Ernst Bloch oder die Kopernikanische Wende im Hörsaal 40

Unter dem Einfluß der sich in die Köpfe erstreckenden Parteidiktatur verhinderten die machthabenden Marxisten jede Fortentwicklung ihrer Theorie, es war, als würde etwa die biologische ...

Unter dem Einfluß der sich in die Köpfe erstreckenden Parteidiktatur verhinderten die machthabenden Marxisten jede Fortentwicklung ihrer Theorie, es war, als würde etwa die biologische Entwicklungslehre auf den Wortlaut von Darwins Sätzen beschränkt, und wer weiter denkt, wird zum Feind erklärt. Das Klassiker-Zitat hat ewigen Bestand, die Interpretation ist Sache der Regierenden und ihrer Schriftgelehrten.

Wolfgang Fritz Haug, Professor an der Freien Universität Berlin und Marxist dazu, philologisierte bei seiner Abschiedsvorlesung im Februar 2001 Marxens 11. Feuerbach-These, die das Foyer der ebenfalls Berliner Humboldt-Universität schmückt oder auch, je nach Unverstand, verunstaltet, denn es steht zu lesen: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern!" Semikolon und Ausrufezeichen sind Erfindungen, die als unzulässiges Beiwerk zurückzuweisen leicht fällt, während das eingefügte "aber" schwerer wiegt, denn es ist nicht Zutat von Ideologen, sondern oszillierende Verdeutlichung von Friedrich Engels. Der Marxsche Urtext lautete kurzum: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern." Haug moniert die gebräuchliche, wo nicht mißbräuchliche Entstellung des Zitats, wobei die Modernisierung des "kömmt" ins "kommt" marginal bleibt, die Einfügung des "aber" jedoch den Dollpunkt bezeichnet. Haugs fairer Verweis auf Ernst Bloch führt ins Zentrum marxistischer Kontroversen. Anfangs hatte Bloch die laxe Formulierung von Engels übernommen, bis er die Urfassung entdeckte, die Philosophie (Theorie) und Praxis (Veränderung) nicht durch das eingefügte "aber" soweit trennt, daß Parteien, ihre Zentralmonaden, endlich Diktatoren schalten und walten können, bis der Marxismus in sein Gegenteil entfremdet.

Es war denn auch der Trotzkist Ernest Mandel, der wie Bloch in den 11 Feuerbach-Thesen "die eigentliche Geburtsurkunde des Marxismus " sah und die neuen Blochschen Überlegungen dankbar aufnahm.

Erst jetzt, also ebenso verspätet wie es das Privileg der Marxisten ist, die laut Wolfgang Harich gar nicht mehr anders als verspätet leben können, erst jetzt wurde einsichtig, weshalb in der Messestadt der einstmals hier einwohnende Ernst Bloch Unperson ist, nichts als ein toter Hund, womit die Wendegewinner nach 1989 fortsetzen, was die Vorwendegewinner von 1957 bis 1989 praktizierten. Bloch ist von ihnen als Nicht-Marxist, ja gar als Marx-Feind mehr als drei Jahrzehnte lang zugleich beschimpft und beschwiegen worden. Ab 1989 wurde er wegen unheilbarem Marxismus wiederum vergessen gemacht, so ändern sich die Zeiten, indem sie sich nicht ändern. Ich besichtigte vor einigen Jahren das vormalige Blochsche Direktorenzimmer im vormaligen Philosophischen Institut zu Leipzig im Peterssteinweg. Verfaulte Dielen, Mäusefraß und herausgerissene Installationen bezeugten jene Haltung, die Hegel dem "geistigen" Tierreich zurechnete. Nun ja, die Leipziger hatten auch ihren Johann Sebastian Bach lange Zeit dem schmählichsten Vergessen anheimgegeben, bevor sie begriffen, daß man sich in seinem Glanze sonnen kann. Bloch ist inzwischen in seine Geburtsstadt Ludwigshafen heimgeholt worden, wo Kapital offenbar nicht so neudeutsch dumpf und bar jeder Tradition dahinvegetiert wie in zurückeroberten Ländereien. Bloch, ein exilierter Jude wie Marx selbst, dazu Marxist, teilt das Schicksal aller revolutionären deutschen Juden als doppelt und dreifach Ausgestoßene.

Wer sich genauer informieren will, den aufwendigen Weg der Bloch- Lektüre jedoch scheut, dem sei der Bloch-Almanach, 10. Folge von 1990 empfohlen, herausgegeben von der Stadt Ludwigshafen. Der Fall Marx-Feuerbach-Bloch wird hier erstaunlich kenntnisreich abgehandelt, eingerahmt freilich von einer modrigen Frechheit, die auf den Namen Joachim C. Fest hört, und den Erinnerungen der frühen Bloch-Adeptin Ruth Römer, die als sächsische Kommunistin arglos begann und als graue Nihilistin in Bielefeld verärgert endete, wobei sie sich nicht scheut, selbst Rudi Dutschke eins zu versetzen. Der Mainstream fordert eben seine Opfer. Trauer muß Klio, die Göttin der Geschichte tragen.

Der alte Konflikt, der sich im Streit um die Marxschen Feuerbach- Thesen entwickelte, insonderheit der elften, ist bisher weder beigelegt noch zufriedenstellend aufgeklärt worden. Derart läuft die Einfügung des "aber" darauf hinaus, die philosophische Interpretation der Welt zu marginalisieren, wo nicht ganz abzusagen und einzig ihre "Veränderung" zu akzeptieren. Der Moskauer Orthodoxie zufolge führte der revolutionäre Weg von Marx/Engels zu Lenin und Trotzki sowie zur Nachfolge Stalins, der Trotzki tilgte und sich an seine Stelle setzte.

Die Blochsche List, in der dieser ganze Skandal kulminierte, bestand in der Entheiligung des Dogmas. Erstens blieb die Veränderung der Welt nicht identisch mit dem Weg der Sowjetunion, zweitens erhielt die Interpretation wieder ihre ursprünglichen philosophischen Rechte und die Usurpation durch die jeweilige Partei- und Staatsspitze verlor ihre angemaßte Legitimität. Ziehen wir zur Verifikation die Haltung Blochs zu Nietzsche heran, können wir bereits auf den frühen, ersten Text Blochs von 1906 zurückgreifen, wo das Thema in klassischer Plausibilität vorformuliert wurde: "Nietzsche ist den geistigen Opfertod für unsere Zeit gestorben. Er hat ein völlig Neues gesucht Â… So hat Nietzsche immer nur präludiert Â… Das letzte Wort wurde nie gesprochen."

Bloch feiert Nietzsche als Denker der "Auflehnung des Subjekts" und der "Bejahung des Lebens", die "lebenbergend" sei, als Gründer einer "neuen Philosophie der Kultur Â…" Nietzsches Fragen komme Bedeutung zu, seinen unfertigen Antworten jedoch nicht.

Womit die Schwäche marxistischer Dogmatik gekennzeichnet ist - die Unkenntnis, ja Aussperrung des Subjektiven, des Subjekts schlechthin zum Zwecke der Verhinderung seiner Autonomie. Man blicke auf die Sowjetnachfolgestaaten, ihre Irrealismen und Atavismen, bis hin zu den Richtung Zar zurückreitenden Kosaken und den lieben Babuschkas, die in Scharen demütig die Kirchen füllen und stelle sich vor, das waren einmal Komsomolzen, die SU hatte ein Ministerium für Atheismus. Jetzt beten junge, gut ausgebildete Ikonen-Restaurateurinnen inniglich und gemeinsam, bevor sie mit feinem Pinsel die Farben der kostbaren Heiligen-Figuren auffrischen. Wohin ist alle aufklärerische Propaganda und Agitation? Mit dem Satz, das Sein bestimme das Bewußtsein, gehen die Ideologen noch heute hausieren, und kein Gedanke daran, daß es Unbewußtsein gibt und noch manches andere. Da saß von 1949 bis 1961 ein Denker mitten in Leipzig, und als er sagte, es gebe "Unabgegoltenes und Noch-nicht-Bewußtes" in den Köpfen, der Mensch sei mehr als ein Echo aufs Parteilehrjahr, ergriffen sie ihre Chance keineswegs, begriffen noch nicht einmal, daß es eine Chance war. Bis heute kennen sie nur "Sein und Bewußtsein". Was ihnen Marxisten von Trotzki bis Bloch dazu erläuterten, konnte nicht zum einen Ohr hinein und zum anderen hinausgehen, es ging prinzipiell nicht hinein. Ihre vordersten Pioniere sind gerade mal bei Gramsci angelangt und entdecken die kulturelle Hegemonie der Kultur, nachdem ihnen die staatliche Hegemonie abhanden kam.

Wie ich als Ausgeschlossener erst verspätet wahrnehmen konnte, versuchten die Nachfolger Blochs im Philosophischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, anhand der 11. Feuerbach-These der inneren Reform auch in den folgenden Jahren noch auf die Sprünge zu helfen. Das ist ehrenwert und so nutz- und folgenlos geblieben wie Blochs Lehrtätigkeit in dieser Stadt. Die Partei in ihrer berechtigten Angst vor dem Machtverlust hatte ihr Wägelchen an den sowjetischen Panzer gekettet. Als Gorbatschow abkoppelte, blieb der Parteikarren im Sumpf stecken, den Dogmatikern ging nie auf, daß nur die objektive Analyse zur Theorie, ergo "Interpretation" führt, mithin bereits Teil von Praxis ist. Und Praxis leitet in die Irre, hat sie nicht Real-Analyse zur Grundlage. Den Hauptkategorien Interpretation und Praxis waren überholte Definitionen unterlegt worden. Eine Fortführung Marxscher Begrifflichkeiten hatte, weil bei Strafe verboten, nicht stattgefunden. Reichhaltiges Material dafür ist bei Trotzki und Bloch nachzulesen, welche Lektüre man sich untergangssüchtig strikt untersagt hatte. Alle Großreiche der Vergangenheit hatten mit Hilfe totaler, auch die Köpfe umfassender Gewalt ihre Macht auszubauen und zu erhalten gesucht. Nach dem letzten Exempel, das im Untergang der Götter samt Gesinde endete, versuchen es die USA. Aller Voraussicht nach dürfte dies der letzte Turmbau von Babel werden. Danach herrscht, falls der revolutionäre Wärmestrom versiegt, universaler Kältetod. Für ihn gilt ein Gesetz, das Orwell für die Parteien formulierte: "Je mächtiger die Partei ist Â… desto unerbittlicher die Gewaltherrschaft." Der Kältetod ist das letzte Gesetz, das von der Macht erlassen wird.

Im Bloch-Almanach 3/1983 gibt Rüdiger Schmidt eine kurze Einführung zu Blochs Nietzsche-Artikel und seinen späteren Ausführungen im Werk. Auf "Tendenz, Latenz, Utopie" bezogen, stellt Schmidt Blochs Objekt-Subjekt-Dialektik dar, wobei der Objekthaftigkeit des Marxismus die menschliche Subjekthaftigkeit bis zum "innerlich erlebten Prozeß" beigefügt werden soll. Was in der politischen Sprache Beeinflussung per Propaganda und Agitation ist, damit zugleich Einflußnahme von oben nach unten, wird als illegitim bewertet, das Individuum der Selbstbefreiung überantwortet und so die Autonomie des Subjekts ermöglicht.

Welche Erweiterungen des Marxismus damit gegeben waren, welche stimulierenden Folgen es im revolutionären Prozeß der Menschwerdung nach sich ziehen könnte, durfte in Leipzig nicht gedacht werden. Selbst ein kluger Kopf wie der jugendlich-oppositionelle Wolfgang Harich schwenkte von der Verehrung Nietzsches unter dem Einfluß Georg LukácsÂ’ um zur radikalen Verwerfung des Philosophen Nietzsche, statt sich der prozeßhaften Genauigkeit Blochs zu bedienen, nach dessen Urteil Nietzsche radikal fragte, jedoch nicht ebenso antwortete, welche Erkenntnis, nebenbei bemerkt, nazistische Auswertungen von vornherein verriegelt hätte, wären die Nietzscheaner nicht mit den Deutscheanern gegangen. Die ungeheure revolutionäre Sprengkraft der von Bloch angezielten neuen Theorie und Praxis blieb verborgen, obwohl es einer Handvoll aufmerksamer Kopfmenschen gelang, den Dollpunkt wenigstens anzudeuten. Schon die russische Oktoberrevolution, die das Subjekt anfangs befreite, unterdrückte es bereits kurze Zeit darauf mit aller Härte, wogegen sich Blochs Erweckungsversuch des Subjekts richtete, diese Ermutigung zu einer zweiten Revolution, durch die der Mensch Herr seiner Möglichkeiten würde. Das kühne Experiment endete im Osten mit Repression und im Westen mit dem Desinteresse, das dem Exilanten Bloch in Form lauer und lässiger Liberalität entgegengebracht wurde. Die Entscheidung aber fiel im Hörsaal 40 der Leipziger Universität, als ein kurzes Jahr hindurch, vom Frühlingstauwetter 1956 bis zum letzten Tag vom Katheder herab ohne Sklavensprache philosophiert wurde.

Der große Raum füllte sich mit Ahnungen. Für wenige Monate schien greifbar, wo nicht begreifbar, daß Sozialismus möglich werde. Es endete mit Lehrverbot für Ernst Bloch. Fortan war dieser Hörsaal diskreditiert. Ein Nachhall sozialistischer Freiheiten hing im Raum. Der Abbruch des Augusteum mit Hörsaal 40 schadete der verordneten Macht mehr als der Abriß des benachbarten religiösen Heiligtums. Für den Wiederaufbau der Paulinerkirche wird gesammelt. Eine Wiedergeburt von Hörsaal 40 steht nicht zu erwarten. Die Luft zum freien Atmen fehlt.

Der Abriß des Hörsaal 40 in Leipzig ist der wahre symbolische Exzeß, denn an diesem Ort war Ende 1956 Blochs Denken blockiert worden, das mit dem Nietzsche-Aufsatz von 1906 begonnen hatte, wie Rüdiger Schmidt feststellte. Tatsächlich ist die Kategorie des Noch-nicht-Bewußten in der Bejahung Nietzsches als einem Fragenden und der Ablehnung als einem falsch Antwortenden enthalten. Die Gedankenkette führt von der Religion über die Reflexion zur eingeforderten Veränderung. Das individuelle Modell eines Saulus, sich in Paulus verwandelnd, soll praktikabel werden. An die Stelle Gottes, der dem Sünder Saulus zuredet, sich zu ändern, hat die Anwendung der neuen, also anderen Lebensmöglichkeiten zu treten. Statt der theologischen, religiösen, biblischen Erweckungen sind Entdeckungen gefragt, welche Einsicht revolutionär ist und in der Gesellschaft direkt die Machtfrage stellt. Die Folgen sind traditionell, wir wissen es, Niederlage und Vernichtung der Revolutionäre, weil die Kräfte des Vergangenen das Künftige dominieren. Wohlmeinende spätere Historiker nennen den geschlagenen Revolutionär einen Zufrühgekommenen. Er kam nicht zu früh, die Gegner herrschten zu spät. Dies ist der tiefere Grund des ewigen Konflikts um die 11. Feuerbach-These und ihre durch Bloch weitergetriebene Interpretation. Hier liegt der Angelpunkt seiner Philosophie. Hier entscheidet sich die Auseinandersetzung mit den Kräften, die Zukunft als lediglich verlängerte Vergangenheit verstehen und die Entdeckung bisher verbotener und verriegelter Möglichkeiten verneinen, bekämpfen, bestrafen, solange sie die Macht dazu besitzen. Dies ist auch die Ursache, weshalb die neue Idee des Noch-nicht im Osten verfolgt und im Westen verleugnet wurde. Bloch: "Â… jede Beurteilung Nietzsches muß notwendig unrichtig sein, die nicht die Unfertigkeit seines Denkens begreift.." Die Unfertigkeit eigenen Denkens einzugestehen, ist heute Denkern wie Politikern verboten. Sie würden nicht akzeptiert, nicht gewählt, nicht für voll genommen. So mäandern sie dahin. Die 11. Feuerbach-These enthält die ganze Revolutionsfrage, und die Antwort darauf wurde in Ost wie West verhindert. Nur begriff man im Osten die Gefahr einer Antwort, die anders lautet als die Macht es will, während im Westen schon die Frage nicht verstanden wird. Wenn es darauf ankommt, die Welt zu verändern und die Veränderung nach Art der Sowjetunion mit deren Untergang endete, ist möglicherweise nur dieses sowjetische Modell falsch gewesen, vielleicht aber auch die vorausgegangene zugrundeliegende Interpretation - also Reflexion. Ist nur das Sowjetmodell Ursache des Mißlingens, wäre es mit Trotzki als Alternative möglicherweise besser gelungen. War aber bereits die Interpretation der Welt falsch, liegt der Denkfehler schon bei Marx.

Angenommen, seine Analyse des Kapitals stimmt, wofür einiges spricht, dann kann jedoch seine Revolutionstheorie durchaus fehlerhaft sein, vielleicht historisch überholt, vielleicht auch zu geschichtsoptimistisch gedacht. Erstaunlicherweise erörtern die tüchtigen marxistischen Intellektuellen diese beiden Grundfragen wie auf Verabredung nicht mal im Ansatz. Es ist wie der Abbruch des Hörsaal 40 in Leipzig. Vorbei. Ersatzweise soll, wie das Hohenzollern- Schloß zu Berlin, die Universitätskirche wieder errichtet werden, als ob Predigten hülfen, wo der geschärfte Gedanke verboten wurde und selbst die Erinnerung daran noch ausgelöscht zu bleiben hat.

Um das blockierte, von der Sowjetmacht dogmatisierte Marxsche Denken aufzubrechen, die alten Begriffe hegelianisch zu verflüssigen und die erstarrten Kategorien zu entgrenzen, ist Blochs Einschätzung Nietzsches in Beziehung zu setzen mit einer Beurteilung Marxscher Philosophie. Hat auch er vielleicht die richtigen Fragen gestellt, zum Kapital die richtigen Auskünfte gegeben, mit seiner Revolutionstheorie jedoch die falschen Antworten? Es bedürfte, soll die Welt nicht am globalisierenden Kapital kaputtgehen, wohl einer anderen Revolution. Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten benötigen die Energien eines, mit Bloch gesprochen "revolutionären Wärmestroms", der als Selbstkorrektur der Linken den Rückbezug auf Marx und Nietzsche enthalten müßte. Blochs Noch-nicht birgt dann den Gewinn jener Freiheit, von der Marx in der "Heiligen Familie" noch resigniert feststellte: "Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tage ihrer Beerdigung." Vom Frühjahrs-Tauwetter bis zum blutigen ungarischen Oktober des Jahres 1956 sprach Ernst Bloch im Hörsaal 40 der Leipziger Karl-Marx-Universität offen und ungeschützt als Philosoph. Vorher hatte er nur mit kritischen Anmerkungen gewürzte Philosophiegeschichte gelehrt, jetzt setzte es eine halbjährige sozialistische Freiheitslektion. Wer das an diesem Ort vernahm, vergaß es nie, und wenn es ihn auch ins Zuchthaus, Exil, Elend oder in unerwartete glanzvolle Karrieren verschlug. Der junge Marx hatte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts nicht ahnen können, welch eine dogmatisierende Verballhornung seine 11. Feuerbach- These erfahren würde, wenn eine Staatsmacht nicht die neuen Ideen, sondern ihre Ideologisierung zur Pflicht erhöbe. 1956 durfte ein Philosoph für die eminente Spanne von sechs Monaten mitten in Leipzig lehren, daß die 11. These nichts Geringeres als eine Kopernikanische Wende der Moderne erforderte - im aufrechten Gang aus der Befehlsgesellschaft in die Entscheidungsfreiheit.

Es wurde aber konservativ und reaktionär entschieden. Die Macht programmierte damit exakt das, was sie um jeden Preis zu verhindern suchte - ihr Ende.

Gerhard Zwerenz - Jg. 1925; Schriftsteller, 1952 Philosophiestudium in Leipzig bei Ernst Bloch, 1957 Übersiedlung in die BRD, von 1994 bis 1998 mit PDS-Mandat Mitglied des Deutschen Bundestages; Werke unter anderem: "Kopf und Bauch" (1971), "Der Widerspruch. Autobiographischer Bericht" (1974/1991), "Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland" (1986); zuletzt in "UTOPIE kreativ": "Das Trotzki-Tabu" (Nr. 118, August 2002)