Brief an Gerhard Schröder

in (01.02.2002)

Lieber Gerd, dieser Tage habe ich mich an einen Brief von Dir erinnert, geschrieben nicht lange nachdem Du niedersächsischer Ministerpräsident geworden warst. Du batest mich damals,

... Dich bei Deiner Regierungstätigkeit mit gutem Rat zu begleiten.
Nun weiß ich mich als Journalist seit jeher der Öffentlichkeit verpflichtet, das verträgt sich nicht mit geheimrätlichem Wirken. Außerdem hatte ich schon damals den starken Verdacht, daß Du Zielen zustrebtest, die mich wenig lockten. Wie hätte ich Dir da raten sollen? Und keinesfalls wollte ich mich einbinden lassen in eine Politik, von der ich wenig Erfreuliches erwartete. Guten Rat konnte ich also nur in einer Form geben: als öffentliche Kritik.
Unsere Beziehung - die Du anderen gegenüber zeitweilig als Freundschaft bezeichnetest - endete, als Du dem Asylrecht den entscheidenden Stoß versetzt hast. Sie war am intensivsten gewesen, als Du Dich als Jungsozialist mit autoritären Tendenzen der SPD-Führung - zum Beispiel mit der Berufsverbotepolitik, die Willy Brandt vor 30 Jahren einführte - angelegt und dann gegen die in Hannover und Bonn regierenden Christdemokraten opponiert hast. Im Verein mit den aufstrebenden Grünen gelang es, hauptsächlich durch Herstellung von Öffentlichkeit, manche Gefahren abzuwehren. Aber was Ernst Albrecht, durch starke Opposition gehindert, als niedersächsischer Ministerpräsident in seinen letzten Amtsjahren nicht mehr durchzusetzen vermochte, das hast Du dann als sein Nachfolger durchgesetzt. Und das gleiche beobachte ich seit mehr als drei Jahren in der Bundespolitik: Ich sehne mich fast nach Kohl zurück, nicht aus Sympathie für ihn, sondern weil er sich als Kanzler einer starken Opposition gegenüber sah, auf die er Rücksicht nehmen mußte. Kaum warst Du zu seinem Nachfolger gewählt, trafst Du die schlimmste Deiner Entscheidungen: für den Bombenkrieg gegen Jugoslawien - also für eine Politik, die über Leichen geht. Daß die öffentlichen Begründungen für diesen Krieg erlogen waren, weißt Du mindenstens so gut wie ich. Ohne deutsche Zustimmung wäre der Krieg kaum möglich gewesen. Tausende Menschen wurden Opfer der Bomben - in einem Land, das im selben Jahrhundert schon zweimal von Deutschland angegriffen worden war. Fast die gesamte Industrie und große Teile der Infrastruktur des Landes wurden zerstört. Unter den Umweltschäden werden dort noch künftige Generationen zu leiden haben. Die 1975 in Helsinki vereinbarte Europäische Friedensordnung, das in der UNO geschaffene Völkerrecht, auch das Kriegsvölkerrecht, schwer erkämpfter zivilisatorischer Fortschritt, wurden von Dir - denn Du persönlich bist dafür verantwortlich - wie Makulatur behandelt. Und nun sind deutsche Soldaten im Kosovo, in Mazedonien, vor Somalia, in Afghanistan im Einsatz. Die deutsche Außenpolitik militarisiert sich im Geschwindmarsch. Große Rüstungsprojekte zehren an den Staatsfinanzen.
Das alles hattest Du nicht angekündigt, sondern: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Jetzt haben wir, offiziell registriert, 4,3 Millionen Erwerbslose, in Wahrheit noch viel mehr. Die Preise steigen, die Massenkaufkraft sinkt, der Osten Deutschlands verarmt weiter, so daß immer mehr junge Menschen abwandern, das wirtschaftliche Wachstum nähert sich dem Nullpunkt (aber nicht weil es aus ökologischen Gründen beschränkt worden wäre), das Haushaltsdefizit vergrößert sich, das öffentliche Bildungswesen verludert, so daß sich für Menschen Deiner Herkunft die Chancen zusehends verschlechtern, das solidarische Rentensystem, das seit Bismarck Bestand hatte, ist schwer angeschlagen, im Gesundheitswesen setzt sich die Zwei-Klassen-Medizin durch, und die Pharma-Industrie kann einen Gewinnrekord nach dem anderen feiern. Privatisierung ist zur Generallinie Deiner Politik geworden, Verschleuderung des Gemeineigentums, Enteignung und Entrechtung des Volkes. Zwar haben wir jetzt einen Staatsminister für Kultur, aber mehr und mehr Kulturstätten werden geschlossen. Polizei und Geheimdienste erhalten neue Befugnisse.
Vor der Bundestagswahl 1998 hat Oskar Negt ein kleines Buch vorgelegt: "Warum SPD? 7 Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel". Ich habe die Kriterien, die er damit für Dein Wirken als Kanzler (und als Vorsitzender der Hauptregierungspartei) aufgestellt hat, eben noch einmal nachgelesen: Vor allen sieben hast Du versagt.
Immer bestrebt, der CDU/CSU jedes mögliche Argument gegen Dich zu nehmen, hast Du es dem Publikum inzwischen nahezu unmöglich gemacht, noch Unterschiede zwischen ihrer und Deiner Politik wahrzunehmen. Auch wenn sich die Werbeagenturen für den Wahlkampf einige Gags einfallen lassen, werden sie damit die gähnende politische Verödung nicht überspielen können. Nichts beunruhigt mich im letzten Jahr Deiner Wahlperiode so sehr wie die Entpolitisierung der Öffentlichkeit (auch als Folge der weitgehend gelungenen Einbindung der Gewerkschaften in Deine "Bündnis"-Klausuren), die schleichende Entdemokratisierung, die zunehmenden autoritären Tendenzen, wie sie sich z.B. in der Aushebelung des Demonstrationsrechts (nicht nur am vergangenen Wochenende in München, auch vorher in Gorleben) oder auch in Deinen "Chefsache"- oder "Basta"-Parolen ausdrücken.
Ich erinnere mich an böse Worten und Taten Deines Herausforderers Stoiber. Um so mehr erschrecke ich, wenn ich lese, daß kluge Analytiker keine wesentlich andere Politik erwarten, falls er im Herbst Kanzler werden sollte. Und das liegt nicht daran, daß die CSU etwa nach links gerückt wäre, sondern daß Du die von Dir geführte Regierung und die von Dir geführte Partei immer weiter nach rechts geführt hast.
Taktisch hat Stoiber Dir gegenüber gewiß manche Nachteile (u.a. den Makel der CSU als Regionalpartei), aber er hat auch Vorteile: Er kann frischer, frecher, unbelasteter auftreten; er will ja erst Kanzler werden. Ich vermute, daß er es sich leisten könnte, gegenüber den USA und gelegentlich auch gegenüber manchen Wünschen des Großkapitals etwas selbstbewußter aufzutreten als Du. Bei Konservativen regen sich merklich Kräfte, die wieder auf Pflege des Gemeinwesens, auf Ausbau öffentlicher Infrastruktur bedacht sind, denn nicht geringe Teile der Unternehmerschaft, was immer auch ihre Verbandsfunktionäre daherschwadronieren, brauchen den Staat - nicht zu schlank.
Aber gewiß gibt es auch starke Kapitalfraktionen, die kühler kalkulierenden vielleicht, die auf Dich setzen, weil es für sie mit Dir am bequemsten ist - jedenfalls solange es Dir gelingt, die Gewerkschaften ruhig zu halten.
Nein, auch zum Schluß meines Briefes gebe ich Dir keinen Rat. Ich stelle nur eine Frage: Du wolltest unbedingt Kanzler werden - wann reicht es Dir? Als ich zu Neujahr Deine hohle Rede hörte, als ich Dich da in der Leere des Treppenhauses sitzen sah, als ich Dein leeres Gesicht sah, da kam mir nur diese Frage: Wann reicht es Dir?
Mit guten Wünschen grüßt Dich
Eckart Spoo