Zeit für Taten?

Die Christdemokraten wollen mit ihrem Kanzlerkandidaten Stoiber den rot-grünen "Spuk" in der Berliner Republik beenden. "Das rot-grüne Experiment ist gescheitert, es darf kein ...

... rot-rotes daraus werden." Das Erstaunliche an diesem proklamierten Machtwechsel: Stoiber und sein "Kompetenz-Team" wollen im Schlafwagen an die Schalthebel der Macht zurück.
Abgesehen von Angriffen auf das noch handelnde politische Personal, vermeiden die Wahlkämpfer der Union bislang jede politische Zuspitzung. Vordergründig scheint die Lektion gelernt, die 1998 zur Abwahl der schwarz-gelben Koalition geführt hatte. Die eindeutige Orientierung an den Interessen des Kapitals und der Vermögensbesitzer hatte damals die soziale Balance verletzt und erhebliche Stimmen gekostet. In der Endphase des Wahlkampfes proklamiert Stoiber: "Wir werden die notwendige Erneuerung Deutschlands mit den Menschen und nicht gegen sie durchführen. Das ist das Markenzeichen von CDU und CSU. Wir wissen: Wir dürfen die Reformbereitschaft der Menschen nicht überfordern. Die Arbeitnehmer und ihre Familien erwarten zu Recht auch Sicherheit. Deshalb wollen wir keine amerikanischen ›hire and fire‹-Verhältnisse in Deutschland."

Stoiber weist die weitreichenden Forderungen nach umfassender Flexibilisierung und massivem Sozialabbau zurück, die von den Unternehmerverbänden und Interessenvertretern der Vermögensbesitzer erhoben werden. Die Leistungsbereitschaft der "schweigenden Mehrheit" - von der Krankenschwester bis zum Unternehmer - soll wieder zum Zuge kommen und die sozialen Abstände wiederhergestellt werden: Die Bezieher von Sozialeinkommen erhalten weniger als Geringverdiener; noch besser dastehen sollen die Normalverdiener; und der Mittelstand wird zum Zentrum der Wirtschaftspolitik, womit Kapitalgesellschaften und Aktionäre auf ihre Plätze verweisen werden.
Größere Probleme bei der Wiederherstellung der Proportionen bei Einkommen und Vermögen sieht die Union nicht. Vermutlich übersieht ein größerer Teil der Wähler nicht, was die Zielsetzung 3 X 40 praktisch bedeutet: Die Senkung des Spitzensteuersatzes, der Staatsquote und der Sozialversicherungsbeiträge auf unter 40% geht letztlich zu Lasten der kleinen Leute und der gesellschaftlichen Wertschöpfung.

Der als Superminister einer schwarz-gelben Koalition vorgesehene Lothar Späth unterstreicht diese Stoibersche Taktik: "Man kommt nie weit, wenn man den Leuten sagt: Ich komme morgen und hau Dir eine runter und will dann mit Dir reden. Da muss man in der Politik bescheuert sein, wenn man den Gewerkschaften gleich sagt: Mit Euch fang ich den ersten Krach an... Es bringt doch nichts, jetzt mit den Folterwerkzeugen durch die Lande zu ziehen... Die Leute wählen mich, wenn sie mir zutrauen, dass ich das kann. Aber nicht, weil sie mein 100-Tage-Programm lesen." Mit dieser leider realistischen Einstellung wird der nächste Wahlbetrug vorbereitet - die Bürgerlichen reden nicht vom Foltern, wollen die Mehrheit für Veränderung gewinnen, aber die Beschädigungen des sozialen Status und der Würde der Lohnabhängigen und Sozialeinkommensbezieher werden mit dem Tag der Inthronisierung der neuen Regierung folgen. Die Union grenzt sich von "amerikanischen Verhältnissen" ab und unterstellt, dass die Senkungen bei Steuer- und Sozialabgaben sowie die Verringerung von Sozialtransfers die Konjunktur wieder auf Touren bringt. Mit den Effekten des höheren Wirtschaftswachstums will man dann die sozialen Grausamkeiten vergessen machen.

Dass es die zuhauf geben wird, lässt sich selbst noch aus dem so genannten "Regierungsprogramm" entnehmen: Immerhin gehört zur "Entriegelung" des Arbeitsmarktes die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die schrittweise Absenkung des Arbeitslosengeldes, die Neuregelung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, die Erweiterung von Zeitarbeit und befristeten Beschäftigungsverhältnissen sowie die Einführung eines Kombilohns - alles Maßnahmen zur Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigung. Vor allem bei den privaten Haushalten rechnen die Unionsparteien mit einem Bedarf, den sie mit 8 Mio. prognostizierten Jobs propagandistisch aufblähen, der aber zeigt, dass es in der Perspektive um eine weitgehende Umwälzung der gesamten Arbeitsmarkt- und Sozialstrukturen geht. Damit ihnen die Gewerkschaften nicht in die Quere kommen, soll - zunächst für ältere ArbeitnehmerInnen - der Kündigungsschutz durchlöchert und für alle der Tarifvorrang durch Änderung des so genannten Günstigkeitsprinzips ausgehebelt werden. Doch wie sagt Lothar Späth: Darüber redet man nicht, das wird man tun.

In die Schützengräben geht die Union bei einem anderen Thema: der Einwanderung und der Integration von Ausländern. Auf absehbare Zeit sei die Integrationsfähigkeit erschöpft, "Deutschland braucht eine Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung." Dass die Union mit Blick auf die europäischen Nachbarländer die rechtspopulistischen Stimmungen mit einer massiven "das-Boot-ist-voll"-Kampagne aufzugreifen versucht, ist eindeutig. Unmittelbar nachdem Bundespräsident Rau das nach Turbulenzen im Bundesrat verabschiedete Zuwanderungsgesetz unterzeichnet hatte, machte sich die Union auf den Marsch nach Karlsruhe - und, weit wichtiger, an die deutschen Stammtische.

Dabei war Europa bereits unter einer Mehrheit sozialdemokratisch geführter Regierungen auf dem besten Weg, zur Festung gegen Immigranten ausgebaut zu werden. Nach den Wahlerfolgen der Rechtspopulisten werden die Initiativen verstärkt, wobei es weniger um Gesetzesverschärfungen geht, die man längst vorgenommen hat, sondern um polizeilich-militärische Kontrollen an den EU-Außengrenzen - dem Hauptthema des EU-Gipfels in Sevilla. Zwei Sozialdemokraten stehen ihren (rechts-)konservativen Kollegen als harte Immigranten-Blocker in nichts nach: Tony Blair, der zur Generalmobilmachung gegen illegale Einwanderer aufruft, und Otto Schily, der sich bislang noch bei jedem Vorschlag einer EU-weiten Neuregelung der Familienzusammenführung und der Vereinheitlichung der Asylverfahren quer gelegt hat.

Doch auch ein Law-and-Order-Image scheint nicht viel zu nutzen. Die Meinungsumfragen signalisieren seit Monaten einen stabilen Trend gegen Rot-Grün. Es ist eher unwahrscheinlich, dass das gesellschaftliche Meinungsklima in den verbleibenden Tagen bis zur Wahl entscheidend verändert werden kann. Warum aber ist die Koalition der Mitte in der Defensive und von der Abwahl bedroht?

Erstens: Die rot-grüne Regierung hat die soziale Symmetrie in der Republik nicht wieder hergestellt. Zwar sind zu Beginn der Legislaturperiode einige Grausamkeiten der Bürgerlichen (Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz, Rente) behoben worden. Aber diese Umverteilungsmaßnahmen waren nicht die Ursache für die so genannte Gerechtigkeitslücke, sondern nur jene Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten. Während die Kapitalgesellschaften für ihre Veräußerungsgewinne keine Steuern mehr zahlen, die Vermögensbesitzer von einer Kofinanzierung der öffentlich-sozialen Ausgaben freigestellt sind, hat die rot-grüne Koalition den Sparerfreibetrag halbiert, die Besteuerung der Sozialabfindungen erhöht, den Druck auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger gesteigert und vor allem die Altersrenten verschlechtert. Diese Umverteilungspolitik hat die Konjunktur nicht befördert, so dass - erwartungsgemäß - die Kompensation durch höheres Wirtschaftswachstum und Senkung der Arbeitslosigkeit nicht eingetreten ist.
Zweitens: Das Markenzeichen einer linken Wirtschaftspolitik lautet: Konsolidierung durch Wirtschaftswachstum. Der Bundeskanzler versichert bei der Vorlage des Bundeshaltes 2003 erneut, es handle sich um keinen reinen Sparhaushalt. Allerdings muss man die Konjunkturimpulse mit der Lupe suchen. Eine Mitte-Links-Regierung, die ihren Finanzminister erklären lässt, Keynes sei tot und staatliche Konjunkturprogramme verfehlten bei offenen Märkten ihre Wirkung, hat sich vom historischen Erfahrungswissen, jeder regulativen Steuerungskonzeption und letztlich von den Interessen der eigentumslosen Schichten weit entfernt.
Drittens: Am Ende der Ära Kohl hieß ein geflügeltes Wort: Nur Dumme zahlen in der Berliner Republik ihre gesetzlichen Steuern. In einer Untersuchung des Bundesrechnungshofes wird der Bundesregierung bescheinigt: "Die Finanzämter folgen den Angaben der Steuerpflichtigen weit überwiegend ohne erkennbare Prüfung... Der Bundesrechnungshof hält daran fest, dass die derzeitige Besteuerung von Einkünften aus privaten Veräußerungsgeschäften nach wie vor unter strukturellen Mängeln leidet, die eine grundsätzliche Abhilfe erfordern." Mit anderen Worten: Nicht nur hinsichtlich der Gesetzeslage herrscht eine Schieflage bei der Besteuerung von Arbeitseinkommen und Kapital- und Vermögenseinkommen; die Regierung hat noch nicht einmal das hohe Ausmaß der Steuerhinterziehung zurückdrängen können.
Viertens: Diese Regierung hat sich in einem unvorstellbaren Maße in militärische Operationen verwickeln lassen, die nicht nur die entsprechenden Festlegungen des Grundgesetzes, sondern auch den bis dahin existierenden gesellschaftlichen Konsens einer untragbaren Belastungsprobe ausgesetzt haben. Die Grünen haben die FDP als Umfallerpartei deutlich in den Schatten gestellt, weil sie aus bloßem Machterhalt ihr Programm geopfert haben, mit dem sie 1998 in die Regierung eingetreten waren.

Was folgt: Rot-grün wird - je näher der Wahltermin rückt, desto heftiger - den Gesichtspunkt der Richtungswahl herausstellen, um unter Wahlmüdigkeit und politischer Apathie leidende potenzielle WählerInnen zur Urne zu locken. "Wer nicht wählt, wählt rechts", heißt die einpeitschende Kurzformel. Wie wenig ein solcher Appell ausrichtet, kann man an den Wahlergebnissen in den europäischen Nachbarstaaten ablesen. Ohne inhaltliches Angebot, ein Angebot zu einem wirklichen Politikwechsel, wird sich die Niederlagenserie der politischen Linken in West-, Nord- und Südeuropa nicht beenden lassen.

Die Alternativen für eine andere Berliner Republik werden zwar von den großen politischen Lagern kleingeredet, sind aber gleichwohl naheliegend: Ein 1% höheres Wirtschaftswachstum steigert die Steuereinnahmen um fünf bis sechs Milliarden Euro. 100.000 Arbeitslose weniger, wozu ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum Bedingung ist, bringen 300 Millionen Euro mehr Steuereinnahmen und 1.000 Millionen höhere Einnahmen in die Sozialkassen. Wenn die groteske Schieflage in der Einkommens- und Vermögensverteilung etwas zurückgedrängt wird, haben wir hinreichend Ressourcen für eine wirkliche Erneuerung des Systems sozialer Sicherung, eine Modernisierung der Bildung und die Stärkung der Binnenwirtschaft.