Macht und Neid

Politik mit einem moralischen Vergehen

Gemeinhin ist Neid schlecht...

,,Die folgenreichste Wirkung des Neides aber besteht in seiner Transformation der Ideen des Herrschenden zu herrschenden Ideen. Ist erst einmal die Verbindung zwischen der privilegierten Position und bestimmten Werten sozial hergestellt, sind die Unterprivilegierten gezwungen, nach Wiedergutmachung für ihre Erniedrigung durch das Einfordern dieser Werte für sich selbst zu streben - um dadurch die verführerische Macht jener Werte weiter zu vergrößern und den Glauben an ihre Zauberkräfte zu stärken. Es sind nicht nur die Privilegierten, die den Bedarf an mehr Moderne zur Heilung der Krankheiten der Moderne predigen; insgesamt stimmen auch die Unterprivilegierten mit Enthusiasmus und Hingabe zu. Sie verlangen neu gemischte Karten, nicht ein anderes Spiel; sie kritisieren nicht das Spiel, nur das bessere Blatt des Gegenübers."

Zygmunt Bauman1

Neid und Machtnutzen

Gemeinhin ist Neid schlecht. In ihm äußert sich ein ,,soziales Gefühl"2: das menschliche Begehren auf Vorteile, Vermögen, Vorzüge (kurz: Werte), die andere Menschen ihr eigen nennen und einem selbst verwehrt sind. Und dies darf man nicht, zumindest nicht in unserer Kultur. Auf das Begehren der Werte anderer steht mindestens die moralisch-ethische Sanktion, wenn nicht gar die strafrechtliche. Warum das so ist? Einerseits, so die Rechtfertigung, beruhe das Erlangen von Werten, vorzüglich in Form materiellen Besitzes, eingeschlossen all die Vorzüge, die dieser mit sich bringt, auf ,eigener Leistung`. Wer also sein Begehren auf Werte lediglich mit dem Verweis auf deren Vorhandensein bei anderen begleitet, also auf Gleichheit bzw. den Anspruch auf Gleichheit verweist, ohne eigene Anstrengungen erkennen zu lassen, ist suspekt. Und andererseits neige ,der Mensch` ohnehin von ,Natur` aus zu Selbstsucht und Eigeninteresse.3 Kombiniere ich diese beiden Aspekte, so erhalte ich ,,Neid" als einen anderen Namen für ,selbstsüchtige Faulheit` oder den ,Egoismus der Faulen`. Gegenwärtig formuliert man besser politisch korrekt und sagt ,,sozialer Neid" oder ,,Sozialneid".

Sozialer Neid wird stets anderen attestiert. Er ist eine Fremdbezichtigung und meint die Minderprivilegierten. Von ihnen wird behauptet, sie würden am liebsten die Vorteile der Privilegierten für sich in Anspruch nehmen, ohne die entsprechenden Eigenleistungen zu erbringen. Diese Behauptung stammt aus den Mündern der Privilegierten. Der Neid erscheint als ein ungerechtfertigtes Begehren, welches ,,die da unten" auf ,,die da oben" richten. Im Kontext dieser Fremdzuschreibung figuriert der Neid als eine eigensinnige Strategie der Minderprivilegierten, die ihn zu Unrecht zur Erlangung von Werten anderer einsetzen. Er gehört daher moralisch geächtet und ethisch und/oder strafrechtlich negativ sanktioniert. Neid muß bei den Minderprivilegierten zivilisiert werden.

Mir hingegen erscheinen die Minderprivilegierten längst als vom ,eigenen` Neide befreit. Sollten sie jemals dem ideologischen Schein getrotzt und in der Tat Neid als strategischen Eigensinn zur Delegitimation der Vorteile der Privilegierten entwickelt haben, so muß der ihnen gegenwärtig abhanden gekommen sein. Durch die Privilegierten des eigenen Neides entmächtigt, funktionieren sie als Akteure und Effekte einer Neidpolitik der Privilegierten; zu Objekten der Ablenkung eigenen Neides degradiert und sich selbst zu Subjekten fremden Neides unterwerfend.4 Die symbolische Politik mit dem Neid stellt eine Strategie der Privilegierten dar, ihr Begehren nach Verwertung der produktiven Kräfte der Minderprivilegierten - ihre eigene Gier nach den Werten anderer also - zielgenau zu befriedigen.

Im Spiel mit dem Neid interessiert mich, wie es Privilegierte schaffen, das Risiko des Aufbegehrens der Minderprivilegierten zu beherrschen. Es geht mir um das Verstehen der ideologischen und politischen Strategien, die es Privilegierten erlauben, erstens das Bild des Neides der Minderprivilegierten stetig neu zu variieren und lebendig zu erhalten, zweitens das Interesse an der Wahrung der eigenen Privilegien in fremden Neid (den der anderen, Minderprivilegierten) zu verwandeln, und drittens diesen Neid der anderen für sich arbeiten zu lassen. Was gibt der Neid her - zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der Minderprivilegierten und zum Zwecke der Naturalisierung sozialer Ungleichheit und bestehender Herrschaftsverhältnisse?

Der symbolische Gebrauch sozialen Neides zeigt eine soziale Beziehung an. Als Fremd-Bezichtigung enthält diese Beziehung eine Abstandsbestimmung. In modernen Gesellschaften zeugt die Distanznahme vom Bestreben je relativ Privilegierter5, ein sich abzeichnendes, bereits eingetretenes oder lediglich befürchtetes Ungleichgewicht bei der Vergabe sozialer Vorteile auszubalancieren, indem die eigenen Vorteile gesichert bzw. mögliche neue Vorteile erobert werden. Im Verbund dieser je relativ Privilegierten lassen sich Personen bzw. Gruppen von Personen kennzeichnen, die, mitunter nur temporär, eine besonders komfortable Position einnehmen. Um diese Differenz zu verdeutlichen, bezeichne ich sie als ,,herrschend Privilegierte". Ihr strategischer Vorteil besticht durch hegemoniale Stärke, da sie den ,besten` Platz im Feld der Fremdbezichtigungen besetzen. In demokratischen Gesellschaften rekrutiert sich die Gruppe der herrschend Privilegierten im wesentlichen aus den Mitgliedern der politischen und wirtschaftlichen Kaste. Sie nehmen einerseits die Legitimation durch den Wahlbürger in Anspruch; aus dieser erwächst die politische Deutungs- und Gewährungshoheit für die Vergabe von sozialer Gleichheit und Ungleichheit. Andererseits schöpfen sie auf Grund ökonomischer Stärke die wirtschaftliche Produktionsmacht von sozialer Gleichheit und Ungleichheit voll aus. Der hegemoniale Effekt, der aus politischer Macht und/oder ökonomischer Kraft entsteht, zeichnet sich nach Bauman dadurch aus, jeden Widerstand gegen das ,,Privileg vom Privilegienprinzip als solchem abzulenken und in einen Schub für mehr Privilegien umzuformen".6 Diese Strategie reagiert auf einen aus den ,,Bedingungen der Ungleichheit" hervorgegangenen Konflikt, der in den Kategorien ethischer Kodierung und ideologischen Scheins so markiert wird: Eifersucht auf seiten der Privilegierten, die den begehrten Wert bereits besitzen, und Neid auf Seiten der Unterprivilegierten, die dazu neigen, die sozial definierte Inferiotät der Position, zu der sie verurteilt wurden, auf den Nichtbesitz jenes Wertes zurückzuführen.7

Das historische Apriori8, im Banne dessen der Anspruch auf Gleichheit zirkuliert und der Unterprivilegierte zum Privilegiensucher gerät, realisiert sich im Differenzspiel von formaler (rechtlicher) Gleichheit und sozialer Ungleichheit. Die Unterprivilegierten trauen sich selbst nicht über den Weg, dafür aber der Aussicht, bei Erbringung ,,eigener Leistungen" die begehrten Werte der anderen, der Privilegierten, zu erhalten. Der ihnen zugeschriebene Neid erscheint durch den Akt der Anerkennung dieses Weges - kein anderer gerät zum Ausgleich sozialer Ungleichheit in den Blick - als eigener Neid, als Neid unter Gleichen, als Neid der gleich Unterprivilegierten. Im Vollzug der produktiven Verwertung des Neides zur Erlangung der Vorteile, die andere ihr eigen nennen, wird der fremdzugeschriebene Neid auf die gleich Unterprivilegierten ausgerichtet, an sie gebunden. Das Bestreben, den Status der gleich Unterprivilegierten zu verlassen, erfordert den ständigen Vergleich mit ihnen. Die stete Beobachtung des Abstands zwischen einem selbst und den gleich Unterprivilegierten liefert die entscheidenden Anhaltspunkte, wie weit man bereits entkommen ist. Jede Vergrößerung dieser Differenz erscheint als Schritt hin zu den Privilegierten. Der Neid, nun als Netz zwischen die Unterprivilegierten geknüpft, eignet sich zur Nutzung durch die herrschend Privilegierten. Sie lassen ihn kursieren, indem sie die Wachsamkeit über die Gewährung von Begehrenswertem unter den jeweils gleich Unterprivilegierten ständig anreizen. Sie gebrauchen ihn als Argument in der Ordnung des Diskurses über soziale Gleichheit und Ungleichheit, gerade weil der Neid als ein Phänomen beschrieben werden kann, das unter ,,nahezu Gleichen" seine nachdrücklichsten Manifestationen erfährt. In dieser Perspektive rücken die Angehörigen der Gruppe der Unterprivilegierten als sich sozial nahestehend in den Mittelpunkt. Von ihnen kann belegt werden, daß sie in ähnlichen Lebenssituationen auf der Basis gegenseitigen Wissens ,,ihr Los im Licht fremder Schicksale" beurteilen.9

Der Neid ist für die herrschend Privilegierten wertvoll. Er hilft, die Nützlichkeit der Unterprivilegierten zu steigern, und eignet sich zugleich als Instrument ihrer Unterwerfung unter das ,,Privileg vom Privilegienprinzip". Ein so wichtiger Aspekt der Machtausübung darf weder dem Selbstlauf überlassen noch den Unterprivilegierten zugänglich gemacht werden. Auch der Neid gehört unter Kuratel einer diskursiven und symbolischen Kontrolle durch die Privilegierten. Die moralische Ächtung des Neides dient nicht seiner Liquidation, sondern zuallererst einer wirksamen Affektkontrolle bei den Unterprivilegierten. Die Fremdzuschreibung, neidisch zu sein, ist stets verkoppelt mit dem Normativ, nicht neidisch sein zu sollen. ,,WIR sagen euch, welche niedrigen Neigungen ihr an euch domestizieren sollt, und ihr dürft sicher sein, daß WIR euch die Bedingungen schaffen, in denen ihr dies auch zivilisiert tun könnt." Das Ergebnis dieses moral coachings kann bei den Unterprivilegierten in der Maske der ethischen Selbstkontrolle besichtigt werden, sie wollen nicht neidisch sein. Der andauernde Erfolg dieses ethischen Trainings kann daran bemessen werden, wie reibungslos diejenigen, die des Neides bezichtigt werden, ihn an sich und ihresgleichen exekutieren. Anstatt ihn gegen die herrschend Privilegierten zu wenden. Derweil die Unterprivilegierten kontrolliert und beherrscht, neidisch untereinander und aufeinander, sich selbst kontrollieren und beherrschen, bleiben die herrschend Privilegierten von ,,minderem" Neid verschont und befriedigen die ihnen naheliegenden Neidgelüste von ,,höherem" Wert. Regulierter Neidverkehr bestimmt das gesellschaftliche Bild. Die Wahrung der ,,feinen" Unterschiede beruht auf der Voraussetzung, daß die ,,groben" Unterschiede unangetastet sind, und zeitigen zugleich den Effekt, daß sie unangetastet bleiben.10

Zivilisiert regulierter Neid erhöht seinen Attraktionswert für alle Beteiligten. Denn innergesellschaftlicher Frieden stellt sich als ein Resultat gemeinsam geleisteter Neid-Politik ein. Die hohe Wertschätzung des Friedens gründet nicht allein in der Abwesenheit von Bürgerkrieg und Krieg. Der innergesellschaftliche Frieden bietet vor allem den Unterprivilegierten ein hohes Maß an Sicherheit; in Ruhe und relativ unbehelligt (belästigt allerdings schon) von den Privilegierten, den ,,eigenen Sachen nachzugehen", ,,das seinige zu tun". Diesen Frieden wahren zu wollen, scheint Konsens zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten zu sein. Aktuell stützen sich gesellschaftlicher Friedenswille und Akzeptanz des regulierten Neides gegenseitig. Dies heißt: Wer den innergesellschaftlichen Frieden kündigt, die Kündigung androht oder Anstrengungen in dieser Hinsicht unternimmt, darf nicht mit dem Überleben des regulierten Neides rechnen. Und umgekehrt: Wer den regulierten Neid aus seinen Fesseln befreit, dazu verführt oder nötigt oder Bemühungen in dieser Richtung veranlaßt oder anzettelt, nimmt mindestens billigend gesellschaftlichen Unfrieden in Kauf.

Die ,,Kultur des neuen Kapitalismus"11 verspricht einiges an Möglichkeiten, auch den Neid zu de-regulieren.

Neid in aktuellen Angeboten - Stichproben für eine noch zu schreibende Phänotypologie

Zurückhaltung in Fragen sozialer Gleichheit/Ungleichheit scheint unter dem Banner der ,,Kultur des neuen Kapitalismus" nicht angebracht zu sein. Die den Neid naturalisierende Interpretationsvariante feiert unter flexiblen Globaliteuren ihre konkret-historische Auferstehung. So gab MobilCom-Chef Gerhard Schmid in einem Interview auf die Frage ,,Was halten Sie von dem Motto: Gemeinsinn geht vor Eigensinn?" zur Antwort: ,,Halte ich für sehr gut, allderweil fehlt mir der Glaube, daß die Mehrheit der Menschen so lebt. Weil das bedeuten würde: Kommunismus hätte Erfolg gehabt ... Aber ich glaube, daß der Ansporn des Menschen ist, mehr zu haben als der andere. Es ist eine wichtige Antriebsfeder, besser zu sein, schöner zu sein - und das bringt Fortschritte."12

Franziska van Almsick präsentierte kürzlich eine andere Deutungsart des Neides. Sie stellte eine Gestalt vor, die von der Idee des prinzipiell ungerechtfertigten Neides als schlechte Charaktereigenschaft lebt. Neid als moralisch disqualifizierende Entgleisung von Menschen, die ihre eigene Leistungsunfähigkeit bzw. -unwilligkeit kompensieren, indem sie anderen die Erfolge mißgönnen, die diese auf Grund eigener Leistung erreichten. Die Verknüpfung mit Deutschlands internen Ost-West-Beziehungen konkretisiert diese Neidfigur zu einer der aktuell gängigsten. Und die hier zitierte Zeitschrift darf aussprechen (lassen), was die moralischen Ordnungshüter im Lande nur widerwillig zur Kenntnis nehmen. Auf dieser Spielwiese exekutieren viele vom Gefühl sozialer Ungleichheit gezeichnete Ostdeutsche diesen Akt positiver Diskriminierung an sich selbst. Eine herrschaftsfreundliche Entsorgung der Beunruhigung, die viele von ihnen seit der grundlegenden Neuordnung der anteiligen Gewährung gesellschaftlichen Reichtums im Griff hält, scheint zu gelingen: ,,Die meisten sehen nur, daß ich Kohle habe, der Neid spielt eine große Rolle. Ich bin einer der wenigen Ossis, die es wirklich geschafft haben. Für mich hat der Mauerfall viel Positives gehabt, aber einige aus dem Osten würden die Mauer am liebsten wieder aufbauen. Neid ist 'ne blöde Sache, er ärgert mich und tut manchmal weh. Aber wie sagt man: Neid muß man sich erarbeiten, Mitleid kriegt man geschenkt. Also muß ich was haben, was andre gern hätten. Ich habe nichts gegen Kritik, kann auch über mich selbst lachen, aber es gibt 'nen Punkt, der nicht überschritten werden darf. ... Habe viel gelernt, was im Westen vernachlässigt wird. ... Solidarität. Im Kindesalter war teilen ganz groß angesagt. Man machte alles zusammen, im Kollektiv. Mehr Zusammengehörigkeit, weniger Egoismus. Haste mal keene Butter jehabt, biste einfach 'nen Stock tiefer jegangen. Wollten meine Eltern mal weggehen, haben sie mich bei den Nachbarn abgegeben. Heute kenne ich meine Nachbarn vom Sehen, wir sagen mal Hallöchen, aber mehr ist da nicht. Heutzutage mußt du irgendwie den Arsch an die Wand kriegen und dich durchsetzen. ... Im Trainingslager war das auch anders. Jeder hatte irgendwas mit, 'nen Riegel oder so. Haben wir immer geteilt. Auf'm Zimmer greif ich in die Haribotüte meiner Nachbarin und eß' die Hälfte auf, da wird kein Ton gesagt. So'n stilles Verständnis. Andere sagen heute: ,Ich hab dir gestern 'n Riegel gegeben, jetzt gib mal zurück`, oder: ,Was krieg ich denn dafür?`"13

Bei der Neuaufteilung der Gesellschaft in Wohltätige und Bedürftige14 sorgt der Neid dafür, Vergeudung von Lebensenergien kenntlich zu machen, ganz abgesehen davon, daß zugleich das Geschäft der ebenso sauberen wie einfachen Unterscheidung in moralisch hochstehende und moralisch minderwertige Individuen erledigt wird. Ihr 225jähriges Gründungsfest feierte die Gesellschaft Harmonie - 1776 als Leipziger Kaufmanns- und Gelehrtenverein zum Zweck der sozialen und kulturellen Wohltätigkeit gegründet. Ihre gegenwärtigen Mitglieder stammen aus der zumindest für Leipzig neuen Gruppe lokal prominent Privilegierter. Unter anderem sah man Gewandhauskapellmeister Herbert Blomstedt auftreten, der von seiner Begegnung mit einem Obdachlosen bei einem Konzert in der Nicolaikirche berichtete. Blomstedt hatte eine Karte übrig und nahm ihn - der mit einem Schild vor der Kirche stand - mit hinein. ,,Der Mann stank nach Alkohol. Ich saß mit ihm in der ersten Reihe. Als der Chor ,Weg, weg ihr Trauergeister` sang, fragte er mich: ,Warum tun Sie das?`" - ,,Ich habe etwas gewagt", antwortete Blomstedt. Beim letztjährigen Marktplatz-Konzert des Gewandhausorchesters stand der ganz vorn an der Bühne. Tage später erhielt der Dirigent einen Brief: ,,Ich danke Ihnen. Ich habe mir das Trinken abgewöhnt, und habe eine Arbeit gefunden." Der Maestro ist Beifall gewöhnt. Der im Ballsaal, ohne daß auch nur ein Instrument erklang, hat ihn besonders gerührt. Sein Beitrag war einer fürs Herz und für die Annalen.15

Welch schöner Erfolg für die moralische Orthopädie. Ihre Botschaft lautet: Sozialer Neid gegenüber den Privilegierten ist so unnötig wie unangemessen, denn es könnte sich um Wohltätige handeln. Den wirklich Bedürftigen wird schon gegeben, woran ihnen mangelt. Der Preis der Wohltat besteht in ihrer Annahme. Die Wohltätigen bestimmen, wer wessen bedarf, indem sie die Akte zum Wohle Bedürftiger vollziehen. Diese Form der Wiederbelebung und Neubewertung des Verhältnisses von Wohltätigkeit und Bedürftigkeit, die von der medialen Suggestion sozialer Nähe und Zuwendung lebt, wo keine anzutreffen ist, findet ihr Pendant in der Demontage des Wohlfahrtsstaates. ,,Der Wohlfahrtsstaat institutionalisierte weise eine Schicksalsgemeinschaft: seine Einrichtungen galten in gleichem Maße jedem Mitglied (jedem Bürger), um auf diese Weise jedermanns Entbehrungen mit jedermanns Gewinnen auszugleichen. Der langsame Rückzug von diesem Prinzip ... hat die Ungleichheit des Schicksals institutionalisiert und somit das Undenkbare denkbar gemacht. Jetzt sind es die Entbehrungen des Steuerzahlers, die gegen die Gewinne eines anderen, des Wohlfahrtsempfängers, ausbalanciert werden müssen."16

Der Kultusminister des Freistaates Sachsen, Matthias Rößler (CDU) hat vor kurzem die Produktivkraft des Neides entdeckt.17 Als Reaktion auf zeitweilig drastisch sinkende Schülerzahlen in Deutschlands Osten fällt den herrschend Privilegierten alternativlos das Sparen ein. Dominierten bisher eher Sorgen wie Schulschließungen, Schulfusionen, Erhöhung der Pflichtstunden und Heraufsetzung der Klassenfrequenzen den Schulalltag von Lehrern, Eltern und Schülern, so stehen nunmehr besondere Belohnungen in Aussicht. Die Kriterien für die Vergabe dieser Sonderzuwendung bleiben zunächst im Dunkel der Bedeutung von ,,besonders engagiert" verborgen. Und nach dem Willen des Kultusministers wird sich daran auch nichts ändern, denn im ,,Regelfall soll der Schulleiter entscheiden, wer die Belohnung bekommt". Während herrschend Privilegierte bisher unverhohlen eine Politik symbolischer und materieller Abwertung der schulischen Bildungs- und Erziehungsarbeit betrieben, scheint nunmehr eine neue Taktik die gewohnte obrigkeitsdemokratische Disziplinierung des Lehrpersonals zu ergänzen, um unbezahlte Mehrarbeit zu stimulieren. Offene Aktivierung von Mißgunst und Initialisierung von Neid avancieren zu Elementen eines klaren politischen Kalküls. Der Entwertung alltäglich verrichteter, gesellschaftlich notwendiger Arbeit korrespondiert eine Aufwertung von ,,besonderer Arbeit". Ohne weitgehend durchgesetzte Anerkennung der Abwertung ,normaler`, tariflich gesicherter Beschäftigungsverhältnisse aber kann das ,Besondere` kaum seine Attraktivität entfalten. Zumal die Gratifikation des Besonderen gewisse Haltungsänderungen erfordert, die über das Normale hinausgehen, und Wirkungen erzielt, die das geänderte Verhalten festigen, indem sie es belohnen: Normalisierung von Willkür, Förderung persönlicher Abhängigkeiten, Schwächung der Souveränität und Stärkung von Untertänigkeit und ein neues Einüben des Dienens. Der Erfolg dieser versuchten Demoralisierung einer ganzen Berufsgruppe wird nicht nur von der Bereitschaft der Lehrer abhängen, dieses Angebot anzunehmen, sondern vor allem von dem politisch durchsetzbaren Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit von öffentlich finanzierter Schulbildung und Erziehung. Falls diese Form der Belohnung etabliert wird, so bietet sich zusätzlicher Anlaß, die Lehrer als Zielscheibe für den wohldosierten Neid anderer Unterprivilegierter zu präsentieren.

Neid nachgefragt

Wird Neid nachgefragt, so zeigt dies an, daß die selbstverständlichen, unhinterfragt geltenden Maßstäbe, mit denen Klassen, Gruppen und Individuen ihre Abstände in der Gesellschaft messen, in Bewegung geraten sind. Die gewohnten Distinktionen stellen nicht mehr zufrieden.

Mitglieder der Gesellschaft, von unterschiedlichen Interessen auf Grund ihres ,,angestammten" Platzes in der Ordnung der Unterschiede getrieben, reagieren mit Beunruhigung sowohl auf die Gefahr des Einzugs von Unordnung im sozialen Feld als auch auf die Unzulänglichkeit der bislang funktionierenden Interpretationen. Die gewohnte Ordnung des Sozialen kann von verschiedenen Seiten attackiert werden. Sie ist anfällig für plötzliche, unerwartete Verschiebungen (z.B. die Ereignisse von 1989 und deren kurz-, mittel- und langfristige Folgen), aber auch für kontingente Kumulationseffekte, entstanden aus ereignishaften Verkopplungen von lange bekannten Einzeltrends (z.B. demografische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf Renten- oder Gesundheitssystem). Beide Arten der Transformation der Sozialstruktur können u. a. zu Vergrößerungen und Verkleinerungen in den Abstandsverhältnissen führen, die Aufnahme von Neuankömmlingen erzwingen, qualitative wie quantitative Veränderungen in den arrivierten Gruppen bewirken, oder die Präsentationskultur der Gruppen und Individuen umformen. Diese Aspekte ,,neuer Unübersichtlichkeit" konstituieren sich diskontinuierlich. Auf sie wird daher sowohl spontan als auch mit Planungsabsicht reagiert.

Die bewährten Verstehens- und Verständigungsmodelle, mit denen die Gesellschaftsmitglieder sich ihren eigenen Platz inmitten der anderen Platzhalter sicherten und sich seiner versicherten, offenbaren, dergestalt unter Druck gesetzt, ihre Fraglichkeit, genauer: den Charakter ihrer sozialen Konstruiertheit. In solch einer Konstellation können sich Ungewißheit, Unsicherheit, Angst, Sorge, oder auch Furcht breit machen. Und die nicht mehr zu beruhigende Erfahrung über die Vakanz der bisherigen Position stimuliert zugleich die Suche nach einer neuen. Das sich Neu-Orientieren-Müssen erfordert den Einsatz vitaler Energien, die um so leichter zu mobilisieren sind, je mehr die Gesellschaftsmitglieder sich mit Zuversicht, Erwartungsfreude und Tatendurst motivieren können. Die Unwägbarkeiten werden durch diese Anstrengungen zwar nicht neutralisiert, aber positiv relativiert, lebenserträglicher. Diese Mehrdeutigkeit von Um- bzw. Aufbruchsituationen wirkt anreizend auf die Neidproduktion. Und in diese wird sowohl materiell als auch symbolisch investiert, um die entstandenen Disproportionen zwischen sozialer Gleichheit und Ungleichheit beweglich halten und ggf. neu ausbalancieren zu können.18 Das ,,Begrüßungsgeld", das 1989 den DDR-Bürgern gezahlt wurde, erfüllte diese Doppelstrategie vorbildlich.

Neckel charakterisiert den Neid als ,,das Begehren auf Werte, die andere erlangten"19. In seiner positiven Variante kann er ,,Wertschätzung" oder auch ,,Bewunderung" bedeuten. Dies ist der Fall, wenn das Begehrte - ein Wert, eine Fähigkeit, eine Eigenschaft, ein Gut -, über das selbst nicht verfügt werden kann, andere auszeichnet, ohne diese als Verursacher des Fehlens dieser Vorzüge bei einem selbst verantwortlich zu machen. Im strengen Sinne ,,neidisch" agieren Menschen dann, wenn sie die jeweils anderen als Verursacher des Mangels an Begehrenswertem bei sich selbst behandeln. Ich mißgönne ihm/ihr, weil er/sie hat, was ich nicht habe. In dieser Bedeutung neide ich die Beziehung, die der/die jeweils andere zum Begehrenswerten eingehen konnte. Als Zwilling dieses ,,giftigen" Neides tritt der Konkurrent/Kontrahent auf, für den ich verhindern möchte, daß ihm zuteil wird, worauf ich aus bin. Jeder Versuch, einen noch so geringen Vorsprung oder Vorteil im Kampf um das Begehrte zu erlangen, wird genauestens beobachtet und gegebenenfalls sanktioniert. Bestenfalls darf ein Gleichstand eintreten. Virulent aber kann diese Form neidischen Verhaltens nur werden, wenn das Begehrte allen Begehrenden als knappes Gut offeriert wird. Damit der Neid zu einem lebensfähigen sozialen Gefühl werden kann, müssen nach Neckel drei ,,Konstituanten" zusammentreffen: ,,soziale Nähe, gegenseitige Bekanntheit und die Ähnlichkeit der Lebensverhältnisse".20 Um neidisch sein zu können, bedürfen wir der Gemeinsamkeit des Distinktionsniveaus; wir beantworten ,,ungerechtfertigte" bzw. ,,einseitige" Vorteile mit Neid. Allerdings stellt weder die Zugehörigkeit zur Sozialneidgruppe noch die Mitgliedschaft in der entsprechenden Gemeinschaft der Distinktionsdeuter eine frei gewählte dar.21 Und es bleibt fraglich, ob nicht das fortgesetzte Festschreiben des Neides auf das Feld - wirklicher oder vermeintlicher - sozialer Nähe der Unterprivilegierten eines der Elemente der Diskurspolitik der herrschend Privilegierten darstellt, durch das der Neid als Produktivkraft wirken kann.

Wird die oben genannte These von der Bindung des Neides an soziale Nähe umgekehrt, könnte die Diagnose lauten, daß Neid dort geringe Chancen hat, wo soziale Ferne regiert, Nichtwissen dominiert und Lebensverhältnisse unvergleichlich sind. Zwei unterschiedliche Modelle einer ,,wohlgeordneten Gesellschaft" scheinen dieser Spur zu folgen: Die Stilisierung des Neides zur Todsünde und John Rawls' ,,Theorie der Gerechtigkeit"22. Rawls handelt Grundsätze der Gerechtigkeit aus, die den feinen Unterschied zwischen gerechtfertigter und ungerechtfertigter sozialer Ungleichheit markieren. Als gerechtfertigt sollen Ungleichheiten gelten, welche die Selbstachtung aller Bürger, aber insbesondere die der Unterprivilegierten nicht beschädigen. Rawls' Modell der Neiddomestikation trägt prophylaktische Züge. In seiner ,,wohlgeordneten Gesellschaft" nötigt nichts zum Neid, denn ungerechtfertigte soziale Ungleichheiten, die ,,entschuldbaren Neid" provozieren könnten, sind als Konstruktionsprinzip nicht vorgesehen.23 Neid, der dennoch auftritt, gilt als unentschuldbar. Bezieht er seine Kraft doch aus einer Verletzung der Anerkennung prinzipiell gerechtfertigter Ungleichheiten. Dieser nicht zu entschuldigende Neid genügt dem Bilde der moralisch inakzeptablen charakterlichen Schwäche, da begehrt wird, was nicht begehrt werden soll.

Soziale Ferne, Nichtwissen und unvergleichbare Lebenssituationen, so legen zumindest diese beiden Modelle nahe, taugen nicht annähernd zur Neidvermeidung. Handelt es sich beim Neid schlußendlich doch um eine unausrottbare individuelle Schwäche, gegen die selbst die ,Götter' der Gerechtigkeit vergebens kämpfen? Haben wir lediglich Sorge zu tragen, daß seine soziale Form mit möglichst gerechten gesellschaftlichen Institutionen befriedet wird? Als Verfechterin der These, daß das Private politisch und das Individuelle gesellschaftlich ist, vermag ich den Trennungsargumenten von individueller und sozialer Variation des Neides nicht zu folgen. Individuelle Äußerungen von Neid sind soziale Bekundungen seiner Existenz. Sie stellen eine alltägliche, ,verkehrte` Form der Kritik einer Gesellschaft dar, die kontinuierlich soziale Ungleichheit reproduziert. Die verbreitete Stigmatisierung sozialen Neides verdeckt, in welcher Spielart sie auch auftreten mag, das ungebrochene Interesse herrschend Privilegierter an der Aufrechterhaltung der Naturalisierungsthese sozialer Ungleichheit.

Deregulierter Neid?

Gegenwärtig hat Neid Konjunktur. Die aktuell kursierenden Figuren des Neides verdanken ihr Entstehen einem spezifischen Aufbrechen tradierter sozialer Ordnungen, für die sich der Name ,Globalisierung` durchgesetzt hat.24 Die Implusion der sozialistischen Staaten in den 90er Jahren erwies sich als Schmiermittel der Globalisierungsmaschine. Die Verabschiedung sozialistischer Regierungsformen durch die regierten Bevölkerungen verhalf der Neidpolitik zu neuen Ehren. Die routinierte Präsentation von Begehrenswertem traf auf ungeübte Begehrende, und die Neidsubjekte mehrten sich.

Die Durchformung der bestehenden Gesellschaften nach Maßgaben der Globalisierung läuft in ihrem Kern auf die rückhaltlose Universalisierung des Warenprinzips hinaus. Für alle Subjekte soll gelten, daß sie sich selbst und all ihre Lebensvollzüge in Form betriebswirtschaftlich geführter Unternehmen veräußern. ,,Gründe eine Existenz!" ist eine Kampfansage an die Existenzen, die sich einer effizienten Ausgründung ihrer selbst nicht unterziehen wollen. Zu diesem Zweck wird die Vergeblichkeit kollektiver Anstrengungen um Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum demonstriert. Nur sich selbst als marktgängige Individuen zurichtende Unterprivilegierte erhalten eine Chance auf Begehrenswertes. Soziale Gerechtigkeit, symbolisch wie real eingesetzt, um einen relativen Ausgleich bei der Inanspruchnahme sozialer Güter zu erreichen, erodiert zum Gebot der Wohltätigkeit für Bedürftige. Das Insistieren auf Verteilungsgerechtigkeit war schon früher ein schwieriges Argument im Kampf Unterprivilegierter um ihre Anteile am gesellschaftlichen Reichtum. Denn diejenigen, die das Teilen einforderten, erschienen primär als Verbraucher und nicht als Produzenten gesellschaftlichen Reichtums. Im Kontext durchliberalisierter Märkte und digitaler Technologien erfolgt deren Demaskierung zu Parasiten. Als Komplementärstück zu den Existenzgründungen der Subjekte sollen all ihre gegenständlichen Lebensäußerungen ihre Existenzberechtigung ausschließlich in Warenform erfahren. Deren Realisierung erfolgt auf legalen wie illegalen Märkten. Von der Niere bis zur Bildung, von genetischer Disposition bis zu Arbeitsplätzen, von Sex bis zu sauberem Trinkwasser, von Kindern bis zu Luftverschmutzungsrechten, von Frauen bis zu Waffen, von politischen Entscheidungen bis hin zur Lebenszeit - alles ist käuflich, verkäuflich. Aber nicht für alle und jeden.

Der Produktion ,überflüssiger Bevölkerungen` korrespondiert die quantitative wie qualitative Vermehrung an Begehrenswertem. In der Konfrontation beider mutieren letztere jedoch zu ,knappen Gütern`. Und dies schafft Neidüberschuß. Weil auch die globalisierte Welt-Gesellschaft eine ,,parasitäre Form des sozialen Arrangements"25 darstellt, in der die Versprechen von immer mehr Privilegien für immer mehr Privilegierte gebrochen werden, macht es Sinn, daß herrschend Privilegierte für einen taktischen Wechsel in der Neidpolitik votieren. Bisher gehörte in das Standardrepertoire moderner Diskurse über soziale Gleichheit, Ungleichheit und Gerechtigkeit, daß die nachteiligen Wirkungen des Konkurrenzdispositivs eines sozialen Ausgleiches bedürfen. Dieser Konsens war Ergebnis zum Teil erbittert geführter Kämpfe zwischen herrschend Privilegierten und Unterprivilegierten und kein Gnadenakt der Bevorteilten an die Minderbemittelten. Der symbolische Erfolg dieser Kämpfe für die Unterprivilegierten lag im Gewinn selbstbewußten Wissens um die Veränderlichkeit des sozialen Feldes. Doch der Konsens wurde durch die herrschend Privilegierten gekündigt. Die Folgen der Konkurrenz bedürfen keines Ausgleiches, so die neuen Töne aus der notorischen Mitte, weil sie ,natürlicher` Art sind. Die Naturalisierung der sozialen Ungleichheit kommt zu neuen Ehren. Soziale Ungleichheit ist nicht nur ,natürlich`, sie soll es auch sein. Aus dieser Perspektive war es ein gravierender Fehler der Wohlfahrtsstaaten, die normierende Kraft ,natürlicher` Gegebenheiten zugunsten mühseliger Kompromißaushandlungen vernachlässigt zu haben. Als eine Beseitigung des Mißstandes läßt sich die Neuaufteilung der Gesellschaft in Bedürftige und Wohltätige dechiffrieren. Bedürftig sind im Grunde durch ihre ,Natur` Benachteiligte, Wohltätige hingegen von ,Natur` aus bevorteilt. Dazwischen stehen die vielen Unterprivilegierten, denen es beschieden ist, individuelle Vorleistung für zu gewährende soziale Vorzüge bei gleichzeitigem Verlust sicherer Ansprüche zu erbringen.

Aus dieser Konstellation ergibt sich die Möglichkeit, den Neid neu zu justieren, indem er dereguliert wird. Denn die neuen Unterprivilegierten der Mitte bedürfen zusätzlicher Anreize, um den Sprung von der sozial gesicherten Existenz in die zu gründende Existenz zu wagen. Dafür müssen die Bindungen des Neides an den innergesellschaftlichen Frieden gelockert oder vollständig gekappt werden. Die Friedenspflicht allerdings würde nicht komplett aufgehoben. Sie gilt präzise von der Grenze an, wo die symbolischen und realen Ghettos der Wohltätigen an die Territorien der Unterprivilegierten stoßen. Die herrschend Privilegierten halten sich für stark genug, den neidbasierten Krieg der Unterprivilegierten um die Gewährung sozialer Güter und vermehrter Privilegien zugleich anheizen und von sich fernhalten zu können.

Übrigens: Die ,,Gerechtigkeit als Fairneß" ist bereits von den Ghettos der Unterprivilegierten auf die Inseln der herrschend Privilegierten übergesiedelt. Statt shareholder value gilt jetzt hier ,,fairholder value"26.

Schluß und Lob auf den Neid

Stellt sich die Frage, inwiefern die bis hierher getroffenen Aussagen der im vorangestellten Bauman-Motto enthaltenen Kritik genügen. Fordert die Autorin dieser Zeilen nicht doch lediglich das ,,bessere Blatt", welches sie bei einem der Mitspieler vermutet, anstatt den Kampf für ein anderes Spiel zu initiieren?

Baumans zentrale These, mitunter emphatisch vorgetragen, gleicht einer dringlichen Appellation an das Publikum in Person seiner Leser. Sie besteht in der Aufforderung an jeden einzelnen, die ,,moralische Kompetenz" für sich zurückzuverlangen.27 ,,Alle auf Sanktionen gestützten sozialen Institutionen gingen und gehen davon aus, daß man dem einzelnen eine gute Wahl nicht zutrauen kann (ob ,gut` nun interpretiert wird als gut für den einzelnen oder als gut für die Gemeinschaft oder beides zugleich). Jedoch liegt es genau an der Sättigung des Alltagslebens mit Zwang ausübenden Einrichtungen, die hinsichtlich der Maßstäbe für gutes Verhalten über die alleinige Autorität verfügen, daß das Individuum per se als unzuverlässig eingeschätzt wird. Die einzige Möglichkeit der individuellen Freiheit, moralisch positive Folgen zu haben, lag demnach (praktisch, wenn nicht theoretisch) darin, diese Freiheit den heteronom gesetzten Normen zu überlassen; gesellschaftlich anerkannten Einrichtungen das eigene Recht auf Entscheidung darüber, was gut ist, abzutreten und es ihrem Urteil zu unterstellen. Dies bedeutet kurz gefaßt, Moralität durch einen legalen Code zu ersetzen und Ethik den Rechtsstrukturen nachzubilden. Individuelle Verantwortung wird dann übersetzt in Verantwortung (wiederum praktisch, wenn nicht auch theoretisch) für das Befolgen oder Brechen der sozial gebilligten, ethisch-legalen Regeln."28

In diesem Sinne mögen die des Neides Bezichtigten und Verdächtigen den Verdacht bestätigen und die Bezichtigung erfüllen: Seid neidisch, regiert euren eigenen Neid!

Anmerkungen

1 Bauman, Zygmunt: Postmoderne Ethik. Hamburg 1995, S. 323.

2 Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig 1908, S. 278.

3 Dieses Argumentationsmuster steht beispielhaft für viele andere im Lexikon der Ethik, hg. v. O. Höffe, München 1986, S. 179f.

4 ,,Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie [die Prüfung, Verf.] die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden." (Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt a.M. 1998, S. 238)

    Ich verstehe in Anlehnung an Foucaults Analyse auch Ethik und Moral als disziplinäre Praktiken. Meine Aufmerksamkeit, die Analyse von Neiddiskursen betreffend, gilt somit im besonderen der Frage, ob und wie die Macht-Ausübungs-Technik ,,subjektivierende Unterwerfung" zum Einsatz kommt.

5 Die bis hierher von mir benannten ,,Privilegierten" wie ,,Minderprivilegierten" stellen mit Blick auf die soziale Ordnung moderner Gesellschaften im ganzen ein Ensemble ,,je relativ Privilegierter" oder sozial Ungleicher dar. Es gibt kein Mitglied der Gesellschaft, das nicht auf einen bestimmten Vorteil verwiesen werden bzw. verweisen kann. Was diese Vorteile innerhalb der sozialen Ordnung wert sind oder auch nicht, entscheidet sich im Anerkennen konkreter Maßstäbe: z.B. Arme nach Sozialhilfesatz oder Existenzminimumberechnung; Arbeitslosengeldempfänger nach Anspruchsberechtigung - Kombination aus gezahlten Beiträgen, Lebensalter und Zeitdauer der Beschäftigung; Subventionen für Investoren - Kombination aus versprochenen Arbeitsplätzen, sozialer und infrastruktureller Ausgangslage von Investionsort und/oder -branche, Vorschriften des nationalen Gesetzgebers und der Wettbewerbskontrolleure der EU usw. ... Meine bisherige Unterscheidung von Privilegierten und Minderprivilegierten orientierte sich an hegemonialen Neiddeutungen. Diese gehorchen ausnahmslos dem Modell, daß Minderprivilegierten das Begehren auf etwas nachgesagt wird, was nicht sie, sondern lediglich die anderen, die Privilegierten haben. Neidisch sind immer die anderen, und damit auch minderprivilegiert!

6 Bauman, Zygmunt (Anm. 1).

7 Vgl. ebenda.

8 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. 1990, S. 183ff.

9 Neckel, Sighard: Blanker Neid, blinde Wut? Sozialstruktur und kollektive Gefühle. In: Leviathan 27 (1999) 2, S. 145-165; hier S. 149f. Diesem Text verdanke ich wichtige Anregungen für meine Überlegungen.

10 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M. 1994; Ders. et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997, Edition discours, Bd. 9.

11 Vgl. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998.

12 Wir bekommen eine andere Einstellung zu Raum und Zeit. MobilCom-Chef Gerhard Schmid im Gespräch mit mobil über die Zukunft der mobilen Kommunikation. In: mobil. Heft 03/01, hg. v. d. Deutschen Bahn AG.

13 Aus einem Interview mit Franziska van Almsick. In: Superillu, Nr. 11 vom 08.03.2001, S. 99f.

14 Vgl. auch Bauman, Zygmunt (Anm. 1), S. 362f.

15 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 05.03.2001.

16 Bauman, Zygmunt (Anm. 1), S. 362.

    Vgl. dazu auch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. März 2001;Az 1 BvR 2402/97. (Betrifft einen Streitfall um die zeitliche Begrenzung der Zahlung von Arbeitslosenhilfe; die diesbezügliche Verfassungsbeschwerde eines Arbeitslosen wurde abgewiesen.) Im Beschlußtext wird mustergültig die von Bauman zitierte Art der Abwägung zwischen den Lasten des Steuerzahlers - vertreten durch den Gesetzgeber - und dem Gewinn eines Wohlfahrtsempfängers durchexerziert.

    Quelle: www.bundesverfassungsgericht.de; Leipziger Volkszeitung vom 30.03.2001, S. 7.

17 Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 28.03.2001, S. 4. Auch andere Bundesländer haben das Instrument der Extragratifikation für ,,besonders engagierte Lehrer" entdeckt. Vgl. Leipziger Volkszeitung vom 31.03./ 01.04.2001, S. 2.

18 Zu dieser Problemstellung vgl. Neckel, Sighard (Anm. 9), S. 145ff.; S. 148.

19 Ebenda, S. 149; zur Kennzeichnung des semantischen Haushalts von ,Neid' S. 149ff.

20 Vgl. ebenda, S. 150.

21 Vgl. Bauman, Zygmunt (Anm. 1), S. 323.

22 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. 1979.

23 Ebenda, S. 575ff., 580ff.

24 Vgl. u.a. Sennett, Richard (Anm. 11), Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Frankfurt a.M. 1997; Ramonet, Ignacio: Die neuen Herren der Welt. Zürich 1998; Die Gruppe von Lissabon: Grenzen des Wettbewerbs - Die Globalisierung der Wirtschaft und die Zukunft der Menschheit. München 1997.

25 Vgl. Bauman, Zygmunt (Anm. 1), S. 322.

26 Werbung der Bank Sarasin. In: Deutsche Horizonte. Das Magazin für Privatjet- und Firstclass-Reisende. Nr. 7, Januar-März 2001.

27 Vgl. Bauman, Zygmunt (Anm. 1), S. 31ff.

28 Ebenda, S. 49f.

Dr. Petra Caysa, Institut für humanistische Lebenskunde Berlin