Säuberungen

Nebel liegt am Morgen über Grosny, als die russischen Soldaten in den Stadtbezirk Oktjabrski einrücken. Bewehrt mit Schützenpanzern, Flugabwehrkanonen und Maschinengewehren.

Eine "Satschistka" ist befohlen, eine sogenannte Säuberung. Sie besetzen die Kreuzungen und durchkämmen die Straßen. In den Ruinen durchwühlen sie die elenden Quartiere der verbliebenen Zivilisten. Die zwanzig "Kontraktniki", die wir begleiten, sind Söldner aus der zentralrussischen Stadt Orjol. Für 5 000 Rubel im Monat (rund 180 Euro) sind sie auf der Suche nach Terroristen. Sie jagen tschetschenische Separatisten und Rebellen. Nach dem 11. September 2001, nach den Terroranschlägen in New York und dem Eintritt Rußlands in die Antiterror-Allianz, hatte Präsident Wladimir Putin seinen Militärs Generalvollmacht erteilt: Die abtrünnige Tschetschenen- Republik ist zu "säubern", von allen dem Terror verdächtigen Elementen und mit allen verfügbaren Mitteln. "Wir sind hier", verkündet Untersergeant Vischan Chamsajew, "um den Tschetschenen Gesetz und Ordnung beizubringen. Wer das Gesetz verletzt, der wird bestraft. Zur Abschreckung für alle anderen."

Wie das in der Praxis aussieht, erleben wir Mitte April in Grosny. Jeder Tschetschene, der den Soldaten verdächtig erscheint, jeder Passant, der keinen Personalausweis vorweisen kann, wird abgeführt zum "Filter". So nennen die Russen die mobilen Kontrollpunkte. Im Karree aufgestellte Lastwagen und Panzer, hinter denen die Verhafteten verhört werden. "Halt die Schnauze, du alte Ziege, wenn der Herr Offizier mit dir spricht." Ein vermummter Hüne, die Kalaschnikow im Anschlag, brüllt eine Frau an, die wild gestikulierend auf die Russen einredet. Ihr achtzehnjähriger Sohn steht stramm vor einem Major. "Wir müssen dich leider mitnehmen, mein Junge. Denn du hast die Vorschriften verletzt." Im Ausweis des jungen Tschetschenen hatten die Russen einen Zettel mit Zahlen gefunden. Sie vermuten Telefonnummern von Terroristen. Außerdem, sagt der Offizier, sei es in Rußland verboten, persönliche Papiere in den Personalausweis zu legen. "Wir werden dir schon Ordnung beibringen", schreit der Major. Der Junge wird abgeführt. Zurück bleiben eine hilflose, weinende Mutter und entsetzte Nachbarn.

"Wir wissen nicht, was die Russen mit diesen ›Säuberungen‹ erreichen wollen. Jeden Tag verhaften und verschleppen sie unschuldige Menschen." Der Student Artur Issajew schaut sich ängstlich nach allen Seiten um, als er mit uns spricht. Er will nicht, daß die Soldaten hören, was er uns sagt. Chamsat Matschukajew, ein würdiger Alter mit weißem Bart, stört sich daran nicht. "Viele Menschen", sagt er, "haben inzwischen Angst, auf die Straße zu gehen. Weil die Russen in jedem von uns einen Banditen sehen."

Im Krankenhaus Nummer 9 von Grosny werden die Menschen versorgt, welche die letzten "Säuberungen" in der tschetschenischen Hauptstadt verletzt überlebt haben. Eine junge Frau, mit Gewehrkolben von Soldaten grün und blau geschlagen. Sie hatte gewagt, zu protestieren, als Soldaten ihre Wohnung plünderten. Zwei Männer, beide Mitte dreißig, mit Schußverletzungen am Kopf und an den Beinen. Der frisch operierte Magomed Tscherchigow berichtet: "Ich war auf dem Weg vom Markt nach Hause, als ein Schützenpanzer neben mir stoppte. Die Soldaten, die raussprangen, haben sofort angefangen zu schießen. Ich wurde am Kopf und am rechten Oberschenkel getroffen. Solche Sachen passieren jeden Tag, überall in Tschetschenien. Jeden Tag sterben unschuldige Menschen. Das Schlimmste dabei ist, daß die Weltöffentlichkeit kaum etwas davon erfährt."

Auch wenn Präsident Putin immer wieder Gegenteiliges behauptet: Ausländischen Journalisten ist die Einreise nach Tschetschenien nur in Begleitung seiner Aufsichtsbeamten gestattet, auf vorbereiteten Routen. Selbständige Recherchen sind verboten. Wir haben unseren Aufenthalt in Grosny einem gutmütigen und etwas bestechlichen Offizier zu verdanken, der nicht einverstanden ist mit Putins Kaukasus-Krieg. Der mutige Mann verhinderte auch nicht, daß wir von Massakern seiner Kollegen an tschetschenischen Zivilisten erfuhren. Zum Beispiel davon, was vom 8. bis 11. Januar 2002 in Argun geschah, einer Kleinstadt, wenige Kilometer östlich von Grosny. Mutige Einwohner dokumentierten die Folgen eines Verbrechens auf Video. Russische Truppen hatten den Ort mit Artillerie und Minenwerfern beschossen, anschließend mehrere Straßenzüge ausgeraubt und 21 Zivilisten ermordet. "Es war Mittag um eins. Die Kinder kamen gerade aus der Schule, als die Bomben einschlugen. Warum haben sie das nur getan? Wir sind doch keine Banditen. Weiß Gott nicht." Sara Pitschigowa, Mutter von drei Kindern, hat das, was die Russen "Säuberung" nennen, schwerverletzt überlebt. Mit Schüssen in die Beine und in den Bauch.

Wir treffen Flüchtlinge aus dem Dorf Zazin-Jurt. Rosa und Mairbek Arzujew, Eltern von fünf Kindern, wurden dort am 30. Dezember 2001 Zeugen eines weiteren Verbrechens der Armee an der Zivilbevölkerung. Rosa, Bäuerin, 35 Jahre alt, berichtet: "Die Soldaten kamen früh um neun. Sie zerrten meinen Mann auf die Straße, hielten ihm eine Maschinenpistole an den Kopf und brüllten: Rück sofort dein Geld raus, oder wir erschießen dich! Sie waren wie die Tiere. Gläser haben sie verlangt und Brot. Wodka und Kognak haben sie gesoffen. Einer legte plötzlich das Gewehr auf uns an und schoß. Eine Nachbarin wurde getroffen, in den Bauch."

Wenn russische Staatsanwälte das Verbrechen von Zazin-Jurt aufklären wollten, sie würden, so mühelos wie wir, Zeugen und Opfer finden. In einem Viehstall, auf einem Kolchos am Rande von Nasran, im benachbarten Inguschetien, wohin die Überlebenden von Zazin-Jurt ge- flüchtet sind, treffen wir auf Birlant Schenalijewa, auf jene Frau, die den Bauchschuß des russischen Soldaten überlebte. Zwei Wochen lang, erzählt sie uns, hätten russische Einheiten Zazin-Jurt "gesäubert" und dabei achtzehn Einwohner erschossen.

Völkermord nennt das die tschetschenische Journalistin Chaide Saratowa, die uns begleitet: "Seit dem 11. September letzten Jahres sind die russischen Soldaten außer Rand und Band. Die Menschen fliehen wieder in Scharen aus Tschetschenien. 170 000 sitzen allein in Inguschetien in Flüchtlingslagern. Putin sagt, er kämpfe gegen Terroristen. Doch das ist falsch. Mit diesen ›Säuberungen‹ zwingt er viele Tschetschenen zu den Waffen. Einfache Leute, die bisher die Rebellen nicht unterstützt haben, schießen jetzt auf die Russen und bauen Sprengfallen. Um sich zu rächen."

Es ist am Nachmittag um vier. Die Soldaten aus Orjol sind müde vom Treppensteigen durch die Ruinen des Oktjabrski-Stadtviertels. Sie sitzen auf einem Geländer vor dem Eingang eines zerschossenen Plattenbaus und rauchen. Die meisten haben ihre schwarzen Wollmasken, die sie aus Angst vor Vergeltungsaktionen der Tschetschenen tragen, noch nicht abgelegt. "Nicht viel los heute", flüstert Untersergeant Chamsajew. Tschetschenische Untergrundkämpfer haben sie heute nicht aufgespürt. Wohl aber Teppiche, Uhren und Schnaps. Beutegut. Wer ihnen fünfhundert Rubel für Wodka gab, dem versprachen sie, ihn eine Woche lang von weiteren Besuchen zu verschonen.

Nach wie vor ist Präsident Wladimir Putin nicht zu Friedensgesprächen über Tschetschenien bereit. Er läßt "säubern". Was russische Soldaten dabei anrichten, das hat Kanzler Gerhard Schröder bei der grandiosen Inszenierung in Weimar von Putin nicht erfahren. Der Mann aus dem Kreml mochte darüber nicht reden, und der Mann aus dem Kanzleramt hat ihn nicht gefragtÂ… Das war die "nach oben offene Strickjackenskala", wie der Berliner Times-Korrespondent im Tagesspiegel schrieb.