Am Wendepunkt

Expansive Lohnpolitik und Politikwechsel gehören zusammen

Seit Ostern sind die Verteilungsauseinandersetzungen in eine entscheidende Phase getreten - massive Warnstreiks kündigen das an. Sie zeugen von der Kampfbereitschaft der gewerkschaftlichen Basis, ...

... die nicht bereit ist, weiterhin auf die Früchte ihrer Arbeit zu verzichten.

Schlecht hingegen sind die politischen Rahmenbedingungen. Vor allem zwei Entscheidungen haben die Defensive der Gewerkschaften möglicherweise noch vertieft. Zum einen das Versprechen der Bundesregierung, in zwei Jahren in Brüssel einen ausgeglichenen öffentlichen Gesamthaushalt (für Bund, Länder und Kommunen) zu präsentieren. Wie man die Realisierungschancen auch immer beurteilen mag, klar ist, dass die Schrumpfpolitik nun erst richtig nach den Wünschen von Haushältern praktiziert wird, die weder für soziale noch gesamtwirtschaftliche Belange Verständnis aufbringen. Auch die letzten Ansätze von sozialer Gerechtigkeit, soweit sie mit öffentlichen Ausgaben zu tun haben, werden wir vergessen dürfen. Das gleiche gilt für die Zukunftsvorsorge: Die öffentlichen Investitionen werden weiter zusammengestrichen - bestenfalls die leidlich funktionierende Auto- und High-Tech-Lobby wird mit ihren Standortargumenten noch etwas einstreichen können, und für die Rüstungslobbyisten werden einige Beschaffungsprojekte wohl nicht auf die Streichliste kommen. Ansonsten dominiert die Gürtel-enger-Rhetorik.

Ebenso steif bläst den Gewerkschaften der Wind der Privatisierung der Bundesanstalt für Arbeit ins Gesicht. Um es auf den Punkt zu bringen: Es handelt sich um einen Enteignungsvorgang erster Güte. Die finanziellen Mittel der passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik sind nichts anderes als Lohneinkommen, die von den Erwerbstätigen zu den Arbeitslosen umverteilt werden. Dass die Arbeitgeber davon die Hälfte überweisen, ändert nichts daran: Es handelt sich zu 100% um Lohnfonds. In Schweden z.B. findet diese Tatsache ihren korrekten Ausdruck darin, dass die Gewerkschaften die Arbeitslosenversicherung verwalten - hierzulande hatten wir es nur zu einer sozialpartnerschaftlichen Selbstverwaltung gebracht. Selbst dieses abgespeckte Modell wird nun faktisch abgeschafft - und die Gewerkschaften werden in ein mit wenig Kompetenzen ausgestattetes Abnickergremium abgeschoben. Bundesarbeitsministerium und Kanzleramt schalten und walten nach ihrem Gusto - mit welchem Recht eigentlich?

In den entscheidenden Monaten vor der Bundestagswahl macht die rot-grüne Regierung mit diesen Entscheidungen deutlich, dass ihr gewerkschaftliche Forderungen nicht einen Pfifferling wert sind. Nicht an der Schaffung von Arbeitsplätzen will sie sich offenkundig messen lassen, sondern am "Konsolidierungserfolg", was nichts anders als eine Umschreibung für die weitere Umverteilung von unten nach oben ist. Arbeitslosigkeit wird umdefiniert in ein individuelles Problem vermeintlich nicht vermittlungsbereiter Arbeitsloser und in ein Problem bürokratisch erstarrter Arbeitsverwaltung, die man durch schnelle Privatisierung "aufknacken" müsse - auch hier Umverteilung durch Enteignung aller lohnabhängigen Beitragszahler und auf Kosten der Langzeitarbeitslosen, die sich demnächst in der Sozialhilfe wiederfinden werden.1 Dass diese "Reform" ebenfalls (wie der Abbau der Neuverschuldung) bis 2004 durchgesetzt werden soll, macht deutlich, wie eng die beiden Politikfelder miteinander verzahnt sind.

Wir heben dies hervor, weil wir der Auffassung sind, dass die Tarifbewegung mit der Auseinandersetzung um einen dringend erforderlichen Politikwechsel verknüpft werden sollte. Nicht um sie zu instrumentalisieren, sondern weil wir unsere guten Argumente für gute und leistungsgerecht bezahlte Arbeit umso überzeugender Â’rüberbringen, wenn es uns gelingt, die Vorherrschaft von Spar-, Deregulierungs-, Privatisierungs- und Niedriglohnpolitik zu schwächen. Und, um die Grenzen tariflicher Verteilungspolitik deutlich zu machen: Sie kann in der Tat nicht "alleiniger Gegenstand offensiver Verteilungserwartungen"2 sein. Wir plädieren nachdrücklich dafür, die gesamtwirtschaftlichen Begründungen für eine expansive Lohnpolitik zu stärken. Nichts spricht in diesem Zusammenhang auch dagegen, die Raffer im Management beim Namen zu nennen, deren Bezüge keinerlei Leistungsbezug haben. Aber sich argumentativ auf diesen Skandal zu konzentrieren - mit dem Argument, mehr sei in den Medien nicht rüberzubringen - hieße, zu kurz zu springen. Heiner Flassbeck hat es hinreichend erfahren: "Nimmt man auch nur das Wort Nachfrage in den Mund, wird man sofort als Linksradikaler gebrandmarkt. Sobald man in Deutschland sagt, dass der Markt aus Angebot und Nachfrage besteht, hat man eigentlich das Rederecht verloren."3 Diesem Langzeitspuk muss ein Ende gesetzt werden - von den Gewerkschaften, von wem sonst?

Dass das so schwer fällt, hängt unter anderem damit zusammen, dass auch Gewerkschaften ihre Unschuld verloren haben. In mehreren "Bündnis"-Runden wurde Lohnzurückhaltung angeboten, um von Arbeitgebern und Bundesregierung Beschäftigungszusagen zu erhalten4 - mit null praktischen, aber desaströsen ideologischen Folgen. "Moderate" Lohnpolitik hat dazu beigetragen, dass die wirtschafts- und verteilungspolitische Entwicklung von der schiefen Ebene nicht mehr herunterkam. Die Massenarbeitslosigkeit blieb auch in den Jahren des konjunkturellen Aufschwungs hoch, weil standortpolitisch einseitig auf Exporterfolge gesetzt wurde - in Branchen, die mit hoher Produktivität arbeiten, allerdings nur geringe Beschäftigungseffekte erzielen - in diesen Bereichen hat die IG Metall ihre "Bastionen" -, während die Nachfrage auf dem Binnenmarkt vernachlässigt wurde. In den 1990er Jahren sind die realen Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Deutschland gesunken: um 30 DM. Gleichzeitig ist das Bruttosozialprodukt aber kräftig gestiegen. Wer also hat das Geld eingesackt? Es waren Jahre einer enormen Gewinnexplosion (nach der schweren Krise 1992/93 kletterten die Jahresgewinne der Metall- und Elektroindustrie von 0,6 Mrd. Euro auf 25 Mrd. Euro im Jahr 2000). Überschüssiges, anlagesuchendes Kapital ging auf die Kapitalmärkte, speiste dort den Börsenboom und sorgte rückwirkend dafür, dass die Unternehmen unter den Druck des Shareholder value geraten sind. So betrachtet ist die Umverteilungskomponente der diesjährigen Tarifforderung von 6,5% keine Reminiszenz an längst vergangene Zeiten, sondern eine aktuelle Forderung, um das weitere Abgleiten in einen Kasino-Kapitalismus zu verhindern. Hier liegt die Verknüpfung mit der politischen Kampagne für die Wiederauflage der Vermögenssteuer, die zeitgemäße Besteuerung von Immobilien und hohen Erbschaften sowie die Besteuerung von Devisen- und Spekulationsgeschäften auf der Hand. Ebenso die Frage, mit welchen Bündnispartnern die Gewerkschaften dies angehen sollten.

Eine expansive Lohnpolitik ist auch der von den KollegInnen in unseren europäischen Nachbarländern lang erwartete Beitrag für eine Politik, die internationale Solidarität gegen Standortnationalismus setzt. In keinem anderen Land sind die Lohnstückkosten in den letzten Jahren derart gesunken wie in Deutschland. Im Europäischen Metallarbeiterbund (EMB) hat sich die IG Metall und im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) der DGB zu einer Politik verpflichtet, die Lohndumping verhindern soll. Die Zeiten einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik müssen beendet werden, wenn wir auf dem Weg zu einem sozialen Europa vorankommen wollen.
Wir haben es in der Tarifbewegung 2002 nicht nur mit einem materiellen Verteilungskonflikt zu tun. Es muss darüber hinaus einen unumkehrbaren Einstieg in einen gemeinsamen Entgeltrahmen für Arbeiter und Angestellte (ERA) geben. Die Zeit ist reif für ein zukunftsfähiges System der Entgeltgestaltung, der Leistungsregulierung und der Arbeitsbewertung.

ERA hat weitreichende Dimensionen. Gerade in Zeiten entfesselter Privatisierungspolitik muss gegen die Forderung aus dem Unternehmerlager - aber auch aus der Politik -, den Tarifvorrang auszuhebeln, ein klares Signal für Regulierung gegeben werden. Mit dem Umbau der Bundesanstalt für Arbeit wird eine entscheidende Institution öffentlich regulierter Arbeitsverhältnisse unter privatwirtschaftlichen Handlungsdruck gesetzt. Die tarifvertragliche Festlegung nicht hintergehbarer Mindestbedingungen bleibt damit eines der wenigen verbliebenen Instrumente, die Arbeitskraft nicht schutzlos den maßlosen Verwertungsinteressen des Kapitals auszuliefern. Die rasanten Veränderungen in den Produktionsprozessen und in der Unternehmensorganisation - die sich als Vermarktlichung der Arbeitsverhältnisse und der Arbeitsbedingungen charakterisieren lassen - erlauben nur dann die Perspektive auf eine innovative Arbeitspolitik, wenn sie mit der Aufwertung qualifizierter, kooperativer und stärker selbstbestimmter Arbeit einhergehen. Gegen Retaylorisierung muss gewerkschaftliche Gestaltungspolitik zum Zuge kommen. Dies ist schließlich neben einer expansiven Verteilungspolitik das stärkste Argument für die Gewinnung neuer Mitglieder.

Otto König ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Gevelsberg/Hattingen und ehrenamtliches Vorstandsmitglied; Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

1 Die materiellen Folgen dieser Anti-Reform hat Johannes Steffen an Fallbeispielen zusammengestellt. Siehe seine Homepage: www.labourcom.uni-bremen.de/~jsteffen/sozialpolitik/sopo/seiten/01_aktuelles/sozialhilfe-arbeitslosenhilfe.htm
2 Armin Schild, Eröffnung des tarifpolitischen Symposiums der IG Metall am 5./6. März 2002 in Kassel.
3 H. Flassbeck, Sparen wozu? Zur Finanzpolitik von Rot-Grün, in: Rot-Grün - noch ein Projekt? Kritische Interventionen 5, Hannover 2001
4 Klaus Lang hat vor der AfA (siehe Homepage der IG Metall: www.igmetall.de) überzeugend begründet, dass das Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit "daran gescheitert (ist), dass es keine in den Grundsätzen gemeinsame Perspektive von SPD und Gewerkschaften über die Reform des Sozialstaates, mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft, die Zukunft der Erwerbsarbeit und die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft gibt." Gleichzeitig versichert Klaus Lang der SPD: "Dabei geht es überhaupt nicht darum, das Bündnis für Arbeit insgesamt in Frage zu stellen." Warum soll man etwas, was gescheitert ist, nicht in Frage stellen? Zumal Besserung aufgrund fehlender gemeinsamer Perspektive nicht erkennbar ist? Für den verbleibenden Rest, der an Absprachen möglich ist, bedarf es keines Bündnisses, das in der IG Metall und vor allem in der Hans-Böckler-Stiftung eine Menge an personellen und finanziellen Ressourcen beansprucht.