Das bürgerliche Lager neu aufgestellt?

Die CDU-Vorsitzende Merkel hat sich seit ihrem Amtsantritt alle Mühe gegeben, die CDU aus dem Elend der Parteispendenaffäre herauszuholen. Für diese Aufgabe brauchte die Partei lediglich die notwendige Zeit, bis die Öffentlichkeit an der Aufklärung der Fehltritte der politischen Klasse kein Interesse mehr hat. Eine weitere Aufgabe der neuen Führung bestand darin, die größte Partei des bürgerlichen Lagers für die kommenden Wahlauseinandersetzungen neu aufzustellen. Mit der politisch-programmatischen Erneuerung der Partei sollten die Lehren gezogen werden aus dem Hegemonieverlust bei den letzten Bundestagswahlen. "Wir haben 1998 verstanden, als viele Familien sagten: Die Sonntagsreden für uns, die Taten für das Gewerbegebiet! Mit diesem Widerspruch konnten wir nicht mehr richtig Punkte machen."

Merkels Konzept der "Neuen Sozialen Marktwirtschaft" ist der Versuch, diese widersprüchlichen Interessen und Bedürfnisse der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Klassen "sozial gerecht" zu moderieren und damit dem Vertrauensverlust in die Gestaltungskraft des bürgerlichen Lagers zu begegnen. "Die große Leistung in der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Anfangsjahre unserer Bundesrepublik Deutschland bestand doch gerade darin, durch die soziale Marktwirtschaft den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu versöhnen, Menschen zusammenzuführen und einen bis dahin unlösbaren Widerspruch zu versöhnen... Heute müssen wir (...) es wieder schaffen, Widersprüche zu versöhnen. Wir müssen den Widerspruch zwischen Globalisierung auf der einen Seite und Verwurzelung in unserem eigenen Land auf der anderen Seite versöhnen. (...) Die neue Soziale Marktwirtschaft ist die Antwort auf die Frage, was Ludwig Erhard unter den veränderten Bedingungen machen würde, um das Gleiche zu erreichen wie in der Nachkriegszeit, nämlich Wohlstand für alle, Arbeit für alle und keine Verschuldung des Staatshaushalts."

Die konkrete Umsetzung des Konzepts der NMS finden sich in dem auf dem Dresdener Parteitag der Christdemokraten vorgelegten "Vertrag für eine sichere Zukunft", den die CDU den BürgerInnen für die nächste Bundestagswahl vorschlagen will. Beim Lesen des Vertrages und vor allem des Kleingedruckten werden diese allerdings feststellen, dass eine erneute Versöhnung von Kapital und Arbeit und eine ausgleichende Korrektur der manifesten sozialen Schieflagen nicht vorgesehen sind. An den Verteilungsstrukturen des gesellschaftlichen Reichtums soll nicht gerüttelt werden: "Wir müssen soziale Gerechtigkeit sehr viel stärker als Teilhabegerechtigkeit und weniger als Verteilungsgerechtigkeit verstehen." Sieht man einmal von der vorgeschlagenen Kindergelderhöhung und weiteren Steuersenkungen, deren Finanzierung unklar bleibt, ab, laufen deshalb alle Maßnahmen auf eine weitere Senkung der Niveaus der sozialen Sicherung und damit Privatisierung der sozialen Lebensrisiken hinaus.

Merkels Anstrengungen zur Wiedergewinnung der Hegemoniefähigkeit der Unionsparteien waren von Beginn an begleitet vom Sperrfeuer der rechtskonservativen Kräfte. Nach der Auffassung von Stoiber, Teufel und Koch wird es eine bürgerliche Mehrheit in der Bundesrepublik nur geben können, wenn der Großteil der rechten politischen Spektrums an die christlichen Unionsparteien gebunden wird. Die Hauptdifferenz zwischen Stoiber und Merkel liegt darin, wie gewichtig die rechtskonservativ-nationalistischen Wählerschichten einzuschätzen sind und mit welchen inhaltlichen und personellen Angeboten eine eigenständige parteipolitische Repräsentation jenseits der Union unterlaufen werden kann.

Ein wesentlicher Punkt ist die Zuwanderung: "SPD, Grüne, FDP, PDS:Alle wollen sie im Ergebnis mehr Zuwanderung. Entgegen dem Eindruck in der veröffentlichten Meinung will aber die überwätigende Mehrheit der Menschen in Deutschland kein Mehr an Zuwanderung... Wir, CDU und CSU, sind in dieser entscheidenden Frage die einzigen, die den Merheitswillen der Bevölkerung vertreten." (Stoiber) Nur durch eine kompromisslose Politik der so genannten nationalen Interessen ist in dieser Sichtweise ein rechtspopulistischen Ausbruch von kleinbürgerlichen Wählern wie in Hamburg oder in Österreich, Italien und Dänemark für die Bundesrepublik zu verhindern. In der politischen Praxis bedeutet diese strategische Orientierung: Mittelstandsförderung, kompromisslose Konfrontation in der Ausländerpolitik, massive Einschränkung von Bürgerrechten in Fragen der inneren Sicherheit und deutliche politische und finanzielle Aufwertung der Bundeswehr. Diese rechtskonservative Orientierung darf freilich nicht in einen Gegensatz zu den Interessen der Großunternehmen umschlagen.

Bei der seit Wochen die Öffentlichkeit bewegenden "K.-Frage" geht es im Kern um unterschiedliche Vorstellungen über Strategie und Taktik des bürgerlichen Lagers. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Asyl- und Ausländerpolitik, die Wahlen in Hamburg und vor allem auch die Wirkungen des 11. Septembers auf die Innen-und Außenpolitik haben dem rechtskonservativen Lager deutlichen Auftrieb gegeben und die Position von Edmund Stoiber als möglicher Kanzlerkandiadat der Unionsparteien gestärkt. Angela Merkel ist es auf dem Dresdener Parteitag gelungen, zumindest innerparteilich wieder Boden gut zu machen. Der Kampf der "Klatsch-Guerillas" endete remis und die Kaffeesatzleserei hat Konjunktur.

Die wirtschaftliche Talfahrt der Berliner Republik und die Unfähigkeit von Rot-Grün, durch einen Kurswechsel gegenzusteuern, haben die Wahlchancen für die Unionsparteien erheblich verbessert. Dieser Rückenwind speist sich allerdings weniger aus einem überzeugenden politischen Konzept zur Positionierung der CDU/CSU als die bürgerliche Kraft des 21. Jahrhunderts, sondern lebt von den immer deutlicher werdenden Schwächen der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien. Umgekehrt verbessern gerade die konzeptionellen Defizite der "Neuen Sozialen Marktwirtschaft" die Chancen des rechtspopulistischen Konservatismus.