Kein Entwurf für die Westentasche

PDS-Programmdiskussion: Es bedarf einer realistischen Anschauung der Welt für die PDS als dialektischer Einheit von Oppositionspartei und gestaltender Reformkraft.

Aus: Beilage zu Z 46, Juni 2001, 31-35

Der Eindruck, mit der PDS könne Macht vieles machen, scheint sich nicht nur in Redaktionsstuben festzusetzen. Auch in der Schweriner Staatskanzlei glaubt man wohl, solcher Signale fündig geworden zu sein. Der vorliegende Programmentwurf von Brie, Brie, Klein (im Folgenden: BBK) ist - nach missverständlichen Äußerungen, 2002 mitregieren und sich entschuldigen zu wollen - zwar viel zu lang für die Westentasche (woraus Programme durchaus zückbar sein sollten), belegt aber nur unzulänglich, was Roland Claus nicht müde wird, einzufordern: nicht als Westentaschenreserve der Neuen Mitte zu erscheinen.

1.

Dem "politischen Projekt der neuen Mitte" trauen BBK (trotz der Warnung von SPD-Vorständler Hermann Scheer, der Marketingfloskel nicht eine allzu lange Halbwertzeit beizumessen) zunächst solche Beständigkeit zu, das sie ihm ein ganzes Kapitel widmen. Wohlbemerkt: für ein Programm, das ca. 15 Jahre halten soll. Die "Neue Mitte" wird in Kapitel 7 gar hochgelobt zum "Ziel eines neuen Gesellschaftsvertrags, bei dem die Peitsche der Sachzwänge der Kapitalverwertung mit Zugeständnissen an verschiedene Gruppen verbunden wird." (II,7.) Rauszufinden, worin sich diese "verschiedenen Gruppen" von den Bestverdienenden der Kohl-Ära unterscheiden, bleibt dem fragenden Leser überlassen. Wenn BBK dann noch schreiben: "mit den Kerngruppen der Lohnabhängigen und ihren Gewerkschaften wird ein Konsens gesucht", wird der Leser auch ohne empirischen Beleg gelassen. Zumal, wenn er sich dabei an das von Schröder versprochene Verbot der Aussperrung, die Renten- & Steuerreform oder gar die "Neumitt -NATO" erinnern sollte.

Folgerichtig suggerieren die Autoren auch die ideologische Übermacht der Neuen Mitte als "gegenüber dem harten Neoliberalismus doch kleineres Übel ... und ... auf eine Mehrheit in der Bevölkerung gestützt". Meinen BBK vielleicht doch eher "Hinnehmen", wenn sie "Stützen" schreiben? Was gaben die Demoskopen der Schröder-Regierung seit den schwarzen Koffern so gute Umfragewerte?! Aber: Was hat die Neue Mitte seither nicht alles an Wahlen verloren: immer in absoluten Stimmen und meistens sogar relativ?! Und zwar durch Demobilisierung in ihren Stammwählerbezirken, sozialen Brennpunkten und Ex-Hochburgen! Müssen wir also den Respekt der Autoren vor der Stütz-Kraft der "Neuen Mitte" teilen?

Die Autoren behaupten zudem, "große Teile der Mittelschichten seien in dieses Projekt integriert" (II.7) Wo aber ist da das Neue gegenüber dem Kohlschen Mitte-Projekt? Ausser, dass Kohl noch für 27.000 Konkurse und Insolvenzen pro Jahr steht, die Neue Mitte für 41.000. Bemerkenswert auch die Wortwahl von den "hochqualifizierten Besitzern von Arbeitsplätzen" in der Neuen Mitte. Was, bitteschön, ist für BBK "Besitz"? Jederzeit Kündbares und in keinem Grundbuch Garantiertes? Geschieht eine solche Begriffsumdeutung, um die Integrationskraft der Neuen Mitte zu untermauern? Die böte nämlich "neue (!) Formen der sozialen Integration an. ... Die Einbindung von Gewerkschaften und Umweltorganisationen kann zur Vertretung von wichtigen sozialen und ökologischen Interessen führen. Die Förderung von zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation kann die Gesellschaft gegenüber Kapitalverwertung, patriarchalen Herrschaftsverhältnissen und Rassismus stärken" (II.7). Auch für diese wohlmeinende Umschreibung des gegenwärtigen Monopolkapitalismus bieten die Autoren wenig Konkretes. Von Hermann Scheer wurde am 2. Mai im Streitgespräch mit Dieter Klein zum neu vorgelegten Entwurf kritisch angemerkt, dass er zu illusionär auf "zivilgesellschaftliche Selbstorganisation" und zuwenig auf Staat baue. Gramsci, auf den sich die Autoren gerne berufen, sah die società civile immer zwar konstruktiv, aber kritisch und konkret differenziert von Staat zu Staat (in den USA dürfte z.B. der Ku Klux-Clan einen Teil der Zivilgesellschaft ausmachen). In Deutschland besteht die società civile wesentlich - neben den Gewerkschaften, Kirchen und Parteiuntergliederungen - aus Vereinen. Und diese sollen nun "in Selbstorganisation", aus schierer Abgrenzung zum "Staatssozialismus", also ohne "staatliche Panzerung" (Gramsci), den Streit gegen "Kapitalverwertung und Rassismus" wagen? Und gewinnen? So sind z.B. die einzig größeren, nicht-kapitalistischen Körperschaften in "zivilgesellschaftlicher" Trägerschaft hierzulande die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. BBK sollten einmal die Überlebensfähigkeit solcher "zivilgesellschaftlicher Selbstorganisationen" checken, ohne Staatsverträge und Staat! (Selbiges gilt noch mehr für NGOs und Öko-Unternehmer.)

2.

Am kryptischsten wirkt die Lyrik mit den "Zugängen" zu den "Freiheitsgütern" in bezug auf die Kultur. Da wird mehrfach von "Zugang zu Bildung und Kultur" gesprochen, von der Ausbeutung "kultureller Ressourcen" durch den Informationskapitalismus (was diesen angeblich vom Industriekapitalismus unterscheide; vgl. II.3). Da hier begrifflich "Bildung" aus "Kultur" herausgenommen wird, geht es also nicht um ABC und Dreisatz. Die Autoren sehen "Kultur" wohl als eine Art verschlossenen Tresor voll hoher zivilisatorischer Werte, dem nun eine sich an Mitte-Links beteiligende PDS die Tür aufzieht und allen freien Menschen freien Zugang gewährt, die sonst niemals mit Kultur in Berührung gekommen wären. So, als ob nicht jegliche Klasse, Schicht, Region ihre spezifische, unterdrückte oder entfaltete, Art hat, Lebensgewohnheiten zu pflegen. Das Wesen des transnationalen Monopolkapitals und seiner politischen Regime ist aber, längst bestehende Kulturen samt ihren emanzipatorischen Keimen und identitätsstiftenden Kernen zu zertreten. Früher zerstreute die Polizei, heute tut's auch big brother. Es geht also mitnichten darum, einen von Neoliberalen versperrten Zugang zu einer monolitischen Kultur zu öffnen, sondern darum, selbst die kleinsten, unterdrückten, proletarischen wie regionalen Kulturen dieser Welt zu fördern, zu ermutigen, zu vernetzen, zu entfalten und gegen den gegenwärtigen Terror der Ökonomie zu verdichten, nichts weniger, als was Gramsci die Arbeit an der kulturellen Hegemonie genannt hatte. Sollten die Autoren aber doch "Kultur" mit "Zivilisation" verwechselt haben? Reden sie gar einem "Zugang" zu irgendeiner Leitkultur das Wort?

3.

Darüberhinaus: die aufgeregte Abgrenzung gegen den "Staatssozialismus" hat etwas entschuldigendes, riecht nach Leichen im Keller. Als ob gerade jetzt der Menschheit Entwarnung gegenüber einem bevorstehenden, neuerlichen Staatssozialismus-Versuch beteuert werden müsse. Und so, als ob der Staat schlechthin den Sozialismus ruiniert hätte und nicht seine konkreten Unzulänglichkeiten. Solcherlei Abkehr vom "Staatssozialismus" bleibt aber eine Abkehr vom vorgestern. Die Gesellschaft von morgen braucht mehr funktionierenden und demokratischen Staat und nicht weniger. Die antithetische Fesselung der BBK an die Staatspartei ist so wenig produktiv, wie kritiklos-positive Fixierung darauf.

Auch der ansonsten so gewitzte Harry Nick legt sich via ND (11. Mai) in antithetische DDR-Fesseln und lobt den BBK-Satz: "Unternehmertum und betriebswirtschaftliches Gewinninteresse sind wichtige Bedingungen von Innovation und Effizienz." Rührt Nick hier tatsächlich so "tümlich" die Unternehmer Daimler und Konstantin Wecker, die Deutsche Bank und KMU zusammen? Weiß nicht gerade er, dass heutzutage "betriebswirtschaftliches Gewinnstreben" die Externalisierung der Kosten für Umwelt, öffentliche Logistik, soziale Folgen etc. zu öffentlichen Lasten bedeutet? Klar weiß er's. Aber Nick argumentiert für den Gewinn nicht aus heutiger Sicht. Sondern über ganze vier ND-Spalten ausschließlich gegen das untergegangene DDR-NÖSPL und die "naturalwirtschaftliche Anweisungen" der SED. Schattenboxen mit vorgestern bringt aber nicht die Kraft, heute zu differenzieren: Gewinne in der DDR waren den heutigen nicht mal ähnlich. Und ein Gewinn beim Herstellen eines Windrads heute ist für die gesellschaftliche Effizienz anders zu bewerten, als die "innovative" Produktion einer "effizienten" Uranbombe.

Antithetische Fesselung an die SED und entsprechend keinerlei Herkunftsbestimmung der PDS aus ihrer West- und gesamtdeutschen Geschichte, bzw. Dürftiges zu den Finanzmärkten von heute und morgen - das sind die Schwächen des BBK-Entwurfs, trotz häufig hübsch Historisch-Metaphorischem. Dann aber wieder unkt er "kapitalismuskritisch" vom "gewandelten Kapitalismus" (II.2) mit einer "Selbstentlassung (??) der Wirtschaftseliten aus sozialen Verpflichtungen" (I.2), wird die Neue Mitte in derart respektierlichen Farben gemalt, dass sie von der PDS bald zu einem Mitte-Links umformiert werden könnte, weil das Schröder/Fischer-Modell "im Unterschied zum klassischen Neoliberalismus ... die Legitimität der Vertretung sozialer Interessen gegenüber dem Kapital" anerkenne (II.7). Und dies trotz des europaweiten "Platz"-Konzerts vieler Mitte-Links-Blasen, eben gerade via Neofaschisten in Italien. Eine langfristig-strategisch systematisierte Verknüpfung von regionalem Mitregieren und außerparlamentarischem Bewegungsdruck findet im BBK-Entwurf nicht statt. Gerade aber an diesem Defizit ist die italienische Mitte-Links-Regierung gescheitert. Wer, wie die PDS in Cottbus mit nur 8 Gegenstimmen, die "Mitte-Links-Option" beschließt, muss umsomehr aus dem Scheitern lernen.

4.

Aber BBK, fast gutgläubig auf Partnersuche, empfehlen die Anknüpfung an die "sozialdemokratisch modifizierte Form des neoliberalen Wirtschaftsprojektes" (II.5). Der Entwurf von W. Wolf sieht das "neoliberale Modell" ähnlich unentrinnbar als "weltweit bürgerliches Leitbild", aber ohne "größere Unterschiede zwischen konservativ und sozialdemokratisch geführten Regierungen" (II.2). BBK empfehlen daraus Anknüpfung, Wolf gelangt, ebenso wenig differenziert, zur ewigen Verweigerung in parlamentarischer Partnerlosigkeit.

Einerseits kritisiert Wolf "die unipolare Weltordnung mit den USA als führender Wirtschafts- und Militärmacht" (II.1). Andererseits sieht er "aber auch keinen Vorteil in der Herausbildung einer bipolaren Welt" mit einem von einer stärkeren Linken geprägtem Europa. Wolf wie BBK pauschalieren auf den ähnlichen Themenfeldern, eben nur mit entgegengesetzter Stoßrichtung. Wolf sieht z.B. die "neue Unterklasse" nur "aus armen Erwerbstätigen und arbeitslosen Armen", ohne hier depravierte Kleinunternehmer u.ä. auch nur zu nennen.

"Ausbildung, Bildung und Umweltschutz, alternative Energien und öffentlicher Verkehr" bekämen "Arbeit und Investition" darum entzogen, na, warum? "Weil das private Kapital daraus keinen kurzfristigen Profit ziehen kann." Ach so? Als ob nicht zahlreiche Öko-Projekte und linke Rock-CDs mit Gewinn durch private Kleinunternehmer auf den Weg gebracht worden seien. Zur KMU-Problematik fällt Wolf allenfalls die Formulierung ein: "Wir lehnen die Tendenz (...) eines Gründungsbooms mit Scheinselbständigen ab." Und als "Erfüllungsgehilfen der weltweit größten Konzerne und Banken " werden die "Nationalstaaten kleiner Länder" entlarvt (II.4). Wenige Zeilen später steht dann: "Abgebaut wurden die demokratischen Einflussmöglichkeiten und sozialen Komponenten des Nationalstaates". Aber ohne - wie kürzlich cubanische Autoren im Buch "Imperialismus heute" - Wege zu entsprechender Stärkung von Nationalstaaten zu erörtern, besonders, was die Stärkung von Staatseinnahmen anbetrifft, also reale Umverteilung. Folgerichtig wirkt das "15 Punkte-Programm" am Ende des Wolf-Entwurfs wie ein angeklebter Bart, ist nicht logisch aus dem Analyseteil abgeleitet, bei Wolfscher Partner-Verweigerung ohnehin auf Unrealisierbarkeit ausgelegt und oft sattsam bekannt ("grosse Vermögen müssen konsequent besteuert werden").

5.

Keines der beiden Papiere entwirft in toto eine realistische Anschauung der Welt für die PDS als dialektischer Einheit von Oppositionspartei in Bewegung gegen monopolkapitalistischen Besitz und gleichzeitig gestaltender Reformkraft in Staat und Wirtschaft. Aus dem dramatischen Scheitern europäischer Mitte-Links-Regierungen müssen neue, strategische Perspektiven gefolgert werden. Eine echte Wiederermächtigung von Demokratie, die sich aus dem Bastille-Sturm herleitet und sich gegen diese monströse Übermacht der transnationalen Monopole erhebt, braucht nicht weniger als die Anstrengung einer demokratischen Revolution und eine hierzu kompetente Partei. Aber selbst nur die Mitte von der neoliberalen Rechten wegzurücken, möglicherweise dabei die SPD in Nuancen wieder sozialdemokratischer zu machen, bedarf einer radikaldemokratischen, sozialistischen Oppositionspartei mit mehr Mobilisierungskraft und nicht herausgedrängten Mitgliedern, mit marxistischem Wissen, das von dieser Welt ist.: "Wer machtlos ist, hat keine Verhandlungsmacht und ist kein Partner. " (BBK III) Ohne Analyse als Wissensmacht und außerparlamentarische Strategie bliebe die Westentasche der neuen Mitte reserviert.