wirtschaftliche Entscheidungen allein in die Hände von Gewerkschaften oder ArbeiterInnen-Organisationen gelegt werden, führt dies dazu, daß die Interessen der Konsumenten oder anderer sozialer Gruppen, deren Zahl die der ArbeiterInnen weit übersteigt, buchstäblich ignoriert werden. In der heutigen, komplexen Gesellschaft gibt es viele Interessen - Erholung, Bildung, Gesundheit, Kindererziehung, Wohnen, bürgerliche Rechte, Versorgung alter Menschen, Umweltschutz, Ernährung, fairer Handel usw. - die nur repräsentiert und berücksichtigt werden können, wenn sich eigene Basisorganisationen und Netzwerke dafür gründen und Einfluß bekommen.

All das bedeutet, daß wir in einer langen Übergangsperiode leben, in der sich eine reale Mischwirtschaft entwickeln muß - eine, zu der Kooperativen, joint ventures zwischen Staat und Privatkapital, kleine und mittlere Privatunternehmen, Konsumgenossenschaften, selbstverwaltete Betriebe und städtische Unternehmen gehören. Es ist ganz einfach unmöglich, eine halbwegs komplexe, sich modernisierende Wirtschaft so zu betreiben, wie der Sozialismus es versucht hat, mit staatlichen Bürokratien, die alles diktieren. Das ist nicht nur eine Frage der Effektivität - die Linke könnte kaum auf hinreichend breite Unterstützung rechnen, wenn sie einfach nur große Bereiche der Ökonmie verstaatlichen und dadurch die ökonomische Macht monopolisieren wollte. Unter solchen Umständen würde die Linke automatisch in Richtung einer autoritären Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft treiben, ganz so wie es kommunistischen Bewegungen und nationalen Befreiungsbewegungen ging.

Die postmoderne Ökonomie wird eklektisch sein. Sie wird eine große Vielzahl von Formen annehmen. Weil diese Formen so verschieden sind, kann es nur wenige "Gesetze" geben, die das Funktionieren und die Entwicklung einer solchen Ökonomie regeln. Wenn es soweit ist, daß die neuen Basisinteressen tatsächlich Einfluß auf Regierungspolitik nehmen können, dann sollte die Staatsmacht dazu genutzt werden, den Monopolsektor zu kontrollieren und zu begrenzen, während die basisnahen ökonomischen Aktivitäten weitgehend freie Hand erhalten sollten. Sie sollten sich mit staatlicher Unterstützung entwickeln (nicht zuletzt finanzieller), aber mit sowenig staatlicher Intervention wie möglich.

Jenseits der Sozialdemokratie

Die politische Strategie, mit der ein neues historisches Projekt umgesetzt werden kann, muß im Hier und Heute beginnen. Sie kann nicht auf bessere Zeiten warten. Kurz gesagt, die Linke muß sich innerhalb eines reformistischen Szenarios bewegen, innerhalb dessen sie ihr neues historisches Projekt formulieren und konsolidieren muß. Es wird auch soziale Unruhen und explosive Situationen geben, aber sie werden nicht zu einer revolutionären Transformation führen, ganz einfach weil es auf absehbare Zeit weder eine politische Philosophie noch eine revolutionäre Organisation gibt, die in der Lage wäre, die Macht zu übernehmen. Es gibt deshalb keine Alternative zum Reformismus; einem Reformismus allerdings, der seine Kraft aus den sozialen Auseinandersetzungen und dem Aufstieg der postmodernen Gesellschaften in der heutigen Welt zieht.

Außer den sozialen Bewegungen gibt es eine Reihe linker, pluraler politischer Organisationen, die eine brauchbare Basis für einen radikalen Reformismus abgeben könnten. Dazu gehören Organisationen wie die brasilianische Arbeiterpartei, der südafrikanische ANC, die erneuerte FMLN in El Salvador, die Sandinisten in Nicaragua, die mexikanische PRD oder die italienische PDS. Diese Parteien werden die politische Landschaft ihrer Länder nicht dramatisch verändern, aber sie können die Gewichte der politischen Debatte verschieben und Raum für neue Ideen und Ansätze bieten. Und sie können andere Länder und Bewegungen inspirieren.

Es werden sich viele Möglichkeiten für diese sozialen Bewegungen und erneuerten politischen Organisationen eröffnen, für Reformprojekte zu mobilisieren. Schließlich ist der gegenwärtige Neoliberalismus nicht in der Lage, eine stabile Ordnung zu schaffen. Regierungen, die sich seiner Philosophie verschreiben, verlieren regelmäßig wieder die Macht, besonders in der Dritten und ehemaligen Zweiten Welt.

All das wird der Linken die Gelegenheit geben, sich neu zu formieren. Aus diesen Erfahrungen heraus wird sich eine neue Ideologie formen lassen, die gleichzeitig revolutionär und gewaltfrei ist. An bestimmten Punkten könnten sich Revolutionen mit geringem oder gar keinem Blutvergießen ereignen - genau das ist in Osteuropa geschehen, als der Kommunismus zusammenbrach. Wenn die Probleme und Widersprüche des Kapitalismus und der heutigen Demokratien sehr deutlich werden und gleichzeitig eine neue Ideologie zur Verfügung steht, ist es sehr wohl vorstellbar, daß breite Teile der Gesellschaft "Basta" sagen und in relativ kurzer Zeit weitgehende Veränderungen erzwingen.

Wie soll ein neues historisches Projekt es vermeiden, in die "sozialdemokratische Falle" zu geraten? Das klassische sozialdemokratische Problem ist es ja, in ihrem Reformismus bis zur Unkenntlichkeit mit dem Kapitalismus zu verschmelzen. Ein neues ökonomisches Projekt muß sich davon unterscheiden. Während sie auf der einen Seite ein breites System verschiedener Formen von "Basiseigentum" fördert, muß die Linke auf der anderen Seite für eine sozial kontrollierte und regulierte gemischte Wirtschaft kämpfen und sie durchsetzen, sowohl national wie international. Sofern sie Zugang zur Staatsmacht erringt, wird die Linke sie dafür nutzen, entsprechende Parameter zu setzen, die eine solche Entwicklung fördern, und die Ressourcen der führenden internationalen Institutionen umleiten. Letzten Endes ist es der Staat, der den Prozeß der Akkumulation kontrolliert und seine Richtung bestimmt. Mehr als jede andere Institution kann er deshalb auch das Wachstum und die Entwicklung von basisnahem Eigentum und "volkseigenen" Unternehmen durch seine Kredit- und Finanzpolitik sowie seine gesamte Wirtschaftspolitik fördern und abstützen.

Die postmoderne Ökonomie wird sich auch als Teil einer globalen Ökonomie verstehen müssen. In der heutigen, hochintegrierten Welt ist Autarkie unmöglich, wenn sie überhaupt jemals möglich war. Maschinen, Technologie und Kapital müssen mobilisiert werden, wenn es irgendeine nennenswerte Entwicklung geben soll, insbesondere für die ärmeren Weltregionen. Hier bedarf es besonders der Versorgung mit komplementären, dringend benötigten Ressourcen. Das ist einer der Gründe, warum jede denkbare neue Bewegung prinzipiell internationalistisch sein muß. Diversität, Autonomie, Vorrang der lokalen Interessen und Selbstbestimmung bilden die Eckpfeiler dieses neuen Internationalismus.

All das ist Teil des Prozesses, in dem ein postmoderner Sozialismus sich entwickelt. Es wird ein langer Prozeß sein, mit unvorhersehbaren Ereignissen. Er ist revolutionär und evolutionär zugleich. Er siegt nicht zwangsläufig. Paradoxerweise werden die Auseinandersetzungen, die Veränderungen herbeiführen, zunehmend lokal sein - obwohl Gesellschaft, Kultur, Ökonomie so intensiv global verschränkt sind. Die Welt ändert sich auf der Ebene der lokalen Gemeinschaft. Aber das wird nur möglich sein, wenn wir gleichzeitig uns selbst und andere mobilisieren. Die neuen Gesellschaften und Ideologie werden in diesem Prozeß der Veränderung entstehen.

Roger Burbach ist Direktor des Center for the Study of the Americas in Berkeley, Kalifornien. Orlando Núnez ist Direktor von CIPRES, Nicaragua. Boris Kagarlitsky ist Mitbegründer der Russischen Arbeiterpartei und ehemaliges Mitglied des Moskauer Sowjets. Der Beitrag ist eine stark gekürzte Fassung des Schlußkapitels aus Burbach/Núnez/Kagarlitsky: Globalization and its Discontents. The Rise of Postmodern Socialisms, London 1997.

Übersetzung: Christoph Spehr