Feindliche Übernahme auf Wunsch

in (01.03.2002)

Ich erinnere mich gut, welche großen Erwartungen viele DDR-Bürger in die Demokratie gesetzt haben. Zu den wichtigsten Forderungen aus der Wendezeit gehörte das Recht auf freie Wahlen. ...

... Bei den letzten Kommunalwahlen in Thüringen betrug die Wahlbeteiligung 45 Prozent. Der Selbstentmachtung der Politiker folgt zwangsläufig die Selbstentmachtung der Wähler. Dieses Verhalten ist enttäuschend. Man kann es kritisieren, aber hilfreicher ist wohl, es erklären zu wollen.
Nach fast zwölf Jahren Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Die gute Hälfte der befragten Ostdeutschen, darunter viele Rentner, gibt an, ihre persönliche materielle Situation habe sich im Vergleich zur DDR verbessert. Das bezieht sich vor allem auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten. Für westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg aber das Wohlwollen gegenüber Politik und Gesellschaft nicht proportional. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit ist erheblich unzufrieden mit der gesamtwirtschaftlichen Situation, aber auch mit den Chancen demokratischer Mitgestaltung, mit der Verfassungswirklichkeit, kurzum mit dem marktwirtschaftlichen Rechtsstaat.
Dies ist jedoch keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung marktwirtschaftlicher Steuerung, sondern eine Kritik daran, wie marktradikal und lobbyistisch das System im Osten übertragen wurde. Die neuen Chancen durch den Hinzugewinn klassischer Freiheitsrechte werden durchweg gewürdigt, der weitgehende Verlust moderner sozialer Grundrechte ist für viele jedoch ein zu hoher Preis. Eine Verfassung soll den einzelnen vor dem Staat schützen. Das schließt aber nicht aus, daß der Staat dennoch auch den einzelnen schützt. Erst die Dreieinigkeit ist für die meisten Ostdeutschen die ganze Freiheit: Die Freiheit vom Staat (also die Abwehrrechte), die Freiheit im Staat (die Partizipationsrechte) und die Freiheit durch den Staat (die sozialen Menschenrechte).
Der Gesetzgeber hat jedoch in den Augen vieler Ostdeutscher ihre Freiheitsrechte auf bestimmten Gebieten eingeschränkt. Denn das wichtigste Freiheitsrecht ist in der Marktwirtschaft das Eigentum. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: "Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit." Die größte Enteignung, die es je im Kapitalismus gab, haben die Ostdeutschen angesichts ihres nicht nur entschädigungslos, sondern sogar mit Schaden, nämlich mit Schulden, geschluckten Volkseigentums erleben müssen. Daß dies nicht ganz wertlos gewesen sein kann, ergibt sich allein daraus, daß die Deutsche Bank 1990 das beste Geschäftsjahr in ihrer hundertjährigen Geschichte verbuchen konnte.
Es gibt Fehler, die sind so gravierend, daß sie irreparabel sind. Dazu gehört das Anzetteln von Eroberungskriegen. Nach dem ersten Weltkrieg sank die Industrieproduktion Deutschlands auf 60 Prozent. Nach dem zweiten Weltkrieg sank sie auf 40 Prozent. Auf 30 Prozent sank die Industrieproduktion Ostdeutschlands nach dem Beitritt. "Die Wirkung der Währungsunion zu den Bedingungen von Kanzler Kohl war vergleichbar mit einer ökonomischen Atombombe", konstatierte der Wirtschaftskolumnist des Guardian im April 1991. Hinzu kam die Schocktherapie der Treuen Hand, die 95 Prozent des Volkseigentums in westliche Hände übergab. Und wenn die Ostdeutschen heute die Bevölkerung in Europa sind, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt, so verdankt sie das dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung. Immobilien und Betriebe wurden unter Konditionen verteilt, von denen die Ostdeutschen weitgehend ausgeschlossen waren. Der Prozeß dauert gegenwärtig bei der Vergabe des Bodenreformlandes an, wo Alteigentümer ebenfalls begünstigt werden.
All diese Verfahren haben das Gefälle zementiert. Die heutigen Differenzen lassen sich nicht allein aus der früheren Kluft des Lebensstandards erklären. Wenn die Formel von Ludwig Erhard stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im Pro-Kopf-Vergleich zu den Westdeutschen nur noch über ein Viertel des Eigentums verfügen, auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger Unabhängigkeit. Das mag manche Verhaltensweise erklären, die mehr zu Zweiheit als zu Einheit tendiert.
Der für einen historischen Augenblick mündige Bürger wurde unter eine durch Marktgesetze bestimmte, neue Vormundschaft gestellt. Von Arbeitslosigkeit sind alle betroffen, besonders die, die Arbeit haben. In der DDR hatten Abweichler Angst. Heute kennen dieses Gefühl Abweichler und Nichtabweichler. Verbreitet ist die Sorge, den gewohnten Standard nicht halten zu können. Die Transfergelder sind eine Art innerdeutscher Ablaßhandel, um sich von demonstrativer Unzufriedenheit freizukaufen.
Das Problem ist beileibe nicht, daß der Osten noch nicht den Wohlstand des Westens erreicht hat, sondern daß die ökonomische Leistungskraft der vermeintlich neuen Bundesländer bis heute weit unter der liegt, die selbst die marode DDR am Ende noch aufzuweisen hatte. Die politische Vereinigung hat die ökonomische Spaltung vertieft. Es ist freilich ein Bankrott auf hohem Niveau: Im Osten fährt man neuere Autos auf neueren Straßen als im Westen. Aber all die schöne Infrastruktur erfüllt hauptsächlich den Zweck, westliche Waren ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen.
In Fachgutachten über die östliche Million leerstehender Wohnungen lese ich von "flächendeckendem Abriß der Stadtbrachen" und, wo auch dafür das Geld fehlt, von Vierteln, die "ausgebucht und eingemottet" werden. Bewohner, die das gleiche Schicksal vermeiden wollen, suchen das Weite. Selbst in der Leuchtburg Dresden steht bald jede fünfte Wohnung leer. Das Stadtumbauprogramm Ost ist ein rühriger Versuch der Bundesregierung, das Desaster abzuwenden. Aber die Mittel sind doch nur ein Tropfen auf den kalten Stein.
Die beabsichtigte schöpferische Zerstörung der überindustrialisierten DDR hat das Gebiet zu einem strukturschwachen Entwicklungsland gemacht, in dem von fernen Zentralen fremdbestimmte Montagebetriebe einsame Hoffnungsträger sind. Kein einziges der 190 größten deutschen Unternehmen hat seinen Sitz im Osten. Den verlängerten Werkbänken aber droht bei abschwächender Konjunktur als erstes der Abbau. Eine Allianz böser Zungen behauptet, was dann noch blühe, seien Sondermülldeponien und überdimensionierte Klärwerke. Fachleute gehen inzwischen davon aus, es werde 80 Jahre dauern, bis sich der Lebensstandard in beiden Teilen des Landes angeglichen habe. Setzt sich diese Tendenz fort, wird es wohl niemanden mehr überraschen, wenn uns demnächst erklärt wird, die Kluft werde überhaupt nie eingeholt werden.
Was mich dabei amüsiert, ist der an die Ostdeutschen gerichtete Vorwurf der Staatsgläubigkeit. Erst läßt der oligarchische Überbau so gut wie keinen Fehler aus, und wenn man ihn verantwortlich machen will, zuckt er mit den Schultern und verweist an die freie Marktwirtschaft. Und dort lacht man sich über die Fehlerdiskussion ins Fäustchen, denn es lief doch alles nach perfekter innerer Logik. Zumindest zunächst. Die Sektkorken knallten damals nicht nur bei der Deutschen Bank, sondern auch bei der Allianz und in vielen anderen Konzernen. Die Vereinigung war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Und allem Anschein nach werden die selben fragwürdigen Spielregeln auch bei der Osterweiterung der Europäischen Union akzeptiert.
Die Rechnung für die denkbar teuerste Art der Vereinigung wird den Menschen auf beiden Seiten untergejubelt. Dabei wird der Reichtum immer unverschämter, die Armut immer verschämter. Werden wir eines Tages fragen müssen, ob der Westen auf der Kippe steht? Und ob wir schließlich im Abschwung vereint seien? Dagegen anzugehen liegt längst im gemeinsamen Interesse der Betroffenen in Ost und West.

Dieser Text über spezielle Demokratie-Erfahrungen der Ostdeutschen ist Daniela Dahns Dresdner Rede "Wir sind die Demokratie" entnommen.

erschienen in Ossietzky 05-2002