Embryonenforschung-Bundestag: Unentschieden

Am 30. Januar 2002 beschloß der Deutsche Bundestag den Import von embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) für öffentlich wie privat finanzierte Vorhaben grundsätzlich gesetzlich zu verbieten und ...

... nur ausnahmsweise und unter strengen Voraussetzungen zuzulassen (BT.-Drs. 14/8102). Unter anderem ist eine Stichtagregelung vorgesehen, wonach nur bereits bestehende ES-Zellen importiert werden dürfen, die bis zu einem bestimmten Stichtag ausschließlich aus Embryonen etabliert worden sind, die zur Herbeiführung einer Schwangerschaft extrakorporal erzeugt wurden, aber ohne Chance auf Transfer übrig geblieben sind.
Die Forschung mit ES-Zellen verspricht neue Perspektiven für einen erheblichen Erkenntnisgewinn und die Entwicklung neuer Therapien für schwere Krankheiten. Angesichts der Legitimität der damit verbundenen Forschungsziele ist Forschung mit ihnen sogar geboten, soweit die ES-Zellen pluripotent sind, dass heißt nicht das Potential zu einem ganzen Embryo besitzen. Die ethischen und rechtlichen Probleme liegen in der Gewinnung dieser Zellen aus extrakorporalen Embryonen im frühen Stadium. Denn der Embryo, der das Potential zur Entwicklung zum vollständigen Organismus besitzt, wird dabei nicht zur Fortpflanzung, sondern zu einem fremdnützigen Forschungszweck verwendet, sogar verbraucht. Das kann nur aus der Perspektive derjenigen Position vertretbar sein, die dem Embryo in vitro keinerlei oder nur eine deutlich abgestufte Schutzwürdigkeit zubilligt.
Von einem vollen Schutz der Menschenwürde und des Rechts auf Leben des menschlichen Embryos mit der Befruchtung hingegen ausgehend, verbietet das Embryonenschutzgesetz (ESchG) zwar jegliche nicht seiner Erhaltung dienende Verwendung und somit auch die Gewinnung von ES-Zellen aus ihm (§ 2 I). Grundsätzlich zulässig sind hingegen der Import von ES-Zellen sowie die Forschung mit importierten ES-Zellen. Vorausgesetzt, daß diese nicht totipotent sind, also nicht das Potential zur Entwicklung zum ganzen Organismus haben, unterliegt der Umgang mit ihnen im Prinzip nicht den strafrechtlichen Verboten von § 2 I ESchG. Daher erweist sich der Import von ES-Zellen aus dritten Staaten als der einzige Weg zu ihrer Beschaffung hierzulande.
Mit seiner Entscheidung erreicht der Bundestag folglich das forschungspolitisch wünschenswerte Minimalziel, die Weiterentwicklung der aussichtsreichen Forschung mit ES-Zellen im Inland. Zugleich trägt sie dem hohen nationalen Niveau des Embryonenschutzes insofern Rechnung, als sie durch die Stichtagsregelung dem Verbrauch weiterer Embryonen zur Stammzellengewinnung wegen der Nachfrage in Deutschland entgegenwirkt. Außerdem lehnt sie die Erzeugung von Embryonen eigens zu fortpflanzungsfremden Zwecken bzw. zu Forschungszwecken ab, indem sie die Inanspruchnahme von ES-Zellen nur aus bei In-vitro-Fertilisationen überzähligen Embryonen erlaubt.
Allerdings ist die Entscheidung des Bundestages dem grundsätzlichen Einwand eines rechtlichen Wertungswiderspruchs und einer ethischen "Doppelmoral" ausgesetzt. Denn sie erlaubt den Import von im Ausland gewonnenen ES-Zellen und die Forschung an ihnen, obwohl sie am Verbot ihrer Entnahme aus Embryonen in vitro im Inland nach § 2 I ESchG weiterhin festhält. Wenn eine Rechtsordnung jedoch die Verwendung von Embryonen zur Stammzellengewinnung als eine der Schutzwürdigkeit des Embryos widersprechende Handlungsweise im eigenen Land verbietet, müsste sie konsequenterweise auch den Import von anderswo durch Embryonenverbrauch gewonnenen ES-Zellen untersagen. Dies war auch der Vorschlag des zweiten zur Abstimmung vorgelegten Antrags (BT.-Drs. 14/8101) und die Mehrheitsentscheidung der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der Medizin" des Bundestages (BT.-Drs. 14/7546). Das hohe Schutzniveau für Embryonen im Inland darf nicht umgangen werden, indem auf die Forschung mit importierten ES-Zellen zurückgegriffen wird, welche im Ausland nur unter Verletzung dieses Schutzes entstanden sind.
Der Import von ES-Zellen ist nur dann ethisch vertretbar, wenn auch ihre Gewinnung aus menschlichen Embryonen für zulässig gehalten wird. Daher sollte dieser als Zwischenschritt zu einer begrenzten Freigabe der Verwendung von Embryonen zu Forschungszwecken bzw. zur Stammzellengewinnung auch in Deutschland zugelassen werden, wie der andere der Plenardebatte vorgelegte Antrag (Bt.-Drs. 14/8103) und die Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Forschung mit menschlichen Stammzellen vom 3. Mai 2001 (Punkte 8-9) fordern. Damit hängt zwangsläufig eine behutsame Öffnung des ESchG (§ 2 I) zur Embryonenforschung zusammen.
Eine solche Gesetzesänderung setzt jedoch eine Überprüfung der umstrittenen Grundfrage voraus, ob dem embryonalen menschlichen Leben bereits mit der Befruchtung oder erst mit der Nidation voller grundrechtlicher Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG zukommt und welche Konsequenzen für seinen Anspruch auf Lebensschutz nach Art. 2 Abs. 2 GG daraus zu ziehen sind. Diesbezüglich sollte geklärt werden, ob und durch welche Gründe der Schutz menschlichen Lebens in seinen frühesten Stadien relativierbar ist. Diesen grundsätzlichen Fragen nach dem Beginn und der Reichweite der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens und der prinzipiellen Zulässigkeit der Embryonenforschung ist der Bundestag letztlich ausgewichen und hat sie künftigen Debatten überlassen.