Bildung forever?

Einleitung zum Heftschwerpunkt spw 121

Das Bildungswesen wird sich daran messen lassen, inwieweit es gelingt, die Lernpotentiale aller Mitglieder der Gesellschaft zu erschließen und zu entfalten.

Bildungspolitik ist inzwischen dabei, aus der Nische der Fachpolitik herauszuwachsen und zu einem ge-sellschaftspolitischen Schlüsselthema zu werden, in dem sich die großen gesellschaftlichen Konfliktlinien bündeln.
Im Zeichen der Diskussion um Informations- und Wis-sensgesellschaft wird Bildung zur entscheidenden Produktivkraft. Dabei erleben wir den Wettlauf der großen Kapitalien sich die Wissenspotentiale des Ein-zelnen und das geistige Eigentum anzueignen. Bei diesem Wettlauf werden gesellschaftliche Regulierun-gen des Arbeitsprozesses als Hemmnis empfunden. Dieser Wettbewerb, der die bildungspolitische Debat-te in Deutschland erreicht, hat, wie das Beispiel der Green-Card für Computerspezialisten zeigt, internati-onale Dimensionen. Vor allem über die Bertelsmann-Stiftung und die Max-Planck-Gesellschaft werden ü-ber internationale Vergleiche von Schülerleistungen und Propagierung angelsächsischer Praxis des Wett-bewerbs zwischen Schulen Marktelemente in die bil-dungspolitische Diskussion eingebracht, bis hin zu Forderungen nach Privatisierung des Bildungswesens.
Der gesellschaftliche Wandel mit den Tendenzen zur Individualisierung und Flexibilisierung in Richtung auf ein "proteisches Menschenbild" (vgl. Schwerpunkt spw-Heft 120) mit den zu hinterfragenden Begriffen des "Unternehmers seiner eigenen Fähigkeiten" oder des "Arbeitskraftunternehmers" werfen die Frage nach den angemessenen Formen des Lernens auf, die au-tonome Entscheidungen des Individuums im gesell-schaftlichen und beruflichen Kontext der Arbeitswelt ermöglichen. Welches sind die allgemeinen Wertori-entierungen des Lernens in der Schule und welches sind die organisatorischen Rahmenbedingungen des Lernens in der Schule, wie beantwortet sich in diesem Zusammenhang die Frage nach Qualität und Leis-tung, die sich an Gesellschaftlichkeit und Solidarität des Individuums orientiert.
Im Rahmen eines Modells nachhaltiger Entwicklung stellen sich für alle Gesellschaften die Fragen nach der Entfaltung der Lernpotentiale aller Menschen als Teil des natürlichen Reichtums einer Gesellschaft.
Das Bildungswesen wird sich unter dem Gesichts-punkt nachhaltiger Entwicklung daran messen lassen, inwieweit es gelingt, die Lernpotentiale aller Mitglie-der der Gesellschaft zu erschließen und zu entfalten. Das muss erfolgen auf der Basis des Rechts aller auf den höchsten Stand der gesellschaftlichen und wis-senschaftlichen Erkenntnisse zu lernen. Es geht um die volle Entfaltung der Personalität künftiger mündi-ger BürgerInnen, die gleichzeitig ökologisch verant-wortliche KonsumentInnen und Produzentinnen sind mit einem Verständnis von Arbeit als gesellschaftli-cher, ökologischer produktiver Tätigkeit.
Die Forderung nach der Entfaltung aller Lernpotentia-le hat neben der ökologischen ganz besonders eine soziale Seite, die Chancengleichheit zum unverzicht-baren Kernpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung macht. Zu diesem Verständnis von Chancengleichheit gehört die Notwendigkeit der gesellschaftlichen För-derung gerade auch für diejenigen, die diese Förde-rung zur Entfaltung ihrer Möglichkeiten in besonde-rem Maße benötigen. Dazu ist der effiziente Einsatz gesellschaftlicher Mittel erforderlich. "Integration" - sowohl als pädagogisches als auch als soziales Prinzip - ist unserer Einschätzung nach ein geeigneter Leit-begriff, Menschen mit unterschiedlichen Lernhinter-gründen gleichberechtigt in Bildungsangebote einzu-beziehen (vgl. Jobelius u.a. 1999)
Daraus ergibt sich die Frage, ob die Struktur des Bil-dungswesens vom Kindergarten über Schule, Hoch-schule bis zur Weiterbildung diesen Ansprüchen ge-nügt. Dazu müssen Fragen nach der Verschwendung und falschen Gewichtung des Einsatzes von Ressour-cen gestellt werden: Beispielsweise ist zu fragen, was kostet die Gesellschaft ein Schulabbrecher, Sitzen-bleiber, Studienabbrecher, oder wie ineffizient ist es, wenn Bildungsgänge zertrennt werden oder nachein-ander erfolgen, was untereinander verzahnt werden kann wie allgemeinbildende und berufsbezogene o-der wissenschaftspropädeutische Bildungsgänge? Oder was kostet es schließlich die Gesellschaft, wenn Stress und Überforderung den Lehrberuf zu einem Beruf mit einer überdurchschnittlichen Häufigkeit von Krankheit und vorzeitiger Berufsunfähigkeit machen.
Hinzu kommt das immerwährende Problem, in wie weit Bildungspolitik die Balance halten kann zwischen der Notwendigkeit die Voraussetzung zur Erwerbsar-beit immer wieder herauszubilden, andererseits aber auch die persönliche (kulturelle, soziale) Entfaltung des Individuums zu fördern. Wurde in der sozialisti-schen Bildungstheorie zuweilen der letzte Aspekt in der Suche nach dem sozialistischen neuen Menschen überbetont, droht derzeit auch in der linken Debatte eine Reduktion von Bildung auf seine Verwertungs-möglichkeit. Der "proteische Mensch", den West-phal/Neumann in der letzten spw beschrieben haben, darf deshalb auch nicht als Wunschbild linker Politik verstanden werden, vielmehr handelt es sich hier um den Versuch, ein Bild des "Gesamtarbeiters" der new economy zu zeichnen, der Subjekt bildungspolitischer Anstrengungen ist. "Kollege Proteus" ist Resultat eines stattgefundenen Bildungsprozesses, der nicht die kri-tische Reflexion zum Inhalt hatte, sondern die kapita-listische Verwertung zum orientierenden Prinzip ge-macht. Diesem Prinzip die Logik einer auf Chancen-gleichheit und Nachhaltigkeit ausgerichteten Bil-dungspolitik entgegenzusetzen (ohne dabei die Ver-wertungsnotwendigkeit zu vernachlässigen), dürfte eine der zentralen Herausforderung für die Linke dar-stellen
Aus diesen Grundtendenzen ergeben sich konkrete bildungspolitische Handlungsfelder.
Die Bildungswelle der 70er Jahre mit ihrem beachtli-chen Erfolgen war in ihren Strukturen auf die alte In-dustriegesellschaft mit ihrem starken Anteil an Fach-arbeiterInnen und abhängig Beschäftigten ausgerich-tet. Der gesellschaftliche Wandel hin zur elektronisch gestützten Globalisierung der Ökonomien verlangt in der Bildung nach anderen Akzenten. Verlangt ist von der einzelnen Arbeitskraft wesentlich mehr Selbst-ständigkeit, Selbstorganisation und Persönlichkeit. Das heißt, die Globalisierung verlangt möglichst viele selbstbewusste Persönlichkeiten mit einem möglichst hohen Bildungsniveau. Nur fachliche Bildung und Ausbildung genügen nicht mehr. Man braucht Per-sönlichkeit. Die voll entfaltete Einzelpersönlichkeit in möglichst großer Zahl wird in den künftigen ökono-mischen Entwicklungen zum wichtigsten gesellschaft-lichen und ökonomischen Faktor. Wenn die new eco-nomy tatsächlich Vorbote eines Wandels kapitalisti-scher Weltökonomie ist, dann ändert sich tendenziell die Form der gesellschaftlichen Wertschöpfung in Richtung der Erzeugung individueller und individuali-sierbarer Werte. Man verkauft immer weniger seine Arbeit an Unternehmen, um seinen Lohn zu realisie-ren, sondern man produziert vernetzte Einzelleistun-gen und muss diese an den Märkten realisieren, wirt-schaftlicher Erfolg und Misserfolg werden auf den Einzelnen zurück verlagert.
Für jedeN EinzelneN ändert sich dadurch die bisherige Balance zwischen arbeiten, wirtschaften und leben. Die Arbeit bzw, die Verantwortung für sie kommt "nach Hause" zurück. Jedem Individuum wir die kom-plizierte Aufgabe übertragen, "seine Balance" für die Einheit von Arbeit, Wirtschaft und Leben herzustellen. Dazu muss er/sie Persönlichkeit haben und sein.
Die heutigen Leistungskriterien in Schule und Hoch-schule sind viel zu sehr an den Qualitätsnormen der alten Industriegesellschaft und ihrem sehr hohen An-teil an abhängiger Erwerbsarbeit, mit funktionieren-den Arbeitsmärkten und hohem industriell-kollektivem Organisationsgrad orientiert. Gefragt ist jetzt die Ausbildung zur handlungsfähigen EInzelper-sönlichkeit als Schlüsselaufgabe der Bildung in der modernen Gesellschaft. Die Diskussion um Qualitäts-standards macht nur dann Sinn, wenn Bildung zur Einzelpersönlichkeit zentraler Bestandteil der Ziele al-ler Bildungseinrichtungen wird, sie müssen alle zu "Häusern des Lernens" werden. Deshalb hat jede ein-zelne Schule ihre pädagogische Verantwortung selbst zu übernehmen.
Für Deutschland bedeutet das auch die Notwendig-keit, die geteilten Bildungsgänge des dreigliedrigen Schulsystems zu einer einheitlichen Schule für die Se-kundarstufe I zusammenzuführen. Inzwischen erweist sich die Trennung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium international als nicht wettbewerbsfähig und den neuen Anforderungen nicht mehr gewach-sen - als echt antiquiert.
Gegenüber den Forderungen, der Staat und seine Einrichtungen sollten sich aus den Bildungs- und Ausbildungswesen zurück ziehen und mehr Aufga-ben des "freien" privatwirtschaftlichen Trägern zu ü-berlassen, gilt es Widerspruch zu organisieren. Mag auch unter ergebnisorientierten input-output-Kriterien Kritik an staatlichen Einrichtungen begrün-det sein, so ist der bildungspolitische Grundsatz "glei-che Bildungschancen für alle" nur durch Staat und Gesellschaft zu garantieren. Die Privatisierung wird zwangsläufig die Qualität der Ausbildung von der Zahlungsfähigkeit abhängig machen. Es ist Aufgabe staatlicher Bildungspolitik dem entgegen zu wirken und für einigermaßen gleiche, demokratische und ge-rechte Lebenschancen zu sorgen. Hier ist die Brücke zwischen Bildungspolitik und sozialstaatlicher Politik.
Für unseren Diskussionsbeitrag heißt das: individuelle existenzsichernde Förderung nach Ende der Sekun-darstufe I. Aufbau einer Förderinfrastruktur auf regi-onaler Ebene, die durch Zusammenführung unter-schiedlicher Finanzströme zu regionalen Bildungs-fonds auf der untersten Ebene für den erforderlichen sozialen Ausglich sorgen soll. Unsere Gesellschaft kann sich keine Gruppe von Kellerkindern des Bil-dungssystems leisten, die von Arbeits- und Lebens-chancen abgeschnitten sind. Linke Bildungspolitik muss verstärkt jene Menschen in den Blick nehmen, deren Ausbildungssituation in der Sackgasse steckt: Ohne Schulabschluss, ohne Berufsausbildung, ohne Berufsperspektive ist es schwer, eine selbstbe-wusste Persönlichkeit zu entwickeln. Die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts stellt zudem hohe Anforderun-gen an die Flexibilität des Individuums. Die Notwen-digkeit, lebenslang zu lernen, resultiert aus dieser Be-obachtung. Dass jemand im Zielberuf der ersten Aus-bildung bis zur Rente arbeitet, ist schon heute nicht mehr die Regel und wird künftig die große Ausnahme sein. Damit "lebenslanges Lernen" keine inhaltsleere Phrase bleibt, reicht es nicht aus, Aus- und Fortbil-dung sowie theoretische und praktische Bildung stär-ker miteinander zu verknüpfen. Ein solches Konzept erfordert vielmehr auch eine völlige Neugestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Notwendig werden solidarisch finanzierte Auszeiten oder Sabbatjahre, in denen Menschen sich neue berufliche Qualifikationen aneignen oder einfach auch "nur" die individuelle Ent-faltung und Regeneration in den Vordergrund stellen. Und das darf eben nicht nur für die "Bildungselite" Gültigkeit besitzen, sondern muss ein durchgängiges Prinzip fortschrittlicher Beschäftigungs- und Bil-dungspolitik des 21. Jahrhunderts werden.
Literatur:
Klaus Moegling/Horst Peter, Nachhaltiges Lernen in der politischen Bildung. Lernen für die Gesellschaft der Zukunft, Opladen 2001
Sebastian Jobelius/Reinhold Rünker/Konstantin Vös-sing, Bildungsoffensive - Reformperspektiven für das 21. Jahrhundert, Hamburg 1999