Zäsur 11. September

Der Aufsatz, geschrieben zwischen dem 27. und dem 30. 9. 2001, beschäftigt sich mit Ursachen und möglichen Folgen des Terroranschlags gegen die USA sowie den neuen Fragen internationaler Politik.

Dieser Aufsatz wurde geschrieben zwischen dem 27. und dem 30. September 2001. Die Leserinnen und Leser von "UTOPIE kreativ" erreichen wird er Ende Oktober. Niemand vermag zu sagen, was bis dahin an Reaktionen auf den 11. September geschehen sein wird. In den Medien überschlagen sich die Meldungen, wann und wie "es losgehen" wird mit Vergeltung und Krieg. Ich nehme auch dann, wenn es zu den von vielen befürchteten militärischen Schlägen der USA kommen wird, mein Werben für neue Nachdenklichkeit nicht zurück.

Der 11. September 2001 wird - dieser Satz ist in den Tagen seither ungezählte Male in Zeitungen geschrieben und vor Fernsehkameras und Radiomikrofonen gesprochen worden - als Tag einer von Menschenhand gezeugten ungeheuren Katastrophe in die Geschichte eingehen. Im Abstand von nur wenigen Minuten sind im Luftraum über New York und Washington gleich drei Mal aus voll besetzten Passagierflugzeugen, die sich im Linienverkehr befanden, Waffen gemacht worden. Waffen, deren Sprengkraft weit über die von herkömmlichen Bomben hinausging und deren Unberechenbarkeit jede Cruise Missile in den Schatten stellt. Das Wahrzeichen des modernen New York, das 400 Meter hohe, zwillingstürmige World Trade Center, wurde von zweien dieser Flugzeuge dem Erdboden gleichgemacht, und das Wahrzeichen des militärischen Selbstbewußtseins der USA, das Pentagon, von einem dritten in seinem Herzen getroffen. Mehr als sechstausend Menschen fanden den Tod, Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten die meisten, Hunderte aber auch aus anderen Ländern. Das World Trade Center war wirklich ein Zentrum des Welthandels.

Die Tragödie des 11. September wurde weltweit erlebt, weil die Fernsehbilder live um die Welt gingen, und weltweit waren so auch Schock und Trauer. In Deutschland gab es eine wohl selten erlebte Übereinstimmung in der Beurteilung des Ereignisses: Alle im Bundestag vertretenen Parteien brachten gleichermaßen zum Ausdruck, daß diese Terroranschläge mit nichts, aber auch gar nichts, gerechtfertigt werden können. Alle erklärten, daß die USA beim Aufspüren der Täter und ihrer Hintermänner solidarisch unterstützt und diese einer gerechten Strafe zugeführt werden müssen. Und welche der Reden vom 12. September man sich auch hernimmt: Sie alle waren zudem bestimmt von Unsicherheit, Sorge und Angst. Es war unübersehbar: Mit den Twin Towers sind auch die scheinbar so ehernen Koordinatensysteme politischer Selbstgewißheiten zusammengebrochen.

So lautet für alle die Frage gleichermaßen: Und wie nun weiter? Die Linke ist gut beraten, wenn sie sich an der Suche nach Antworten nachdenklich, kritisch, selbstkritisch und offen beteiligt.

Ungewiß: die Täterschaft

Ende September - zum Zeitpunkt, da dieser Aufsatz entsteht - sind trotz intensivster Ermittlungsarbeit des FBI in den USA und ausgedehnter internationaler Fahndungskooperation die Verantwortlichen für die Terroranschläge noch nicht gefunden.

Zwar gab es aus den USA schon sehr schnell Nachricht, daß der aus einer reichen saudiarabischen Familie stammende und seit Jahren in Afghanistan lebende Usama bin Ladin, den man als Oberhaupt eines weltweit gespannten Netzes von Terroristen vermutet, als Hauptverdächtiger gelte, aber wirklich überzeugende Beweise dafür blieben bisher aus. 1 Experten wie der Politikwissenschaftler August Pradetto von der Bundeswehr-Universität Hamburg zeigten sich davon nicht überrascht. Bin Ladin, erklärte er am 19. September gegenüber der Welt, sei zwar ohne Zweifel "ein Topterrorist, der eine Reihe Verbrechen begangen hat". Er werde aber "seit Jahren von westlichen Geheimdiensten gejagt", und da die Vorbereitung der Anschläge vom 11. September viele Jahre gedauert haben müsse, könne sie keinesfalls von einem Land wie Afghanistan aus bewerkstelligt worden sein. Das Täterprofil weise "auf sehr erfahrene Täter". Die Betreuung eines ›Schläfers‹ etwa wie des acht Jahre lang in Hamburg lebenden arabischen Studenten Mohammed Atta, von dem man mit großer Sicherheit annimmt, daß er es war, der eines der beiden Flugzeuge so zielgenau in die Twin Towers stürzte, setze bei den Hintermännern voraus, daß sie "ihr Handwerk verstanden und intime Kenntnisse über das Umfeld hatten". Bin Ladin sei vor diesem Hintergrund "vielleicht ein Bestandteil des Terrorkommandos, aber kein wesentlicher".

Die Brisanz dieser Aussage ist, daß sie die längst zum ›Allgemeingut‹ gewordene Auffassung, wonach die Täterorganisation gar keine andere sein könne als eine arabische, islamische oder islamistische, bereits an ihrem alles entscheidenden Ausgangspunkt in Frage stellt. Und Pradetto bleibt Überlegungen, wer denn als Täter außerdem in Frage käme, nicht schuldig. "Seit dem Ende der Sowjetunion", sagt er, gebe es "eine Anarchisierung der Weltpolitik". Die Sowjetideologie habe antiamerikanische, antiwestliche und antikapitalistische Einstellungen "gebunden". Jetzt aber seien diese Bindungen zerfallen, und so sei es nicht auszuschließen, "daß sich ehemalige Geheimdienstler aus diesem Umfeld mit anderen Kräften verbunden haben" 2 .

Mit anderen Kräften? Das Feld ist weit und unübersichtlich - und Aufklärung darüber, wann und wo es solche Verquickungen bereits in der Vergangenheit gegeben haben könnte, geschieht - wie es ja eben für Geheimdienste typisch ist - praktisch nie. Man denke nur - zum Beispiel - an den bis heute mysteriös gebliebenen Mord am schwedischen Premierminister Olof Palme in Stockholm am 28. Februar 1986. Hartnäckig hält sich die politisch keineswegs zu weit hergeholte Vermutung, daß südafrikanische Geheimdienste, denen Palmes Kampf gegen die Apartheid ein Dorn im Auge war, ihre Hände im Spiel gehabt haben könnten. Die Fantasie muß her, um den Mangel an Aufklärung zu ersetzen. Beim gar nicht zufällig ebenfalls aus Schweden stammenden und in Mozambik lebenden Romancier Henning Mankell kann man in der Kriminalstory Die weiße Löwin die politisch und sozial schlüssigsten Verbindungslinien finden. Da wird irgendwann Mitte der neunziger Jahre ein Attentat auf den südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela geplant: von weißen südafrikanischen Geheimdienstlern, die auf entlegenen schwedischen Bauernhöfen schwarze südafrikanische Berufskiller durch ex-sowjetische KGB-Oberste auf ihre ›Mission‹ vorbereiten lassen. 3 Nur Fantasie?

Gewiß ist - um noch einmal auf die Überlegungen August Pradettos zum Täterprofil zurückzukommen -, daß es sich um eine ganze Organisation ebenso perfekt ausgebildeter wie unvorstellbar skrupelloser Täter gehandelt haben muß. Grausame Präzision und eiskalt ins tödliche Werk gesetzte Logistik, gepaart mit der fanatischen Bereitschaft zu tausendfachem Mord und gleichzeitiger Dreingabe des eigenen Lebens - das ist es, was wir bisher sicher erkennen konnten.

Aber: Ein Staat ist nicht zu sehen, der dies alles veranlaßt hat, und auch keine der bekannten politischen Organisationen. Also eine ›Privatisierung‹ des Krieges? Aber warum? Zu welchem Ende? Cui bono?

August Pradetto hält es für möglich, daß es sich um eine "gezielte Provokation" gehandelt haben könnte. "Geheimdienste", meint er, "wissen die Reaktion des Gegners vorherzusehen", und so könne das Ziel der Anschläge darin bestanden haben, "die NATO in einen Krieg gegen die islamische Welt zu ziehen" 4 . Aber welche Geheimdienste - und welche hinter ihnen stehenden Auftraggeber - könnten es sein, die ein solches Interesse haben? Und sich dabei - damit alles gut in ein mental schon lange vorbereitetes Raster paßt - arabischer Attentäter bedienen?

Andererseits: Fundamentalistisch-islamistischer Terror ist ja nichts Unbekanntes. In Algerien wütet er als Bandenterror seit Jahren und hat dort Zehntausende Opfer gefordert. Das Taliban-Regime in Afghanistan terrorisiert die Bevölkerung des Landes mit totaler Unterdrückung der Frauen und mit einem Regime drakonischer Strafen gegen Frauen und Männer bei selbst kleinsten Verletzungen der ›reinen Lehre‹. Der Haß auf ›die westliche Gesellschaft‹ und ›den Kapitalismus‹ gehört zu den konstituierenden Elementen der diesen Terror tragenden Ideologismen. Diejenigen, die ihn ausüben, diesen Terror, sind in nichts und gar nichts Repräsentanten oder Stimme der Unterdrückten dieser Welt. Aber vieles deutet darauf hin, daß sie ein Interesse daran haben könnten, durch Eskalation der Spannungen einen offenen Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt zu provozieren, der sie in eine solche Repräsentanten- und Führungsrolle hinein brächte.

Also mehrere Interessengruppen, die sich in der ungeheuerlichen Provokation getroffen haben?

Die Fragen bleiben, und es ist angeraten, sie weiter stehen zu lassen - auch über den Tag, da möglicherweise einige Gewißheiten gewonnen sind, hinaus. Denn allein ein Blick in heutige Tageszeitungen - es ist der 28. September 2001 - ruft nachdrücklich ins Bewußtsein, daß brutale, menschenverachtende Gewalt und mit Selbstopferungsbereitschaft gepaarter Haß natürlich keineswegs nur in bestimmten Kulturkreisen, Religionen oder geographischen Räumen zu Hause sind. Im schweizerischen Zug, also in einer der wohlhabendsten Gegenden der Erde überhaupt, hat gestern ein Einheimischer einer - wie es heißt - nicht bearbeiteten Aufsichtsbeschwerde wegen ein ganzes Kantonsparlament zusammengeschossen. 14 Menschen sind tot, weitere 14 verwundet. Und aus dem nordirischen Belfast melden die Agenturen eine neue ›Nacht der Gewalt‹ - im nun schon fast ›ewigen‹ und allen Beschwörungen von zivilgesellschaftlicher Fortgeschrittenheit trotzenden Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken. Noch in schlimmer Erinnerung ist der Terrorakt von Oklahoma City. Am 19. April 1995 wurden durch eine Explosion in einem Behördengebäude 168 Menschen getötet. Als Schuldiger wurde der US-Bürger Timothy McVeigh - ein Golfkriegsveteran - ausgemacht, verurteilt und hingerichtet.

Weil die Täterschaft ungewiß ist, ist auch die Bedrohung, der wir ausgesetzt sind, eine höchst ungewisse. Sie ist - das hat New York dramatisch zwingend gezeigt - eine Bedrohung, die die Menschen vollkommen unterschiedslos betrifft, die keinen Unterschied macht zwischen arm und reich, schwarz und weiß, rechts und links oder gläubig und ungläubig. Aus beidem - aus der Ungewißheit und der Unterschiedslosigkeit - muß die Kraft erwachsen, sich zu neuen Antworten durchzukämpfen.

Ungewiß: die Reaktion

Viele Zeichen deuten darauf hin, daß die USA-Regierung auf die Terroranschläge militärisch, ja sogar mit Krieg antworten will. Präsident George W. Bush hat am 20. September vor dem Kongreß in Washington erklärt: "Die von uns gesammelten Beweise weisen alle auf eine Reihe lose verbundener Terroristenorganisationen hin, die als Al-Quaida bekannt sind. ... Unser Krieg gegen den Terrorismus beginnt mit der Al-Quaida, aber er wird dort nicht enden. Er wird nicht eher zu Ende sein, bis jede weltweit tätige terroristische Gruppe gefunden, am weiteren Vorgehen gehindert und besiegt worden ist. ... Wir werden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen - alle Mittel der Diplomatie, alle nachrichtendienstlichen Mittel, alle polizeilichen Instrumente, alle Möglichkeiten der finanziellen Einflußnahme und alle erforderlichen Waffen des Krieges, um das Netzwerk des weltweiten Terrors zu zerschlagen und zu besiegen. Dieser Krieg wird nicht so sein wie der Krieg gegen den Irak vor 10 Jahren, mit seiner gezielten Befreiung eines Gebietes und seinem schnellen Ende. Er wird nicht so aussehen wie der Luftkrieg im Kosovo vor zwei Jahren, wo keine Bodentruppen eingesetzt wurden und nicht ein einziger Amerikaner im Kampf fiel. Unsere Antwort umfaßt mehr als unmittelbare Vergeltung und einzelne militärische Schläge. Die Amerikaner sollten sich nicht auf eine Schlacht, sondern auf einen lang andauernden Feldzug einstellen, wie wir ihn bislang noch nicht erlebt haben." 5

Zahlreiche Meldungen in den Tagen vor und nach dieser Rede besagten, daß die USA ihre Militärpräsenz im Persischen Golf erheblich verstärkten und offensichtlich einen Angriff auf Afghanistan vorbereiten. Hinweise auf Afghanistan als mögliches erstes Ziel eines Vergeltungsschlages fanden sich auch in der Bush-Rede: "Die Führung von Al-Quaida hat großen Einfluß in Afghanistan und unterstützt das Taliban-Regime bei der Kontrolle des Großteils des Landes. In Afghanistan sehen wir Al-Quaidas Vision der Welt." 6 In der Financial Times Deutschland hieß es am 20. September: "So gut wie sicher ist, daß Amerikas Krieg in Afghanistan beginnen wird. ... Militärexperten rechnen mit Bombenangriffen, Marschflugkörpern sowie Attacken durch Spezialtruppen, die Trainingslager und Verstecke der Terroristen zerstören sollen" und damit, "daß Washington zehntausende Soldaten der ›Spezialtruppen‹ entsenden wird, die für extreme Situationen und schweres Gelände ausgebildet sind" 7 .

Eine Woche später, am 26. September, gab es aber aus den USA auch Töne, die diese Orientierung modifizierten. Das habe - so vermutete die Frankfurter Allgemeine - durchaus mit dem Hinweis des pakistanischen Außenministers Sattar an die USA zu tun, daß "Versuche von außen, die Machtverhältnisse in Afghanistan mit Gewalt zu verändern, ein ›Rezept für ein großes Desaster‹ seien" 8 . Die Äußerungen von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, wonach der Kampf gegen den Terrorismus nicht rasch und entscheidend "durch einen massiven Angriff oder eine Invasion" 9 gewonnen werden könne, mußten in diesem Kontext nun als Absage an einen schnellen Angriff auf Afghanistan, den vor allem die Boulevardpresse schon buchstäblich herbeigeschrieben hatte, verstanden werden. Am grundsätzlichen Ziel, einen Krieg - und diesen zuerst in Afghanistan - zu führen, machte Rumsfeld indes keine Abstriche. Und noch deutlicher als Bush eine Woche zuvor versuchte er, die Amerikaner darauf einzustellen, daß dies kein für das Leben der US-Soldaten relativ gefahrloser Krieg aus der Luft werden würde, sondern einer, bei dem auch Bodenkräfte zum Einsatz kommen. "Es wird kein aseptischer Krieg sein. Er wird schwierig und gefährlich sein, und es ist wahrscheinlich, daß noch mehr Menschen umkommen werden." 10

Trotz all dieser nur allzu deutlichen Schritte in Richtung Krieg hatte der ostdeutsche UNO- und Abrüstungsspezialist Wolfgang Kötter recht, wenn er unmittelbar nach der Bush-Rede in der Tageszeitung Neues Deutschland formulierte: "Entgegen zunächst vorherrschender Erwartung geht die Bush-Administration bisher zurückhaltender vor, als es die Erfahrungen mit ihrer Politik hätten vermuten lassen." 11

Die Gründe dafür sind gewiß mehrere. Klar ist: Eine Niederlage darf sich Bush nicht leisten. Das amerikanische Volk erwartet von ihm Siege - und nur, wenn es diese Siege gibt, wird es auch den Tod von Soldaten der eigenen Seite in Kauf nehmen. Aber klar ist auch: Die im Persischen Golf in Stellung gebrachten Einheiten "benötigen genaue Informationen über präzise Ziele, bevor sie aktiv werden können" 12 . Die aber sind in Afghanistan kaum auszumachen. Und: Washington will zweifellos "nicht riskieren, sich neue Feinde zu machen und noch mehr Selbstmordattentäter auf den Plan zu rufen" 13 .

Dämpfend auf ein rasches Losschlagen wirken schließlich auch die Bedenken der Bündnispartner. In den Worten des in London und New York lehrenden Rechtsprofessors Philippe Sands klang das am 18. September so: Um den Selbstverteidigungsfall zu begründen, müßten die USA "erstens zwingend beweisen, daß bin Ladin Drahtzieher war. Zweitens belegen, daß bin Ladin in Afghanistan ist. Drittens, sie müssen Kabul eine Chance geben, bin Ladin auszuliefern. Viertens: Wenn die afghanische Regierung die Auslieferung verweigert, dann dürfen die USA Afghanistan angreifen. Es gibt also eine Menge ›Wenns‹. Sie können nicht einfach angreifen, wen sie wollen. NATO und UNO verlangen den Nachweis einer Verbindung zwischen einem bestimmten Land, einer bestimmten Terrorgruppe und den Anschlägen." 14

Eine Woche später hatte sich an der Unklarheit der Lage noch nichts geändert. Die britische Zeitung The Independent kommentierte das so: "Wir haben die etwas merkwürdige Situation, daß Tony Blair kämpferischer als der US-Präsident klingt. Wir hören, was verständlicher ist, daß die Pakistaner über einige der US-Forderungen sehr besorgt sind und daß einige unserer europäischen Partner Angst vor einem ›Abenteuer‹ haben, wie es der deutsche Kanzler Gerhard Schröder nannte. Ganz zu schweigen von den Verwerfungen, die entstehen, wenn Iran und Israel Verbündete werden sollen. Die Notwendigkeit klarer Kriegsziele wird um so deutlicher, je näher das militärische Eingreifen rückt. Was ist das Ziel eines Einsatzes in Afghanistan? Welche Länder gelten offiziell als Staaten, die Terroristen Unterschlupf gewähren? Was wird von ihnen verlangt? Werden wir jetzt Saddam Hussein stürzen? Und wo sind die wasserdichten Beweise, die auf bin Ladin als Täter weisen? Bush sollte aus diesem scheinbaren Krieg keinen richtigen machen, bevor er nicht sagen kann, worum es geht." 15

August Pradetto brachte am 19. September die Risiken eines Losschlagens gegen Afghanistan oder ein anderes Land der persisch-arabischen Region ohne zuverlässige Kenntnis der Täterschaft so auf den Punkt: Wenn das Ziel der Terroristen tatsächlich gewesen sein sollte, die NATO in einen Krieg gegen die islamische Welt zu ziehen, dann seien wir dabei, "in eine ungeheure Falle zu tappen" 16 .

Gewiß: der Verlust der Gewißheiten

Der Verlust der Gewißheiten ist zunächst allgemein. Gewiß ist: Bisherige Sicherheitsmodelle von Staaten sind obsolet geworden. Kein nach außen gerichteter Raketenschutzschild hilft gegen regulär im Landesinneren gestartete und in der Luft in Bomben verwandelte Passagierflugzeuge. Kein Radarsystem vermittelt genaue Kenntnis darüber, ob ein Flugzeug gezielt oder aus Gründen technischen Defekts von der vorausberechneten Linie abweicht - noch dazu, wenn, wie geschehen, die Terroristen so gut ausgebildet sind, daß sie diejenigen Apparate, die im Flugzeug der Radarerfassung dienen, auszuschalten vermögen.

Gewiß ist weiter: Die Geheimdienste der USA und ihrer Verbündeten haben versagt. Entweder, weil sie - das wäre indes noch der ›positive‹ Fall - zwar all ihre Kraft auf die Früherkennung einer Bedrohung gerichtet haben, aber am Ende dennoch nicht über die Mittel verfügten, die Bedrohung tatsächlich auszuschalten. Oder aber, weil es - und das wäre dramatischer Höhepunkt der schon oft beklagten Unkontrollierbarkeit der Geheimdienste - zielgerichtet geschaffene Lücken in ihnen gab, mittels derer die ihnen eigentlich aufgegebene Aufmerksamkeit bewußt geschwächt wurde.

Gezeigt hat sich außerdem, daß bisherige Gewißheiten auf solchen Gebieten wie Grenzkontrolle, Einwanderungskontrolle oder Überwachung von als sicherheitsgefährdend eingestuften Organisationen, Gruppen oder Einzelpersonen über Bord geworfen werden müssen. Die acht Jahre umfassende ›Schläfer‹-Biographie des Mohammed Atta in Hamburg beweist, wie es in einer langfristig geplanten Aktion gerade die strikte Befolgung aller staatlichen Auflagen und Idealvorstellungen sein kann, die jemanden, der zu einem gegebenen Zeitpunkt zum Terror bereit ist, vollständig aller Aufmerksamkeit entziehen kann.

Und ganz erheblich ins Wanken geraten ist schließlich nichts Geringeres als die Gewißheit, daß der deregulierte Markt das Nonplusultra modernen Wirtschaftens sein könne. Das beginnt mit der Fragestellung, wie denn Flug- und Flugplatzsicherung zu gewährleisten sind, wenn auf den immer größer und unübersichtlicher werdenden Terminals Gepäckabfertigungs-, Reinigungs-, Reparatur-und Cargodienste aus Kostengründen in die Hand privater Firmen gegeben werden, und es hat mit Überlegungen zur Aufhebung des Bankgeheimnisses mit dem Ziel der Kontrolle internationaler Geldströme, mit denen sich die Terrororganisationen finanzieren, noch lange kein Ende. In der tageszeitung vom 22. September spricht Hannes Koch schon davon, daß "spätestens seit den Angriffen auf die USA ... die neoliberale Wirtschaftspolitik ihre beste Zeit hinter sich (hat)", und führt weiter aus: "Die Börsenkurse brechen ein, Firmen wollen hunderttausende Beschäftigte entlassen, von einer Woche auf die andere erscheinen die konjunkturellen Aussichten sehr viel düsterer als zuvor - nicht nur in den USA. Mit dieser Erfahrung schwindet auch das Vertrauen, daß die Kräfte des Marktes ihre heilende Wirkung schon von selbst entfalten. ... In der Krise erweist sich das neoliberale Politikkonzept als Schönwettertheorie." 17 Es sei dahingestellt, ob das in dieser Unbedingtheit stimmt. Ein treffender Hinweis auf die Komplexität der Folgen des 11. September aber ist es allemal.

Der eingangs geltend gemachte allgemeine Charakter des Gewißheitenverlustes heißt natürlich nicht, daß mit ihm auch gleichermaßen allgemein umgegangen wird. Die Zäsur des 11. September hat ja nichts an der Grundkonstellation der verschiedenen politischen Kräfte geändert, und so wird die Frage der nächsten Monate sein, wie die verschiedenen politischen Kräfte sowohl mit diesem allgemeinen Gewißheitenverlust als auch mit dem Verlust ganz bestimmter Gewißheiten, die nur oder vor allem der jeweiligen politischen Strömung eignen, umgehen werden.

Die Dinge in Deutschland betrachtend, will ich hier auf die Reaktionen von Regierungskoalition und konservativer Opposition in ihrer Gesamtheit nicht eingehen. Zu erkennen sind bei den einen wie bei den anderen zwei Grundlinien, die sich zuweilen ohne Ansehen der jeweiligen Partei treffen und überschneiden. Die eine dieser Grundlinien besteht in einem raschen Rückbesinnen auf Positionen, die vor dem 11. September bereits galten, im unmittelbaren Schock der Ereignisse vielleicht einmal kurz in Zweifel gezogen wurden, nun aber mit doppelter Energie wieder eingenommen werden nach dem Motto: Wir müssen sicherheitspolitisch alles einfach nur entschiedener und konsequenter als zuvor machen. Beispiele dafür sind etwa die Vorschläge von Innenminister Otto Schily zur Verschärfung von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen bei Asylsuchenden, Einwanderern und im Inland, die sich auf sehr beunruhigende Weise mit Vorstellungen treffen, die die CDU/CSU seit langem hoffähig zu machen versucht. Weiter fallen in diese Kategorie die Pläne zur Aufstockung der Etats von Bundeswehr und Geheimdiensten und all jene Konzepte, die auf eine Verstärkung der internationalen Rolle Deutschlands als Militärmacht hinauslaufen.

Es ist bereits erkennbar und muß ernsthaft befürchtet werden, daß im Zuge eines solchen Kurses die Demokratie nachhaltig Schaden nehmen kann. Von der "dünnen Glasur der Zivilisation" hat Günter Gaus in diesem Zusammenhang gesprochen und seinen bedrängenden Befürchtungen in einer Tagebuchnotiz vom 15. September mit den Worten Ausdruck gegeben: "Die Annäherung der Berliner Republik an einen Polizeistaat wird alsbald in der Sprache der Politiker Züge des quasi Gottgewollten annehmen." Und er fügte hinzu: "Meine Zukunftsängste rühren aus Erinnerungen her." 18

Die andere Grundlinie aber ist die eines erheblichen Zweifelns an der Richtigkeit des bisherigen Kurses, ist die einer unübersehbaren Nachdenklichkeit, und ich halte dafür, daß die linke Opposition im Lande diese Zweifel und diese Nachdenklichkeit, so zaghaft sie sich auch regen mögen, sehr ernst nimmt.

Zuvörderst zu nennen unter diesen nachdenklichen Stimmen ist die des Bundespräsidenten Johannes Rau. "Wir werden", sagte er auf der Kundgebung Keine Macht dem Terror - Solidarität mit den Vereinigten Staaten von Amerika am 14. September vor dem Brandenburger Tor in Berlin, zu der alle im Bundestag vertretenen Parteien gemeinsam aufgerufen hatten, "und wir dürfen uns von niemandem dazu verleiten lassen, ganze Religionen oder ganze Völker oder ganze Kulturen als schuldig zu verdammen. ... Wir werden auf die Herausforderung nicht mit Ohnmacht und nicht mit Schwäche reagieren, sondern mit Stärke und Entschlossenheit. Und mit Besonnenheit. Haß darf uns nicht zum Haß verführen. Haß blendet. Nichts ist ja so schwer zu bauen und nichts ist ja so leicht zu zerstören wie der Friede. ... Wer den Terrorismus wirklich besiegen will, der muß durch politisches Handeln dafür sorgen, daß den Propheten der Gewalt der Boden entzogen wird." Und: "Der beste Schutz gegen Terror, Gewalt und Krieg ist eine gerechte internationale Ordnung. Die Frucht der Gerechtigkeit wird der Friede sein." 19

"Der Bundespräsident", schrieb danach Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung, "hat sich damit zur Stimme derer gemacht, die sich in der großen Berliner Koalition der ›unbedingten Solidarität‹ nicht wiederfinden. Er hat dabei Sätze gefunden, denen wohl viele der Menschen zustimmen können, die irritiert davon sind, dass ihre Ängste von wichtigen Politikern auf einmal als Larmoyanz und Drückebergerei gewertet werden. Wer auf eine Begrenzung militärischer Optionen drängt, zieht sich nicht ›ins Hinterzimmer der Gemütlichkeit‹ zurück, wie Angela Merkel meint." 20

Daß Heribert Prantl in seinem Artikel nicht erwähnte, daß unter allen Parteien die PDS diejenige war, die mit ihren Erklärungen unter den Generalüberschriften Krieg ist nicht die Antwort und Spirale der Gewalt verhindern den Positionen von Johannes Rau am nächsten stand, und daß er mit diesem Verschweigen zur großen Mehrheit auch in der ja gar nicht so kleinen Gruppe der nachdenklichen Kommentatoren gehörte, ist schade und zeugt von der Hartnäckigkeit festgefügter Vorurteile. Die PDS sollte damit souverän umgehen, denn sie kann aus vielen anderen öffentlichen Signalen ablesen, daß sie mit ihrer Ablehnung des NATO-Ratsbeschlusses vom 12. September über den Bündnis- und Beistandsfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages zwar im Bundestag weitgehend allein war - nur einige wenige Abgeordnete aus anderen Parteien haben ebenfalls mit Nein gestimmt -, in der Gesellschaft aber viel Zustimmung findet.

Zeichen dafür, daß die PDS keineswegs isoliert dasteht, ist zum Beispiel die Bewegung im Zeitungsspektrum. Nicht nur, daß sich die Frankfurter Rundschau und die tageszeitung so deutlich wie lange nicht als ausgesprochene Zentren nachdenklicher Warnung vor Vergeltungsschlägen und intensiven Suchens nach einem angemessenen Umgang mit der Situation präsentieren - von der Wochenzeitung Freitag, deren Ausgaben vom 14., 21. und 28. September ohnehin ein ganzes Kompendium friedens- und bürgerrechtsorientierten Denkens anbieten, ganz zu schweigen. Auch in fast allen anderen großen Tageszeitungen sind, wenngleich die Zustimmung zum NATO-Ratsbeschluß dominierend war, lange Beiträge von in- und ausländische Autorinnen und Autoren gedruckt worden, in denen Besonnenheit gefordert und davor gewarnt wurde, der Logik des Militärischen zu folgen. 21

Gewiß: das Zerbrechen einer Zuflucht

Zum Abbau der ihr noch immer entgegenschlagenden Vorurteile kann und muß die PDS selbst beitragen, indem sie den 11. September auch für sich selbst als Zäsur wahrnimmt und verarbeitet. Im Gesellschaftsbild sowohl als auch im Geschichtsbild. Denn auch da sind Gewißheiten verschwunden.

Eine solche Gewißheit, die manchem in der Linken wohl gar zur Zuflucht wurde angesichts des auch in der Vergangenheit schon unfaßbaren individuellen Leids bei Terroranschlägen und der eigenen Hilflosigkeit, ist die von einer zur ›Erklärung‹ heranziehbaren direkten Verbindungslinie zwischen Elend hier und Terror da. Es gibt sie nicht, eine solche direkte Verbindung zwischen dem millionenfachen Elend in der ›Dritten Welt‹ und dieser am 11. September erlebten Form hochtechnisierten und in der Vorbereitung und Durchführung viele Millionen an Dollar verschlingenden Terrors. Die Zusammenhänge müssen gründlicher befragt und bedacht werden. Und es ist gefährlich, bei der Deutung und Beurteilung des 11. September Opfer aus der Vergangenheit aufzurechnen.

Natürlich kann - zum Beispiel - nicht vergessen werden, daß es schon einmal einen 11. September gab, der eine Zäsur darstellte. Es war der 11. September 1973, an dem in einem von den USA unterstützten Militärputsch in Chile die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende gestürzt wurde. Tausende verloren durch diesen Putsch ihr Leben. Und muß nicht der Vietnamkrieg der USA in Erinnerung gerufen werden mit seinen ein ›Zurück-in-die-Steinzeit- bomben‹-fordernden Generälen? Und das kleine Grenada? Und was ist mit den Hunderttausenden Unschuldigen, die im Irak dem Golfkrieg und dem ihm nachfolgenden Embargo zum Opfer fielen? Und denen, die unter den NATO-Luftschlägen in Jugoslawien starben?

Ja, die Erinnerung ist wichtig, und doch: Was ist damit am Ende wirklich gesagt? Wer damit beginnt, die Ereignisse und die Toten aufzurechnen mit dem Ziel von ›Erklärung‹, wird immer andere finden, die ihm mit Recht Vergessen vorwerfen. Auch der 21. August 1968 in Prag war ja eine Zäsur. Auch da starb unter Panzerketten eine Gesellschaftshoffnung. Auch da wollte eine Großmacht - diesmal die östliche - ihren Vorhof ›sichern‹. Und was ist mit den Millionen Opfern des Stalinismus in der Sowjetunion in den dreißiger Jahren? Waren der sowjetische Staatsterror der dreißiger Jahre und die Tatsache, daß die jeweiligen sowjetischen Führungen bis in die Mitte der achtziger Jahre hinein unwillens oder unfähig waren, diesen Terror wirklich umfassend zu benennen, zu kritisieren und zu überwinden, nicht dramatischer Beweis für die Richtigkeit des so ganz anderen amerikanischen Weges? Und - jedenfalls im amerikanischen Selbstverständnis - auch für all das, was in seinem Namen geschah?

Selbstgerechte Schemata passen nicht. Nirgends. Natürlich muß, wer Verständnis für andere Kulturen anmahnt, auch den Willen haben, dieses ganz besondere amerikanische Selbstbewußtsein zu verstehen. Und trotzdem wird bei einem Vergleich des Schocks vom 11. September mit dem von Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 auch nicht vergessen werden können, daß für diesen japanischen Überfall Zehntausende der damals bereits in zweiter und dritter Generation in den USA lebenden Japaner mit Internierung bestraft wurden.

Nun steht Afghanistan wieder im Blickpunkt, und wer da sehr rasch darauf verweist, daß die USA es doch selbst waren, die in den achtziger Jahren islamistische Glaubenskrieger finanzierten und ausrüsteten zum Kampf gegen die Sowjetunion, der muß natürlich daran erinnert werden, daß die Sowjetunion ihrerseits seit 1979 in Afghanistan Krieg führte im Irrglauben, auf solche Weise Terrain im Ost-West-Konflikt gewinnen zu können.

Erinnerungen, Erfahrungen, Wissen - all das muß eingesetzt werden für die Verlängerung der Atem- und Denkpause, die nach der Zäsur notwendig ist. Wir müssen heraus aus den gehabten Denk-Sackgassen und nicht tiefer in sie hinein.

Denn in diesen Sackgassen ist eben dem komplizierten Geflecht aus ökonomischen, sozialen und psychologischen Bedingungen, das den Nährboden für den Terrorismus des 11. September bildet, nicht beizukommen. Wir haben gründlicher als je zuvor nachzudenken über die immer tiefer werdende Kluft zwischen arm und reich, aber auch über die zwischen frei lebbarem und dauerhaft niedergeworfenem Stolz. Ausweglosigkeit und daraus erwachsendes Zu-allem-Entschlossensein haben ganz offensichtlich mehrere Wurzeln. So muß alles, was jetzt geschieht, auf seine Wirkung auf diese Klüfte hin geprüft werden.

Aber die Sackgassen verlassen heißt auch: Die Linke muß heraus aus dem Glauben, sie wisse nach den ersten Erklärungen des US-Präsidenten schon ganz genau, daß es als Antwort auf den 11. September Krieg und nur Krieg geben werde und wie dieser Krieg aussehe. Gewiß, die Gefahr, daß es Krieg gibt, ist riesengroß, und es muß gewarnt werden vor ihm und protestiert werden gegen ihn. Aber ich glaube, daß dennoch ein neuer Ton gefunden werden muß. Einer, der die Offenheit der Geschichte ernst nimmt. Wie kompliziert der Weg dahin ist, läßt sich leicht an den Diskussionen in der Tageszeitung Neues Deutschland erkennen. Dort gibt es eine Fülle eindringlicher Positionsnahmen gegen die drohende Spirale der Gewalt, es gibt die Suche nach neuen Einsichten und Antworten, aber es gibt auch Beispiele für jene krasse linke Selbstgefälligkeit, die selbst vor menschenverachtenden Argumentationen nicht halt macht. 22

Wenn die Linke mit all dem Wichtigen, was sie nach dem 11. September mit Blick auf Geschichte und Gegenwart zu sagen hat, wirklich gehört werden will, muß sie Mut haben zu neuen Einsichten und zu veränderungsbereiter, nachdenklicher Sprache. Das Zerbrechen der Zuflucht ist eine Chance.

Neue Antworten müssen gefunden werden

Die Suche nach neuen Antworten, an der sich die PDS im offenen Wettbewerb mit den anderen demokratischen Parteien beteiligen muß, hat gerade erst begonnen. Mit der Absage an einen Vergeltungskrieg, der Warnung vor der Entwicklung neuer pauschaler Feindbilder und der Formel ›Die offene Gesellschaft sicherer gestalten‹ hat sie sich dafür eine solide Ausgangsposition geschaffen. Der Dresdener Parteitag am 6. und 7. Oktober, der nach Redaktionsschluß dieser Ausgabe von UTOPIE kreativ stattfindet, wird zeigen, ob und wie diese Ausgangsposition für die Entwicklung konkreter Vorschläge genutzt worden ist.

Das größte Problem besteht dabei zweifellos in der Beantwortung der Frage, mit welchen Mitteln erkannte Tatverdächtige des globalen Terrorismus festgenommen und einer gerechten Strafe zugeführt werden sollen und können. Ein Ausweichen vor dieser Frage darf es, wenn die PDS in ihrem Willen zur Verantwortungsübernahme ernst genommen werden will, nicht geben. Der Wunsch der Menschen nach Sicherheit ist keiner, der sich einfach beiseite schieben läßt, und er verträgt auch keine Antworten, die im Nirgendwo einer fernen Zukunft angesiedelt sind. Niemand kann sich um die Wahrheit herum drücken, daß das Aufspüren und die Festnahme gut organisierter, zu allem bereiter Täter die Mobilisierung erheblicher repressiver Mittel verlangt.

Die Art dieser Mittel freilich ist nicht alternativlos. Wenn es richtig ist, daß die Anschläge des 11. September der zivilisierten Menschheit überhaupt galten, dann ist es auch richtig, daß sich diese zivilisierte Menschheit gemeinsam zur Wehr setzt. Die NATO ist nicht Repräsentant dieser ganzen Menschheit - eine Stärkung der UNO scheint daher höchstes Gebot. Und nicht nur eine politische Stärkung, sondern auch eine Stärkung der Mittel ihres unmittelbaren Eingreifens. Eine der UNO unterstehende internationale Polizei und die Schaffung eines UNO-Terroristentribunals - sind das nicht Einrichtungen, über deren Schaffung nachzudenken wäre?

Auch der Entwicklung effektiverer Sicherheitsstrukturen im Innern darf sich die PDS nicht verschließen. Daß der Flugsicherung erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß, steht außer Zweifel, und daß sicherheitssensible Betriebe, Einrichtungen und Bauwerke, aber auch große Veranstaltungen, bei denen viele tausend Menschen zusammenkommen, besseren Schutz brauchen, ebenfalls.

Aber dabei darf man natürlich nicht stehen bleiben. Sicherheit wird es auch im Inneren nur mit allen geben, die hier leben. Der selbstverständliche Grundsatz, daß es keine ›Schurkenvölker‹ und keine ›Schurkenreligionen‹ gibt, muß seine Entsprechung auf allen Ebenen der Politik bis in die kommunale Ebene hinein finden. Notwendig ist der Kampf gegen jede weitere Aushöhlung des Asylrechts, gegen Diskriminierung der Asylbewerber, gegen ›feindbildorientierte‹ Sonderkontrollen von Ausländern, denn natürlich haben alle diese restriktiven Instrumente nicht das geringste mit einer Erhöhung der Sicherheit zu tun. Und notwendig ist zugleich ein engagierterer Kampf gegen eine erneute Infragestellung des Charakters Deutschlands als Einwanderungsland und gegen jede direkte und indirekte Duldung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Sicherheit entsteht nicht durch Abschottung - ob die nun räumlich oder ideologisch ist.

Eine nachhaltige Verbesserung der Sicherheit braucht mehr Bildung für alle, mehr Anstrengungen in Richtung einer klugen, die Menschenwürde im Mittelpunkt habenden Integration von Ausländerinnen und Ausländern, mehr Bereitschaft und Möglichkeiten zum gleichberechtigten Miteinander der Kulturen. Umsomehr, als die Grenzen zwischen innen und außen immer fließender werden. Heraus aus der Logik des Militärischen im Internationalen durch neue Schwerpunktsetzungen zum Beispiel für die OSZE und nicht hinein in die Logik von Restriktion und Rasterfahndung, sondern in die Logik der Stärkung der offenen Gesellschaft im Innern - das alles kostet viel Geld, und wo soll das herkommen?

Es ist an der Zeit, einer Neuorientierung aufs Gemeinwohl das Wort zu reden. Gemeinwohl - das ist etwas, was sich betriebswirtschaftlich nicht ›rechnet‹. Und weil das so ist, haben sich - das jedenfalls sagt die Entwicklung des Steueraufkommens ganz unmißverständlich - die großen Unternehmen mit Hilfe entsprechender Steuergesetze immer weiter aus seiner Finanzierung zurückgezogen. Die neue Dimension der Sicherheitsgefährdung sollte endgültiger Anstoß zu einer Umkehr sein. Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer, die Einführung einer Luxussteuer, die Sicherung eines dem Gemeinwohl dienenden Spitzensteuersatzes und im internationalen Zahlungsverkehr die Einführung der Tobinsteuer - das alles muß auf neue Weise auf die Tagesordnung.

Wie eben auch das Thema der weltweiten sozialen Gerechtigkeit mit neuem Nachdruck in die Debatte gebracht werden muß. Nicht - das sei noch einmal ausdrücklich betont -, weil damit irgendetwas an den Anschlägen vom 11. September ›erklärt‹ oder gar gerechtfertigt werden könnte. Wohl aber, um nicht nur den reichen Teil der Welt, sondern die Welt überhaupt sicherer zu machen. Wirklicher Frieden und wirkliche Sicherheit sind unteilbar.

Wolfram Adolphi - Jg. 1951; Dr. sc., Diplom-Staatswissenschaftler, veröffentlicht seit 1976 zu Themen der internationalen Beziehungen (China-Politik Frankreichs und der USA in den siebziger Jahren, Entwicklungen in der asiatisch-pazifischen Region, deutsch-chinesische Beziehungen im Zweiten Weltkrieg), arbeitet seit 1992 in der Redaktion von "UTOPIE kreativ" mit und publiziert Arbeiten insbesondere zur Entwicklung der PDS, ist seit 1999 als Mitarbeiter in der PDS-Bundestagsfraktion tätig.

1 Die Beweislage ist offensichtlich so heikel, daß eine Offenbarung der Details auch eine Menge Einsichten in die Arbeitsweise und den Erkenntnisstand der US-Geheimdienste offenbaren würde. Nicht zuletzt deshalb ist über die US-amerikanischen Beweise als Basis für die Erklärung des ›Bündnisfalls‹ durch die NATO bislang nichts Konkretes bekannt geworden.

2 Die Welt vom 19. September 2001.

3 Vgl. Mankell, Henning: Die weiße Löwin, Roman, München 1998.

4 Die Welt vom 19. September 2001.

5 Hier zitiert nach: www.zeit.de/reden/Weltpolitik.

6 Ebenda.

7 Financial Times Deutschland vom 20. September 2001.

8 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. September 2001.

9 Ebenda.

10 Ebenda.

11 Kötter, Wolfgang: Die Welt in der Krise - was macht die UNO? In: Neues Deutschland vom 22./23. September 2001.

12 Financial Times Deutschland vom 20. September 2001

13 Ebenda.

14 Berliner Morgenpost vom 18. September 2001.

15 The Independent vom 27. September 2001, hier nach: dpa 270901 Sep 01.

16 Die Welt vom 19. September 2001.

17 Koch, Hannes: Ende des neoliberalen Zeitalters, in: die tageszeitung vom 22. September 2001.

18 Gaus, Günter: Rache als Raison d'être, in: Freitag vom 21. September 2001.

19 Hier zitiert nach: www.bundespraesident.de/.

20 Prantl, Heribert: Der Präsident, der Mut, der Krieg, in: Süddeutsche Zeitung vom 18. September 2001.

21 Aus der Fülle solcher Artikel seien hier genannt: Bedingt beistandspflichtig. Der Frankfurter Völkerrechtler Michael Bothe über das Recht auf Selbstverteidigung, den Wortlaut des NATO-Beschlusses und die Schwierigkeit, Krieg gegen unbekannt zu führen, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. September 2001; Die Rache heißt leben. New Yorker Intellektuelle reagieren mit Sorge und Kritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. September 2001; Said, Edward: Wir sollten einige Schritte zurücktreten. Dämonisierung des Anderen taugt nicht als Grundlage einer vernünftigen Politik, in: Die Welt vom 20. September 2001; "Jeder hat ein Gewissen". Für den in Frankreich lebenden jüdischen Romancier Marek Halter ist der Anschlag auf das World Trade Center eine Konfrontation zwischen Arm und Reich, in: Berliner Morgenpost vom 27. September 2001.

22 Gemeint ist der Aufsatz von Robert Kurz: Vor dem Kreuzzug, in: Neues Deutschland vom 14. September 2001. Auf ausführliche Weise hat sich mit den von Robert Kurz dort vertretenen Ansichten Erhard Crome in einem Beitrag mit dem Titel Katheder-Stalinismus auseinandergesetzt in: Das Blättchen vom 1. Oktober 2001 (vgl. dort auch weitere Texte zu den Folgen des 11. September, mit denen Das Blättchen in ähnlicher Weise wie der Freitag friedens- und bürgerrechtsorientiert in die Debatte eingreift).