Was brachte der Streik?

Zum Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie

1. Mit der Einigung im baden-württembergischen Böblingen begann das Rechnen. Was bringt ein Tarifabschluss von 4% (zwei Nullmonate und 120 EUR im Mai) im ersten und 3,1% in zweiten Jahr per Saldo? .

... Warum diese Stufigkeit, warum im ersten Jahr mehr als im zweiten, wenn man davon ausgeht, dass die Konjunktur ab Winter 2002 an Fahrt gewinnt, so dass auch die Produktivität wieder stärker ansteigt?
Der Grund ist symbolischer Natur: eine Vier vor dem Komma musste her. Soziale und damit verteilungspolitische Auseinandersetzungen sind immer symbolbeladen. Jeder Tarifkonflikt ist aber auch ein Stück praktische politische Ökonomie. Dabei geht es um Deutungsmacht: gegen den vermeintlichen Sachzwang abstrakter Zahlen - sei es eine am Shareholder-Value orientierte Rendite von 15% oder das berühmt-berüchtigte Maastricht-Verschuldungskriterium für die öffentlichen Haushalte, das jeder vernünftigen Investitions- und Personalpolitik die Luft abschneidet - muss Aufklärung über die ökonomischen und sozialen Zusammenhänge betrieben werden. Jede Tarifbewegung ist ein "Kampfplatz zweier Ökonomien" (Negt): eine Ökonomie, in der es um die betriebswirtschaftliche Optimierung von Standortvorteilen und Gewinnmargen geht, und eine Ökonomie, die hohe Beschäftigungsniveaus zur Förderung qualitativen Wachstums und gesamtwirtschaftlich sinnvolle und gerechte Verteilungsverhältnisse zum Fokus hat. Um diese Aufklärungsarbeit in Angriff zu nehmen, bedarf es eines offensiven politischen Konzepts. Dies war nur in Ansätzen erkennbar. Eine Fortsetzung "moderater" Lohnpolitik konnte sich die IG Metall nicht zumuten - in dieser Hinsicht war die Botschaft der Basis eindeutig. Eine Klärung darüber, was am Ende der Bescheidenheit stehen sollte, gab es jedoch nicht. Umverteilung nach Jahren der Bereicherung des Kapitals als Forderung zu erheben, war wohl nie mehr als ein Argumentationsbaustein, um Manövriermasse für Verhandlungen zu haben. Damit werden auch für die Jahre 2002/03 die theoretisch-programmatischen Defizite der Entgeltpolitik fortgeschrieben.

2. Das verteilungspolitische Mindestziel besteht darin, Reallohnverluste zu verhindern und am Produktivitätsfortschritt teilzuhaben. Daran ist das Volumen eines Tarifabschlusses zu messen. Das Volumen des Abschlusses liegt im Durchschnitt der 22 Monate bei ca. 3,4%. Der "Wirtschaftsweise" Jürgen Krompardt spricht von einer Punktlandung beim so genannten neutralen Verteilungsspielraum, indem er die Zielinflationsrate und die mittelfristige Produktivitätsentwicklung auf jeweils 1,7% schätzt. Drücken wir es vorsichtiger aus: Der erste Teil des Abschlusses ist in einer Zeit, die noch von einer Wirtschaftskrise und einem fragilen, bestenfalls schwachen Aufschwung geprägt ist, am neutralen Verteilungsspielraum zumindest orientiert; für die darauffolgenden Monate gilt das aller Wahrscheinlichkeit jedoch nicht: die 3,1% liegen unterhalb der mittleren Preis- und Produktivitätsentwicklung. Ordnen wir den Abschluss ein in die Tariflandschaft der letzten zehn Jahre, die durch eine langfristige - wenn auch bescheidene - Wachstumsphase geprägt war, ist das Tarifergebnis für das Jahr 2002 eher im oberen Bereich angesiedelt. Das bedeutet zweierlei: Erstens war von vornherein klar, dass die bei DaimlerChrysler oder Porsche vorhandenen Verteilungsspielräume nicht durch einen an gesamtwirtschaftlichen Rahmendaten orientierten Flächentarifvertrag ausgeschöpft werden können. Zum zweiten ist aber ebenso klar, dass eine Korrektur in den Verteilungsverhältnissen mit diesem Tarifabschluss nicht erfolgt ist. Da Tarifabschlüsse in der Metallindustrie die nachfolgenden Tarifrunden prägen, sind die Folgen weitreichend. Die - gesamtwirtschaftlich schädliche und gesellschaftspolitisch spalterische - Scherenentwicklung mit einer Konzentration der Gewinn- und Vermögenseinkommen im oberen Fünftel der Einkommensskala und einem wachsenden Sektor prekärer Lebensverhältnisse im unteren Fünftel - mit einer stagnierenden bzw. erodierenden gesellschaftlichen "Mitte" - setzt sich fort. Die weitere Öffnung der Gerechtigkeitslücke befördert keine Solidarisierung, sondern zersetzt sie - eine gewerkschaftspolitisch gefährliche Entwicklung.

3. Der Arbeitskampf war kein "Schmusestreik". Die Urabstimmungen signalisierten hohe Kampfbereitschaft und im Unternehmerlager wollte man die Belastungsfähigkeit der IG Metall und der Belegschaften "testen". Solange die Drohung vor allem mit kalter Aussperrung wie ein Damoklesschwert über der Gewerkschaft hängt, ist ein klassischer Erzwingungsstreik ein unkalkulierbar hohes Risiko. Auch eine rot-grüne Bundesregierung ist offenkundig gewillt, dieses Risiko beizubehalten, als Waffe zur Pazifizierung der Gewerkschaften. Das Konzept des Flexi-Streiks wurde in diesem Jahr erstmals getestet. Der Vorteil: Dadurch, dass jeder Betrieb zumindest in der ersten Phase jeweils nur einen Tag bestreikt wird, wird eine erheblich größere Zahl von Betrieben und Beschäftigten in den Arbeitskampf einbezogen. Während der letzte Streik 1995 in Bayern in 22 Betrieben mit 24.000 Streikenden ausgefochten wurde, legten in diesem Jahr 210.000 Beschäftigte in über 120 Betrieben die Arbeit nieder. In Südwürttemberg war es der erste Streik seit 40 Jahren und mit Berlin-Brandenburg war ein Ostbezirk aktiv in die Auseinandersetzungen einbezogen. Es wurden also auf breiter Front neue Arbeitskampferfahrungen gesammelt. Der Nachteil: Der kollektive Widerstand, die kollektive Erfahrung von Solidarität auf der einen, von manifesten Interessengegensätzen auf der anderen Seite, auch die Erfahrung von Gegenmacht, die Selbstbewusstsein stärken hilft, findet im Flexi-Streik nur noch fragmentiert und sehr kurzweilig statt. Teilweise konnte man beobachten, dass sich Unternehmer auf die Logik eines Tagesstreiks eingelassen und den Betrieb für die begrenzte Dauer der Aktion geschlossen haben. Streikbrecher gab es in diesem Streik keine. Umgekehrt: Unter den Streikenden war die Stimmung durchaus verbreitet, noch den einen oder anderen Tag draufzulegen. Das erklärt zum Teil die Kritik, letztlich sei mehr drin gewesen. Streiks als Aktionen exemplarischen Lernens sind lebenswichtig für Gewerkschaften. Deshalb muss am Konzept des Flexi-Streiks weitergearbeitet werden - es muss ja auch nicht bei Tagesstreiks bleiben. Aber entscheidend kommt es darauf an, dass die Nachteile kurzzeitiger, flexibler Streiks durch längerfristig angelegte politische Aufklärungsarbeit ausgeglichen werden. Die "ökonomische Alphabetisierung", die ein zugespitzter Erzwingungsstreik gesellschaftlich leisten kann, muss durch gezielte öffentliche Überzeugungsarbeit und Aktionen herbeigeführt werden. Ganz wichtig ist die Thematisierung der Aussperrungen.

4. Der gemeinsame Entgeltrahmentarif für Arbeiter und Angestellte ist ein eindeutiger Erfolg der Tarifrunde 2002. Hier konnte die geradezu historische Blockadepolitik der Unternehmerverbände - die eine qualitative Tarifpolitik, wie sie die IG Metall mit der Tarifreform 2000 vorgeschlagen hatte, auf ihren Index der verhandlungspolitischen Tabus gesetzt hatten - aufgebrochen werden. Es geht um nicht weniger, als die überkommene Spaltung der abhängig Beschäftigten zu überwinden. Nach über zehnjährigen Verhandlungen - und gar über 20 Jahre, nachdem das Thema erstmals in Baden-Württemberg 1981 auf die Tagesordnung kam (Lohnrahmen-Süd) - ist der ERA-Abschluss ein Meilenstein. Wo ERA zu unmittelbaren Verbesserungen in Arbeiterbereichen führt, wird sich die teilweise vorhandene Skepsis im Zuge der Umsetzung legen. In den anderen Bereichen wird die IG Metall die durch ERA bedingten differenzierten Einkommenssteigerungen ausführlich erklären müsse, was aufgrund der komplizierten Materie nicht einfach ist. Strategisch ist ERA für die IG Metall von großer Bedeutung, weil es sich um ein Projekt zugunsten der Entwicklung industrieller Facharbeit handelt. Auch Retaylorisierungsstrategien in den Unternehmen werden wenig daran ändern, dass die unteren Tätigkeitsbereiche zumindest in der Metallindustrie (auch ein Erfolg von Sockellohnanhebungen und Höhergruppierungen, aber auch Folgen von Verlagerungen und Outsourcing) ausgedünnt werden. Mit ERA reagiert die IG Metall auf die Veränderungen in der Arbeitswelt mit einer Aufwertung der qualifizierten Arbeiterbereiche. Auf einem ganz anderen Blatt steht, welche weitergehenden Vorteile aus ERA gewerkschaftspolitisch gezogen werden können. Bislang haben auch die Organisationsentwicklungsprozesse der IG Metall keinen Weg gewiesen, wie die Organisationshürden zwischen den klassischen Arbeiterbereichen und dem überwiegenden "Rest" der Arbeitswelt überwunden werden können. Um ERA produktiv zu nutzen, muss daran, dass der Strukturwandel der Arbeitswelt nicht zur kontinuierlichen Schwächung der Gewerkschaften führt, weitergearbeitet werden. Befunde im Rahmen der Zukunftsdebatte wären dabei von Nutzen.

5. Bitter ist die arbeitszeitpolitische Dimension des Tarifabschlusses. Die lange Laufzeit des Tarifvertrages bis zum 31.12.2003 steht im Gegensatz zur Notwendigkeit, im kommenden Jahr die Arbeitszeiten im Osten den Westniveaus anzugleichen. Da die IG Metall mit dem Abschluss erst wieder im Jahre 2004 in der Lohnfrage arbeitskampffähig und eine separate reine Arbeitszeitrunde im Osten nicht vorstellbar ist, bleibt es bei der Faustformel von IGM-Bezirksleiter Hasso Düwel, in den neuen Bundesländern werde aufs Jahr berechnet ein Monat umsonst gearbeitet. Damit ist bereits im dritten Anlauf der Versuch gescheitert, den arbeitszeitpolitischen Graben zwischen West und Ost einzuebnen. Doch insgesamt ist in der arbeitszeitpolitischen Debatte der Wurm drin. Schon der Tarifabschluss des Jahres 2000 widersprach arbeitszeitpolitischen Handlungsanforderungen, da eine Koppelung der Altersteilzeit mit den Arbeitszeitregelungen vorgenommen wurde: Wenn man zum Ausgleich des immens wachsenden Leistungsdrucks und aus arbeitsmarktpolitischen Gründen die Arbeitszeit neu verteilen will, stellt man die Regelungen zur Altersteilzeit in Frage. Die IG Metall wäre gut beraten, die arbeitszeitpolitische Diskussion wieder aufzunehmen und intensiv zu führen.

6. Nach der Tarifrunde ist vor der Tarifrunde. Ertragsabhängige Entlohnung stand in diesem Jahr noch nicht auf der Tagesordnung - ein Erfolg der Linken in der IG Metall. In zwei Jahren soll das aber nach den Vorstellungen der maßgeblichen Betriebsräte in der Automobilindustrie der Fall sein. On top-Vereinbarungen, d.h. Aufschläge auf den Tariflohn bei guter Geschäftslage, waren innergewerkschaftlich nie strittig, da der Flächentarifvertrag immer nur Mindestbedingungen festlegen kann. Strittig ist, ob mit ertragsabhängiger Entlohnung ein Instrument geschaffen werden kann, nach oben eine optimalere Ausschöpfung der Verteilungsspielräume zu erreichen. Bei DaimlerChrysler z.B. werden übertarifliche Leistungen mit Tariferhöhungen verrechnet, VW verfolgt derzeit eine Politik der schrittweisen Annäherung an den Flächentarif, und schließlich Porsche: Noch vor wenigen Jahren wurden tiefrote Zahlen geschrieben. Schon die Grundannahme ist problematisch: die Annahme einer zunehmenden Polarisierung der gesamten Unternehmenslandschaft nach prosperierenden Unternehmen und Grenzanbietern. Empirisch konnte diese Vermutung bislang nicht belegt werden. Fraglich ist darüber hinaus, was das neue Instrument bringen soll, gibt es doch für Krisensituation längst zahlreiche Beschäftigungssicherungs-Vereinbarungen, und on top diverse übertarifliche Regelungen. Die generelle Tendenz ist, übertarifliche Regelungen abzubauen, indem sie mit Tariferhöhungen "verrechnet" werden. Diese negative Lohndrift wird durch Gewinnbeteiligung nicht gestoppt. Demgegenüber nimmt die Gefahr der weiteren Aufspaltung der Beschäftigten nach Wirtschaftsbereichen, Unternehmen, Betrieben und selbst Abteilungen zu und damit die Tendenz der fortschreitenden Verbetrieblichung (bzw. Verbetriebsrätlichung) der Tarifpolitik. Eine verstärkte Lohnspreizung nicht nur durch das politische Projekt der Ausweitung von Niedriglohnbereichen, sondern auch durch eine gewerkschaftliche Strategie ertragsabhängiger Entgeltdifferenzierung würde die bestehende Lohnstruktur erheblich verändern - mit voraussichtlich negativen (weil per Saldo kaufkraftmindernden und prozyklischen) Beschäftigungseffekten. Unter die Räder droht eine gesamtwirtschaftlich auf Umverteilung zielende Verteilungspolitik zu geraten.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus, Dieter Knauß ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Waiblingen, Ötto König ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall in Gevelsberg/Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall.