Transformation - Entwicklung - EU-Integration

Zwölf Jahre nach dem Beginn der historischen Transformationen in Mittel- und Osteuropa ist es Zeit, zu resümieren, was wir aus diesen Prozessen gelernt haben, ...

... wie sich das in die allgemeine internationale Erfahrung einordnet, und welche Lehren, wenn überhaupt, aus der Transformationsforschung mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union zu ziehen sind. Mit diesem Ziel resümiere ich zunächst die Evolution der endogenen Transformationsforschung (1) und stelle sie in den Kontext des globalen Denkens über Entwicklung (2). Danach werde ich die Transformationsaufgaben der zweiten Generation auf Ähnlichkeiten und Unterschiede zu den laufenden Reformen der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten untersuchen (3). Abschließend wende ich mich der Frage zu, in welcher Weise ein multidisziplinärer Ansatz hilfreich sein könnte, die springenden Punkte der EU-Osterweiterung wissenschaftlich solide zu bearbeiten (4). Dabei beschränke ich mich auf einen groben Überblick; eine detaillierte Ausführung aller Punkte würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.

1. Transformation: von Ideologie zu Entwicklung

Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums war wohl historisch unvermeidlich, dennoch hat er in seiner Plötzlichkeit alle Beobachter überrascht. Die Tatsache, daß der G 7-Gipfel in Houston im Dezember 1990 Organisationen wie den IWF, die OECD und die Weltbank - von denen keine die Sowjetunion als Mitglied führte - beauftragte, die ökonomischen Probleme der strauchelnden Großmacht ausführlich zu evaluieren, ist bezeichnend dafür. Auch unter den führenden Analytikern des Westens herrschte, wie Murell (1995) belegt, eine gewisse Konfusion, die sich auf mangelnde Erfahrung im Umgang mit den - im Unterschied zu Entwicklungsländern - spezifischen postsozialistischen Ökonomien zurückführen läßt. So suchte man die Lösung in einer Kombination von schlichtem Transfer bekannter Therapien und der Förderung ideologisch aufgeladener Vorstellungen von Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie.
Die ideologische Voreingenommenheit hat, wie Stiglitz (2000: 552ff.) rückblickend feststellt, eine sorgfältige Analyse der lokalen Umstände oftmals behindert und zur Mißachtung von Kontextbedingungen geführt, welche die Implementation und die Ergebnisse von per se als tadellos geltenden Reformen in einzelnen Sektoren zum Teil erheblich beeinflußt haben. Man denke nur an die Einleitung der Voucher-Privatisierung in Rußland mitten in der Hyperinflation 1992/93, oder an die vollständige Umstellung des kasachischen Rentensystems auf das Kapitaldeckungsprinzip im Jahr 1999, zu einer Zeit, als in diesem Land ein Kapitalmarkt allenfalls in den Kinderschuhen steckte.
Die andere Seite der Medaille war allerdings, daß auch die Analytiker vor Ort auf den Systemumbruch kaum vorbereitet waren. Frühere Reformanstrengungen waren zumeist marktsozialistisch orientiert. Selbst in Ungarn, wo das theoretische Denken die Schranken jeglicher Art von Sozialismus schon hinter sich gelassen hatte (Kornai 1990), blieb die praktische Reformpolitik weiterhin von Vorsicht dominiert, von veralteten Dritte-Weg-Vorstellungen und Mischwirtschafts-Konzepten, in denen Privateigentum und Wettbewerb nur eine untergeordnete Rolle spielten (Laki 1991). Das gilt auch für die oppositionellen Parteien, deren Plattformen oftmals populistischer waren als die der Reformströmungen unter den alten Eliten.
Dies heißt natürlich nicht, daß in- und ausländische Experten gänzlich unfähig gewesen wären, mit den Problemen klarzukommen. Frühe Analysen haben die Wichtigkeit makroökonomischer Stabilisierung und der Einführung von Privateigentum betont (Blommestein et al. 1991). Einheimische Analytiker und fachpolitische Experten wandten sich direkt an international führende Spezialisten, die an der Ausarbeitung der Strategien für die Handelsliberalisierung von Entwicklungsländern beteiligt waren (Köves/Marer 1991). Auf diese Weise wurde gewissermaßen ein feedback des besten verfügbaren Wissens etabliert. Der Verlaß auf externe Beratung durch internationale Finanzinstitutionen, private und öffentliche Agenturen wurde sprichwörtlich intensiv. Mit der Ausweitung des PHARE-Programms hat auch die Europäische Gemeinschaft ihre Aktivitäten im Bereich der Politikanalyse und beratung auf die neuen Demokratien ausgedehnt (Portes 1991). Entgegen vielen Behauptungen war namentlich diese Initiative ein kooperatives Unterfangen, das Wissenschaftler aus der Region und Vertreter der Osteuropaforschung einschloß.
Die Debatten um reformpolitische Maßnahmen und Programme konzentrierten sich zunächst weitgehend auf theoretisch irrelevante oder ungeeignete Themen wie die Kontroverse Schock-Therapie versus Gradualismus, die Frage, wie man schmerzhafte Kosten der Stabilisierung vermeiden kann und dennoch zu einem soliden Währungssystem kommt, oder wie man Kapitalisten durch artifizielle Multiplikationstechniken erzeugen könnte. Mehr theoretisch angelegte Arbeiten versuchten derweil, das verfügbare Wissen und analytische Kompetenzen dem neuen Forschungsgebiet anzupassen. Das betraf u.a. die Bedeutung von Koalitionsbildung für nachhaltige Reformen, die großen sozialen Gruppen hohe Kosten auferlegen (Roland 1991), die Frage des fiskalischen Föderalismus (Schneider 1993), oder den Zusammenhang zwischen Unternehmenskontrolle und Kapitalmarktregulation einerseits und effizienzfördernden Effekten der Privatisierung andererseits (Dallago 1994).
Privatisierung wurde regelmäßig als primär politisches Projekt aufgefaßt mit dem Ziel, das Rückgrat des Ancien régime zu brechen und stakeholder (involvierte Interessengruppen) der neuen Marktwirtschaft zu erzeugen (Chubais/Vishnevskaya 1995). Dieser Ansatz hielt ökonomische Effizienz für zweitrangig. Bei allem Respekt vor dem Druck der Umstände machten nüchterne Experten darauf aufmerksam, daß die makroökonomische Effizienz, damit die soziale Akzeptanz und die sozialen Resultate der Privatisierung, sowie letztlich Nachhaltigkeit und Erfolg des Wandels von den institutionellen Bedingungen abhängen, die die Eigentumsreform komplementieren und entweder zu Wettbewerb und offenen Märkten führen, oder zu Markteintrittsbarrieren und neuem privaten Monopolismus (Malle 1994). Aus dieser Perspektive erschienen die miserable Leistungsentwicklung der russischen Wirtschaft im Zeitraum 1992-1998 und die viel diskutierte Insiderdominanz und Ineffizienz des "Umstiegs" von Staats- auf Privateigentum in Rußland und in der GUS alles andere als überraschend.
Seit Mitte der 1990er Jahre haben zwei neue Themen die Transformationsdebatte bestimmt - die Tatsache, daß in den meisten postsozialistischen Ländern die Transformationskrise (Kornai 1994) weiter anhielt, sowie die Rückkehr von Nachfolgeparteien der früheren Staatsparteien an die Macht und die damit befürchtete Gefahr einer grundsätzlichen Umkehr der Reformpolitik.
Im nachhinein haben sich beide Befürchtungen als übertrieben oder unbegründet erwiesen. 1993/94 begann in den meisten Ländern der Region die Wirtschaft wieder zu wachsen, wobei sich das Wachstum jedoch nur in denjenigen Ländern als nachhaltig erwies, die die Reformagenda Stabilisierung - Liberalisierung - Privatisierung (SLIP) durch institutionelle Reformen und solide Politikprogramme ergänzten. Dieser Punkt wurde sowohl von der Weltbank als auch von einheimischen Experten betont (Kolodko 2000). Institutionelle Reformen umfaßten die Reform des Bankensystems, Kapitalmarktregulierung sowie eine radikale Reorganisation der überkommenen Wohlfahrtssysteme. Dies war, wie eine groß angelegte Analyse (Nelson et al. 1999) belegt, eine wahrhaft interdisziplinäre Anstrengung sowohl auf der akademischen als auch der fachpolitischen Ebene. Im Hinblick auf Themen, die Umverteilungsfragen, die Rolle des Staates, Solidarität versus Eigenverantwortung etc. betreffen, ermöglicht der Pluralismus der Werte normalerweise in keiner Gesellschaft und zu keinem Zeitpunkt einen vollständigen professionellen Konsens. Und es ist kaum möglich, politische Maßnahmeprogramme zu implementieren und auch noch über mehrere Legislaturperioden hinweg durchzuhalten, wenn selbst bei den Experten kein Konsens besteht. Da genau diese Reformen unvermeidlich bis in die Phase des EU-Beitritts der fortgeschrittensten Transformationsstaaten andauern werden, komme ich auf diesen Punkt später noch zurück.
Hinsichtlich der Rückkehr der Linken haben sich die Befürchtungen weitgehend als unbegründet erwiesen. Internationale Erfahrungen und ländervergleichende Analysen (Williamson 1994) haben erbracht, daß linke Parteien oftmals besser als andere in der Lage sind, schmerzhafte Reformen durchzusetzen, einfach aufgrund ihrer sozialen Einbettung und ihres hohen Organisationsgrades. Die jüngsten Erfahrungen aus Frankreich und Griechenland sind überzeugende Belege dafür. Und in der Tat, die Leistungen der Horn-Regierung in Ungarn 1994-1998, der linken Koalition in Polen 1993-1997, oder der seit 1998 von Zeman geführten sozialdemokratischen Minderheitsregierung in Tschechien können eher als Bestätigung dieses Trends denn als Ausnahmefälle angesehen werden. Dieser Befund scheint weniger überraschend, wenn man bedenkt, daß diese Parteien - dank der Insider-dominierten Privatisierungsverfahren - zu einem großen Teil Gewinner der Transformation repräsentieren, während die Verlierer zu rechten Protestbewegungen tendieren.
Um die Jahrtausendwende setzte eine weitere neue Phase in der Transformation wie der Transformationsforschung ein. Im Kontext des EU-Betritts gewannen die Leistungsunterschiede zwischen den einzelnen Transformationsländern zunehmend an Aufmerksamkeit. Nach diesen Differenzen, die regelmäßig und umfassend in den Transition Reports der EBRD, den Surveys der Ökonomischen Kommission für Europa sowie von verschiedenen unabhängigen Instituten und Rating-Agenturen dokumentiert sind, lassen sich drei Ländergruppen mit je unterschiedlicher Agenda unterscheiden.
Die erste Gruppe bilden die Erfolgsländer, die gute Aussichten haben, im Laufe dieses Jahrzehnts in die EU aufgenommen zu werden. Hier geht es um die Beschleunigung von Reformen, die Zeitvorgaben und Verfahren gerecht werden, welche die EU primär für ihre gegenwärtigen Mitglieder formuliert hat, nicht für Ökonomien, die sich im Aufholprozeß befinden.
Für die zweite Gruppe ist der EU-Beitritt zwar ein langfristiges Ziel, aber keine vordringliche Option, die die politischen Alltagsentscheidungen prägen würde. In dieser Gruppe werden die Ursachen für eine geringere Leistungsentwicklung ebenso deutlich wie die Schwierigkeiten, die Unvollständigkeit des Systemwechsels zu überwinden. Rumänien bietet dafür das beste Beispiel: mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sind von der Regierungsarbeit der westlich orientierten Parteien enttäuscht, in der Folge ist eine postkommunistische Nachfolgepartei in die Regierung zurückgekehrt, die sich jedoch auf keine klare parlamentarische Mehrheit stützen kann. Möglicherweise haben die Wahlergebnisse vom September 2001 auch Polen in diese Kategorie zurückgeworfen (vgl. Financial Times vom 25.09.2001). In dieser Gruppe erscheint die Aufgabe, anspruchsvolle und dringende ökonomische Programme einer Öffentlichkeit zu vermitteln, die absehbare tiefe Einschnitte in ihr Wohlstandsniveau zu befürchten hat, als ein wahrhaft gewaltiges Unterfangen, dessen Gelingen offensichtlich mehr erfordert als gute Kenntnisse der Standardökonomie.
Drittens zeichnet sich eine Gruppe von "Nachzüglern" ab, deren BSP pro Kopf noch immer bei 70 Prozent des Vorkrisenniveaus oder darunter liegt.1 In diesen Ländern dominiert gewissermaßen das Krisenmanagement über langfristige Politikprogramme. Die Forschung ist derweil damit beschäftigt, Erklärungen für das Debakel zu finden, die überzeugender sind als Pfadabhängigkeits- oder einseitige kulturalistische Konzepte. Diese Ländergruppe, die die Ukraine, die transkaukasischen und die meisten südosteuropäischen Länder umfaßt, dürfte der EU vermutlich noch ernste Kopfschmerzen bereiten, wie dies Mazedonien im Gefolge der drei Balkankriege der 1990er Jahre erst jüngst eindrücklich demonstriert hat.
Rückblickend läßt sich feststellen, daß die Transformationsforschung eine bemerkenswerte Konvergenz zur umfassenderen Entwicklungsforschung aufweist. Wie ich unten zeigen werde, hat die Entwicklungsökonomie ihr Interesse bereits auf die Lehren der mittel- und osteuropäischen Transformation ausgedehnt, während ein Lernprozeß in der umgekehrten Richtung, obgleich empfehlenswert, noch weitgehend aussteht. Das ist insofern von Nachteil, als die Probleme, die in den Ländern der zweiten und dritten Gruppe anstehen, zu den typischen Untersuchungsgegenständen der Entwicklungsforschung gehören. Dies betrifft sowohl Modelle von "geschlossenen Zirkeln" als auch umfassendere und politikrelevante Ansätze zu deren Überwindung. Im folgenden werde ich versuchen zu zeigen, wie dieser theoretische Lernprozeß konkret funktionieren könnte.

2. Entwicklung ist politische Ökonomie

Entwicklungsökonomie war immer die revolutionäre Unterabteilung der Disziplin, die gegen die Gezeiten des jeweils aktuellen Hauptstroms schwamm. Staatliche Planung, Importsubstitution, die vorrangige Rolle des Staates als Eigentümer, Organisator und diskretionärer (nach eigenem Ermessen verfahrender) Regulator sowie die sich daraus ergebende Depression des Finanzsektors charakterisierten das traditionelle entwicklungsökonomische Paradigma. Infolge ungünstiger Erfahrungen und intellektueller Veränderungen hat jedoch ein neues Paradigma schrittweise an Boden gewonnen, das auf marktorientierten Prinzipien, solidem Geld, Exportorientierung sowie einer Neubestimmung der Rolle des Staates basiert, die dessen vornehmliche Funktion darin sieht, solche Güter bereitzustellen, die von privaten Akteuren nicht hinreichend angeboten werden (vgl. Behrman/Srinivasan 1995). Diese neue Öffnung des Entwicklungsdiskurses zur Standardökonomie ist eine kopernikanische Wende, verdankt sich allerdings, das soll hier betont sein, weder den diversen ideologischen Attacken noch dem intellektuellen Triumphalismus nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Planungssystems. Sie hat sich vielmehr in einer organischen Weise vollzogen, als Resultat sorgfältiger Analyse länderspezifischer Erfahrungen und entwicklungspolitischer Sackgassen.
Entwicklungsökonomie hatte traditionell mit zahlreichen Themen zu tun, die im Kontext der postsozialistischen Transformation, insbesondere ihrer weniger erfolgreichen Varianten, wieder auf die Tagesordnung gelangt sind. Unübersichtliche Eigentumsrechte, schwache oder nur unter hohem Kostenaufwand durchsetzbare Verträge, Mangel an adäquaten Institutionen, Ineffizienz der öffentlichen Verwaltung, Korruption and Verbreitung der irregulären oder informellen Wirtschaft, Dominanz von informellen Netzwerken und Traditionalismus über formal geltende Gesetze und Institutionen - all das gehört zu den Evergreens der entwicklungsökonomischen Literatur.
Die Konvergenz eher konservativer Trends mit einer Forschungslinie, die mit "exotischen" und "fremdartigen" Phänomenen befaßt ist, hat sich als produktiv erwiesen. So konnten die Wachstumstheorie und die dazugehörigen ökonometrischen Methoden für das Studium der realen Weltwirtschaft und für sinnvolle Ländervergleiche eingesetzt werden. Das erwies sich als hilfreich, um die langwierigen Debatten beizulegen, die nach den beiden Ölpreisschocks (Balassa 1993) über die Vorzüge exportorientierter Strategien auf der Basis marktorientierter Systemarrangements und Anreizstrukturen geführt wurden. In langfristiger Perspektive werden Reichweite, Intensität und Design des Liberalisierungspakets für die Robustheit der ökonometrischen Ergebnisse als entscheidend angesehen (Greenway et al. 1998).
Zudem haben Tiefenstudien zu Strategien der Importsubstitution das Scheitern solcher Ansätze mit government bzw. state capture in Verbindung gebracht (d.h. mit der Vereinnahmung des Staates durch private Interessen von Politikern, Funktionären und Bürokraten). Die Regierung wird nicht mehr nur als Hüter des öffentlichen Gutes angesehen, sondern auch als unabhängiger Akteur, der auf die Maximierung seiner eigenen Macht und seines eigenen Wohlstands bedacht ist. Daraus ergibt sich das Plädoyer, ihre protektionistischen Aktivitäten zu begrenzen und ihre "Lieferantenfunktion" einzustellen. Dieses Herangehen beleuchtet auch die erheblichen konzeptionellen Schwächen verschiedener Ansätze, die langfristiges Wachstum allein mit physischem Kapital erklären und die Komponente der Wissensakkumulation und -verbreitung außer acht lassen (Bruton 1998).
Diese Entwicklung hat Ansätzen Auftrieb gegeben, die traditionell die sozialen Komponenten der Funktionsweise des Marktes betonen und, umgekehrt, die Rolle des Marktes als Koordinationsmechanismus hervorheben, der Gesellschaften auszeichnet, die sich aus Armut zu befreien vermochten (Bauer 2000). In einer einflußreichen Aufsatzsammlung sprechen Anhänger dieser Schule von einer wahrhaften Revolution in der Entwicklungsökonomie (Dorn et al. 1998), die die etatistischen, dirigistischen und technokratischen (auf physisches Kapital und Rohstoffe fokussierten) Konzepte zugunsten breiterer Ansätze verdrängt hat. Diese betonen die zentrale Bedeutung von Marktinstitutionen und Marktmechanismen für die Überwindung verschiedener Aspekte von Unterentwicklung. Es handelt sich dabei keineswegs um laissez faire-Ansätze, aber die Rolle des Staates wird hier vornehmlich in der Funktion des Regulators und Schiedsrichters gesehen, nicht darin, die ökonomischen und sozialen Koordinationsmechanismen zu ersetzen.
Im 25. Jahrbuch des Harvard-Instituts für Internationale Entwicklung sind die Befunde dieser Schule gut dargestellt (Perkins/Roemer 1991). Der Band setzt sich mit der einseitigen Betonung der wirtschaftlichen Liberalisierung auseinander und hebt die Bedeutung der aktiven Rolle öffentlicher Institutionen für ein besseres Funktionieren des Marktes hervor. Nötig dafür sind eine schlanke, aber effiziente und nicht-diskretionäre Verwaltung und eine transparente Bindung der Vergütung an die Leistung. Dies könnte ein Anker für langfristige Strukturreformen werden, bei denen sich das Zusammenspiel mit der politischen Sphäre und kulturellen Faktoren als entscheidend für die Sequenzierung von Maßnahmen erweisen kann, die sonst als Paket verabschiedet werden (ebd.).
Damit sind wir bei einem Punkt angelangt, den ein zeitgenössischer Klassiker (Bates/Krueger 1993: 463) als das orthodoxe Paradox bezeichnet: Marktorientierte Reformen erfordern die Stärkung eines "Kernstaats", welcher die individuelle Rationalität, die sich auf die Bedienung der jeweils eigenen Klientel stützt, kollektiver Rationalität (Haushaltsdisziplin, Beschränkung von Umverteilung, Kürzung öffentlicher Ausgaben, Transparenz und regelbasierte Entscheidung statt Ermessensentscheidung, Aufwertung von Agenturen mit technokratischer Macht) institutionell unterordnet. Dieser breite Ansatz ergibt sich direkt aus der Erweiterung der Reformagenda, die sich nicht mehr in administrativem Herumbasteln mit spezifisch sektoralen Regulationen erschöpft, sondern Maßnahmepakete umfaßt, welche Allokationsmechanismen, Institutionen und Verfahren abdecken, über die gesellschaftliche Interessen Eingang in Politik- und Gesetzgebungsprozesse finden.
In diesem Kontext vertreten inzwischen auch prominente Repräsentanten der makroökonomischen Standardtheorie die Ansicht, daß die Rolle des Staates neu definiert werden muß, soll Stabilisierung nachhaltig sein. In diesem Sinne betont Dornbusch (1993) die Notwendigkeit, die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltungen zu stärken, was durch Dezentralisierung und die Herstellung von Rechenschaftspflicht auf allen Ebenen der Hierarchie erreicht werden kann. Neben gezielter Hilfe für die Bedürftigen werden die Vertretung mobilisierender Ideologien, Konsensbildung, kohärente Programme und die Ergänzung marktwirtschaftlicher Reformen um eine soziale Dimension als Bedingungen dafür genannt, daß eine widerstandsfähige Demokratie und marktwirtschaftliche Reformen den politischen Zyklus überstehen.
Allerdings bedeuten der institutionelle Fokus und die politische Orientierung der entwicklungsökonomischen Literatur keine Neuauflage etatistischer Voreinstellungen der traditionellen institutionalistischen Strömungen der Ökonomie. Dieser neue Fokus reflektiert vielmehr die politisch-praktische Erfahrung aus zahlreichen Fällen, wo der Staat eher Teil des Problems denn Teil der Lösung war, wie etwa bei den sozialistisch orientierten Reformen in Afrika (Paulson 1999). Man kann relativ leicht zeigen - und die oben zitierten Bände liefern dafür reichlich empirisches Material -, wie eine Regierung, die kleinen Interessengruppen unterworfen ist, ihrer Fähigkeit zur Wahrung öffentlicher, sprich makroökonomischer Interessen verlustig geht, wie also Staatsversagen, verschärft um nicht-neutrale Verteilungsprozesse, zu Marktversagen führt. Eine starke Verhandlungsmacht ausländischer Geschäftsinteressen gegenüber einheimischen Politikakteuren kann zusätzliche makroökonomische Verwerfungen zur Folge haben.
Je tiefer das Mißtrauen in die staatliche Verwaltung, desto mehr spricht für Privatisierung im großen Maßstab (large-scale privatisation), und zwar unabhängig vom ökonomischen Entwicklungsniveau. Die wohl umfassendste Untersuchung zu dieser Thematik (Meggison/ Netter 2001: 380f.) zeigt eine weltweite Tendenz dahingehend, daß privatisierte Unternehmen effizienter wirtschaften als staatseigene. Privatisierung ist allerdings nur sinnvoll, wenn ihr jeweiliger Kontext hinreichend berücksichtigt wird; welche Privatisierungsmethode die optimale ist, hängt von den Umständen, einschließlich politischer Faktoren, ab. Voucher-Privatisierung ist zwar die ökonomisch am wenigsten effiziente Option, doch haben politische Akteure, die zu dieser Methode greifen, oftmals keine Alternative. Belegschaftsprivilegien wurden in mehr als 91 Prozent aller untersuchten Fälle beobachtet. Die Bedingungen der Privatisierung hängen jeweils von verschiedenen ökonomischen, politischen, finanziellen und regionalpolitischen Zielen ab, die zumeist schwer in Übereinklang zu bringen sind. In der Regel ist die Operation dann erfolgreich, wenn sie zu einer Ausweitung der Kapitalmärkte beiträgt (durch die Emission und den öffentlichen Handel von Aktien) und dies zu Veränderungen in den Strukturen der Unternehmenskontrolle, den Offenbarungs- und Buchhaltungspraktiken führt sowie mit einer allgemeinen Verbesserung der Qualität der Regulierung einher geht.
Zusammenfassend können wir uns dem kritischen Resümee von Joseph Stiglitz (2000: 577) anschließen, daß man in vielen Entwicklungsländern und auch postsozialistischen Transformationsstaaten zu wenig beachtet hat, wie schwierig es ist, Wirtschaftsreformen, insbesondere wenn sie das Alltagsleben von Millionen Menschen beeinflussen, in einem demokratischen Kontext durchzusetzen. Je mehr wir von der SLIP-Agenda zu Reformen der zweiten Generation gelangen, die im wesentlichen den Wohlfahrtsstaat und die Arbeit der öffentlichen Verwaltung in toto umfassen, desto mehr haben wir es mit der Veränderung ganzer Gesellschaften zu tun. Und umso mehr Aufmerksamkeit müssen wir für politische Maßnahmen (policies) und Institutionen aufbringen und auch dafür, die Öffentlichkeit zu überzeugen, die im wesentlichen aus Laien besteht. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, will man einen Rückschlag vermeiden, wie er oft mit gegenteiligen Effekten nur halb durchdachter Reformschritte gerechtfertig wird - etwa der Öffnung von Finanzmärkten mit festen Wechselkursen, aber bei schwachen Finanzsystemen von geringer Zuverlässigkeit.

3. Aufgaben der zweiten Generation und EU-Beitritt

Zur Ländergruppe mit den günstigsten Aussichten, in diesem Jahrzehnt in die EU aufgenommen zu werden, gehören zwei Mittelmeerinseln und diejenigen ex-kommunistischen Staaten, die (mit der bemerkenswerten Ausnahme von Slowenien und Estland) bereits OECD- und NATO-Mitglied geworden sind. In gewisser Weise macht es diese internationale Einbettung überflüssig, diese Länder noch als "neue Demokratien" zu bezeichnen und danach zu fragen, ob bzw. inwieweit hier die Grundlagen einer marktwirtschaftlichen Ordnung hergestellt sind, d.h. die SLIP-Agenda oder der Übergang von Plan- zu Marktwirtschaft wirklich vollzogen ist. Andererseits kommt es, wie bereits gezeigt, auf die Qualität der Institutionen an, sowohl per se als auch im Hinblick auf die Lebensfähigkeit und die Wachstumspotentiale in langfristiger Perspektive.
Im Gefolge der ostasiatischen Krise von 1997/98 ist die Qualität von Institutionen in den Vordergrund vieler Analysen gerückt, weil die betreffenden Staaten nicht in einem problematischen Zustand zu sein schienen - gemessen an konventionellen makroökonomischen Indikatoren. Das wird nicht nur in der analytischen, sondern auch in der politischen und finanzwirtschaftlichen Literatur betont (Lamfalussy 2000). Mit anderen Worten, die Zeiten sind vorbei, als man Fortschritt in Richtung "EU-Reife" noch in quantitativen Indikatoren präsentieren konnte, wie etwa der Zahl der privatisierten Unternehmen oder dem Prozentsatz, zu dem die 80.000 Seiten des acquis communautaire (d.h. des gemeinsamen Besitzstandes der EU) in nationales Recht übernommen wurden.
Man muß dies betonen, weil die EU-Erweiterungspolitik weitgehend auf solche formalen und quantitativen Indikatoren hin angelegt ist. Das Weißbuch der EU-Kommission von 1995, das den Kandidaten zur Orientierung dienen soll, ist ein Beleg dafür. Ebenso formal sind die 31 Kapitel gehalten, die für die Überwachung des acquis communautaire und für die Beitrittsverhandlungen entwickelt wurden. Die Umsetzung gilt EU-Offiziellen als ein anderes Kapitel, das separat kontrolliert werden muß.
Es ist überflüssig darauf hinzuweisen, daß die Implementation des acquis communautaire für die Beitrittsländer einen weiteren institutionellen Wandel großen Maßstabs bedeutet. Ebenso scheinen radikale Erneuerungen in den gegenwärtigen Arrangements, politischen Strategien und Philosophien der EU unumgänglich, soll der Zugang einer großen Zahl neuer Mitglieder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand bewältigt werden (Cassel 1998). Es ist kaum damit zu rechnen, daß diese Veränderungen noch vor dem Betritt der ersten Kandidaten abgeschlossen werden; wahrscheinlicher ist, daß sie schrittweise erfolgen und sich über ein Jahrzehnt hinziehen werden. Dafür spricht in erster Linie die Notwendigkeit, die angestammten Interessen und die Verlierer eines Positivsummenspiels einzubinden, die ihre Einwände schon über die vorhandenen demokratischen Einflußkanäle artikulieren - wie etwa die französischen und die polnischen Bauern, die skandinavischen Umwelt- und Tierschützer, oder die spanischen und griechischen Regionalpolitiker.
Im folgenden werde ich mich darauf beschränken, die Aufgaben anzusprechen, die seitens der Beitrittskandidaten zu erledigen sind, und von den nicht weniger kontroversen Fragen, wer und was sich bei den EU-Altmitgliedern ändern muß, einfach absehen.
Erstens: Die Kandidaten müssen - unter Bedingungen hoher Wachstumsraten - die Inflation von derzeit acht bis zehn Prozent weiter senken. Bisher gab es niedrige Inflationsraten nur in Zeiten der Rezession und nur in der Tschechischen Republik. Untersuchungen zu den Ursachen für die anhaltende Inflation (auf dem genannten moderaten Niveau) verweisen auf die Rolle gesellschaftlicher Komponenten und psychologischer Faktoren wie geringer Glaubwürdigkeit und Trägheit der Erwartungen, aber auch auf die Rolle zu hoher Umverteilungen, die den neu etablierten Verfahren der demokratischen Interessenrepräsentation inhärent sind (Cot tarelli/ Szapáry 1998). Experten sind sich nicht einig, wie der Inflation am besten zu begegnen wäre. Einige plädieren für tripartistische Vereinbarungen, andere für fiskalische Stringenz und monetäre Zurückhaltung. Wichtig ist, daß auch im letztgenannten Fall Ausgabenkürzungen oftmals Leistungsbeschränkungen nach sich ziehen würden, d.h. die Neudefinition der Rolle des Staates als Versorgungsstaat - ein hoch politisiertes Thema.
Analysen der Arrangements um den Euro betonen die Notwendigkeit von Transparenz, einer glaubwürdigen mittelfristigen Selbstbindung der Regierungspolitik sowie der Beachtung eines ziemlich umfangreichen Verhaltenskodexes für Finanz- und Steuerbehörden, welcher Ermessensspielräume limitiert und möglicherweise mit den politischen Erfordernissen in Konflikt geraten kann (Braga de Macedo 2001) - wie die gegenwärtigen Mitglieder der Europäischen Währungsunion in Zeiten rückläufiger Wachstumsraten bereits erfahren haben. Man muß damit rechnen, daß Veränderungen in der Rolle der Steuerbehörden als consumption smoothers (Nachfragedämpfer) zu Zeiten des Konjunkturrückgangs in den Kandidatenländern sogar noch stärker mit sozialen Erwartungen und Normen in Konflikt geraten können als bei den EU-Altmitgliedern. Die derzeitige Debatte um eine Neuinterpretation des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der EU kann als Illustration für diese Problematik gelten.
Zweitens: Die Rufe nach weiteren Ausgabenkürzungen und Einschränkungen der ökonomischen Rolle des Staates treffen aus einer Reihe von Gründen auf Schwierigkeiten. Die tschechische Regierung ist schwach, da sie keine parlamentarische Mehrheit hat. Die ungarische Regierung stützt sich auf eine Wählerschaft, die eher nach mehr denn nach weniger Umverteilung verlangt. In Polen fehlt dem pro-europäischen Flügel der regierenden Koalition, der Demokratischen Linken, ebenfalls die klare parlamentarische Mehrheit. Die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit der ostmitteleuropäischen Regierungen, solche strukturellen Problemfelder wie Landwirtschaft, Schwerindustrie oder überhöhte Sozialleistungen anzugehen, wird die fiskalischen Probleme über das kommende Jahrzehnt fortschreiben. Starkes und effizientes Regierungshandeln ist, wie oben dargelegt, zwar ein Imperativ in der Theorie, aber einer, der leichter zu formulieren als zu verwirklichen ist.
Drittens: Das Problem der Neubestimmung der Rolle des Staates ist im Bereich der Wohlfahrtsreform noch umstrittener. Eine neuere Studie (Kornai et al. 2001) faßt die Dimensionen multidisziplinärer Analysen noch weiter. In Verallgemeinerung der Erfahrungen mit Versuchen der Wohlfahrtsreform und der Haushaltskonsolidierung in den 1990er Jahren betonen die Autoren die Bedeutung von Blockademächten, von Persönlichkeiten, der Balance zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, der Stärke diverser Lobbies sowie der Merkmale von state capture. Bei dem Versuch, seit langem geltende Normen vernünftigen fiskalischen Verhaltens in praktisch-politisch relevanter Weise zu operationalisieren, sehen sie sich gezwungen, auf klassische soziologische, politik- und rechtswissenschaftliche Analysen zurückzugreifen.
Bei seiner Verallgemeinerung negativer lateinamerikanischer und postsowjetischer Erfahrungen betont Rüdiger Dornbusch (2000: 85), daß die Regierung nicht nur marktwirtschaftliche Fehlschläge korrigieren und den Aufbau einer marktwirtschaftlichen Infrastruktur unterstützen, sondern auch ein bestimmtes Maß an Umverteilung erhalten muß, um die Transformationsgesellschaften vor Desintegration und dem Rückfall in autoritäre Herrschaftsformen zu bewahren. Insofern bleibt es eine zentrale Aufgabe, die Neubestimmung von Ausgabenprioritäten politisch zu steuern und die neuen Regeln sozial und politisch akzeptabel zu gestalten.
Viertens: Solidität und Stabilität der Finanzsysteme bleiben grundlegende Anliegen. Dies um so mehr, als alle ostmitteleuropäischen Staaten im Zeitraum 1999-2001 gemäß der mit dem Eintritt in die OECD eingegangenen Verpflichtungen sowie entsprechenden Regelungen der Europa-Abkommen ihre Kapitalbilanzen liberalisiert haben. Während der Beitritt zur Eurozone die damit zusammenhängenden Probleme automatisch lösen wird, bleibt die große Unbekannte, wie krisenresistent diese Finanzsysteme eigentlich sind. Eine detaillierte Analyse zu Polen, Ungarn, Slowenien, der Tschechischen und der Slowakischen Republik (Schardax/Reininger 2001) hebt Verbesserungen im Bankwesen hervor, die zum großen Teil auf das Eindringen ausländischer Kapitaleigner zurückgeführt werden, welche inzwischen den größeren Teil des Bankvermögens besitzen (bis zu 76 Prozent im slowakischen Fall). Bankenaufsicht und Offenbarungspraxis haben sich verbessert, aber bei der Unternehmensfinanzierung stützt man sich weitgehend auf Lösungen außerhalb des Bankensektors, d.h. auf die Finanzierung durch Muttergesellschaften, auf Unternehmensobligationen und Auslandskapitalanleihen. Einheimische Aktienbörsen haben nach wie vor geringe Bedeutung für die langfristige Finanzierung des Unternehmenssektors. Die oben erwähnte Analyse hält die Anfälligkeit der ostmitteleuropäischen Finanzsysteme für begrenzt.
Die erheblichen Veränderungen der globalen Kapitalmärkte im Jahr 2001 und die anhaltende Schwäche lokaler Kapitalmärkte haben das Streben nach scale economies intensiviert. Dem westeuropäischen Beispiel folgend, haben die ostmitteleuropäischen Aktienbörsen bereits erste Schritte zur Fusion mit größeren internationalen Kapitalmärkten eingeleitet. Ein solcher, vermutlich mittelfristiger, Trend wird die lokalen Aktienbörsen nicht eliminieren, aber er wird die kleineren Börsen auf lokale Aktivitäten begrenzen. Großunternehmen werden sich dagegen wahrscheinlich bei großen Finanzzentren versorgen und dadurch den verbleibenden Spielraum der nationalen Regierungen für diskretionäre Regulation weiter reduzieren.
Fünftens: Je mehr wir über die Komplexität der beiden offenkundig wunden Punkte der EU-Osterweiterung - Landwirtschaft und Umweltpolitik - nachdenken, desto deutlicher wird der Bedarf an multidisziplinären Ansätzen und unkonventionellen Initiativen, um die gegenwärtig scharf kontrastierenden Interessen zwischen Altmitgliedern und Beitrittskandidaten auszugleichen. Die Crux besteht in folgendem: Beginnend mit den McSharry-Reformen von 1992, hat in der EU-Agrarpolitik ein gradueller, aber gravierender Orientierungswechsel eingesetzt, der durch die (moderaten) Reformen des Berliner EU-Gipfels von 1999 weiter forciert wurde (vgl. Schrader 2000). Er impliziert die Abkehr von Methoden der Kommandowirtschaft, aber auch die Umorientierung von der Agrarproduktion zur ländlichen Entwicklung, d.h. zu einer Reihe von Aktivitäten, die nicht direkt mit der Landwirtschaft zusammenhängen. Es geht darum, durch die Verbesserung von Lebensqualität, Umweltschutz und Erwerbsmöglichkeiten außerhalb des Agrarsektors die Landflucht zu bremsen. Dieser Kurswechsel entspricht ganz den Interessen der Steuerzahler innerhalb der EU sowie von Exporteuren aus den USA und den Entwicklungsländern. Aber er läuft den Bestrebungen derjenigen Produzenten direkt zuwider, die in den Transformationsländern gegenwärtig die Politik prägen. Aus deren Perspektive besteht der maßgebliche Reiz einer EU-Mitgliedschaft in der Ausdehnung der großzügigen Produktions- und Einkommenssubventionen, wie sie die Landwirte der Altmitglieder genießen. Diese Priorität findet ihren Ausdruck in der Forderung nach "umgehender Gleichbehandlung" nach dem Beitritt.
Es ist kaum zu übersehen, daß die Definition und Neubestimmung der Rolle der Landwirtschaft eine grundlegende gesellschaftspolitische Entscheidung ist, die die Zukunft einer Nation maßgeblich prägt. Die Beitrittskandidaten haben die Entwicklungsetappe, die Westeuropa seit den frühen 1950er Jahren kennzeichnet, noch nicht durchlaufen. Daher werden viele ihrer regionalen Disparitäten und die sich daraus ergebenden sozialen Spannungen in ein sektorales Problem transformiert.
Theoretisch könnte eine großzügige Auslegung der EU-Regionalhilfeprogramme im Rahmen der Struktur- und Kohäsionsfonds den größten Teil der Problematik lösen helfen. Was über die beabsichtigten Reformen dieser Programme bislang bekannt ist, läuft allerdings darauf hinaus, daß sie künftig eine eher geringere denn größere Rolle spielen sollen. Auch verfügen die ostmitteleuropäischen Kommunalverwaltungen noch bei weitem nicht über hinreichende administrative Kapazitäten, um die für sie vorgesehenen Fonds in vollem Umfang nutzen zu können.
Kurz und gut, auf der Tagesordnung steht eine komplexe Problematik, die Aspekte von Territorialentwicklung, Verwaltungsreform und beruflicher Ausbildung einschließt und auch einen Wandel in den sozialen Wahrnehmungen erforderlich macht, der aber beide Seiten in ihren Beitrittsstrategien bislang wenig Rechnung tragen. Dabei liegt auf der Hand, daß es sich im Kern nicht um Fragen des Geldes (um die Höhe von offiziellen Transfers und ihre Nettobilanz), sondern um tieferliegende und vielfältige Probleme handelt.
Folglich sind auch komplexe Antworten gefragt, die sich direkt auf die Verteilung der Kosten und Gewinne einer EU-Erweiterung, auf die soziale Akzeptanz der mit der Erweiterung einhergehenden Intensivierung des Wettbewerbs und nicht zuletzt auf die Frage der regionalen Disparitäten beziehen. Das letztgenannte Problem stellt sich bei den Kandidatenländern weitaus schärfer als bei den Altmitgliedern, wird aber auch für diese zunehmend relevant, wenn es zu Rückwirkungen auf den allgemeinen bzw. übergeordneten politischen Prozeß kommt. Der wachsende Euroskeptizismus, der in der Wahl von drei euroskeptischen Parteien in den polnischen Sejm ebenso deutlich wird wie darin, daß zwei marktfeindliche und euroskeptische Kandidaten im Dezember 2000 in die Endrunde der rumänischen Präsidentschaftswahl einzogen, und den auch die Partei von Václav Klaus, dem Favoriten für die nächsten tschechischen Wahlen, seit langem vertritt, ist ein deutlicher Indikator für die unmittelbare Relevanz der genannten Probleme. Im Hinblick auf die EU-Erweiterung scheint also die Zeitspanne für reale Konvergenz, die mit Hilfe von Handelsmodellen unschwer zu errechnen sein dürfte, das geringste Problem zu sein. Andere Kosten und Gewinne dürften diejenigen überwiegen, die wir bei der Berechnung von Marktzugängen und Arbeitsmarkteffekten normalerweise quantifizieren. Um einen adäquaten konzeptionellen Rahmen zu finden, sind multidisziplinäre Ansätze erforderlich.
Der Ruf nach Multidisziplinarität erscheint geradezu als trivial, zieht man den sechsten Punkt, die Umweltpolitik, in Betracht. Dies ist der wachstumsstärkste Bereich der EU-Gesetzgebung; in den politischen Entscheidungsprozessen der ostmitteleuropäischen Länder ist die Grüne Agenda dagegen nur schwach repräsentiert. Es liegt auf der Hand, daß dieses multidimensionale und ziemlich kostspielige Politikfeld gänzlich neue Herangehensweisen erfordert. Bisher sind die Verhandlungen zu dieser Problematik hauptsächlich von Taubheit gekennzeichnet. Während die EU-Verhandlungsführer häufig fundamentalistische Positionen vertreten - wie etwa die aus dem Kommissionsbericht vom Dezember 1997 bekannte Forderung an die Kandidatenländer, noch vor dem Beitritt 120 Milliarden Euro im Umweltbereich auszugeben -, versuchen letztere, sich um das Thema herumzudrücken. Ein nicht-revolutionärer Ansatz, der alle Erfordernisse in Betracht zieht, könnte vermutlich der Grünen Agenda zu mehr Geltung in Ostmitteleuropa und der EU-15 zu realistischeren Zeit- und Kostenkalkulationen verhelfen. Je mehr der Eindruck entsteht, die Ausdehnung der EU-Umweltstandards auf die Nachbarländer liege hauptsächlich im Interesse der Altmitglieder, desto mehr kommt es darauf an, diese Priorität so zu operationalisieren und zu vermitteln, daß sie auf ernsthafte Weise in die einheimische politische Agenda der ostmitteleuropäischen Staaten integriert werden kann.

4. Integration, Globalisierung und offene Fragen

Was ich hier vorgestellt habe, war ein fragmentarischer Überblick über Probleme in bezug auf Transformationsforschung, Entwicklungsökonomie und EU-Integration. Es scheint trivial, daß die ostmitteleuropäischen Länder nicht nur Europa zuliebe der EU beitreten wollen, sondern dies als Teil einer Strategie betreiben, die auf globale Wettbewerbsfähigkeit gerichtet ist. Zur Zeit wissen wir noch reichlich wenig über Ursachen und Bedingungen des Erfolgs. Solche Bedingungen - wie Vertrauen, Glaubwürdigkeit, durchdachte Politikprogramme und solide Institutionen - sind relativ leicht zu unterstellen und zu axiomatisieren, aber in der realen Welt schwer umzusetzen. Wie ich gezeigt habe, konvergieren Transformations- und Entwicklungsforschung tendenziell in der Betonung von Institutionen, politischen Maßnahmen (policies) und Multidisziplinarität, ohne jedoch das Paradigma der Standardökonomie in Frage zu stellen. Das hat zu tun mit der Natur der anstehenden Probleme, insbesondere der Reformthemen der zweiten und dritten Generation wie etwa der Wohlfahrtsreform, wie auch mit der neuen Rolle von Landwirtschafts- und Umweltpolitik im pan-europäischen und globalen Kontext.
Reformen in diesen Bereichen sind ihrer inneren Logik nach komplexer als die traditionelle SLIP-Agenda, und zwar aus mindestens drei Gründen (vgl. Krueger 2000: 591). Erstens bedarf es des politischen Entscheidungsprozesses, um den Wandel in Gang zu setzen; zweitens sind weitaus sorgfältigere und detailliertere Vorbereitungen erforderlich, wobei keine Standardtechniken zur Verfügung stehen, und drittens ist in den Feldern, wo bislang noch keine Reformen eingeleitet wurden, mit mehr Widerstand zu rechnen, d.h. der Handlungsbedarf an sich ist hier umstritten.
Ich möchte hinzufügen, daß im Hinblick auf Reformen der zweiten und dritten Generation ein professioneller Konsens schon innerhalb eines einzelnen Landes kaum herzustellen sein wird, geschweige denn EU-weit oder im globalen Rahmen. Die trial and error-Methode sowie ein konstanter Austausch von Meinungen und Erkenntnissen erlangen somit erstrangige Bedeutung. Je widersprüchlicher die Befunde, desto mehr Tiefenprüfung ist gefragt. Wir wissen oft nicht genug über die Faktoren, die Qualität beeinflussen, und das kann sich für anwendungsorientierte Forschungszweige als ernstes Problem erweisen. Wir gehen davon aus, daß Bildung und ihre Auswirkungen auf Wachstum und Wohlstand, Solidität in den Finanzen oder Vertrauen in generalisierter Form für Gesellschaften mit hoch entwickelter Arbeitsteilung von essentieller Bedeutung sind, aber wir sehen uns erheblichen Schwierigkeiten hinsichtlich der Quantifizierung gegenüber. Hier stehen wir vor einem trade-off: Wir haben breitere Ansätze, die geeignet sind, einige der zuvor exogenen Faktoren zu endogenisieren, aber nur um den Preis der Aufgabe der Exaktheit, die quantitativen Methoden inhärent ist (Saint-Paul 2000). Auf der anderen Seite haben quantitative Ansätze auch Fortschritte erzielt in der Endogenisierung von Einsichten, die durch breiter angelegte Analysen gewonnen wurden, wie etwa hinsichtlich des sozialen Kontextes von Innovationen, der bereits zur Politisierung der Wachstumstheorie geführt hat (Hibbs 2001).
Wie ich versucht habe, anhand der sechs großen Unbekannten der EU-Erweiterungsstrategie zu dokumentieren, muß die politisch relevante Analyse ihrer Natur nach multidisziplinär bleiben. Ökonomen sind nicht gut genug ausgestattet, um über die Qualität des Rechtssystems oder die Vor- und Nachteile bestimmter umweltpolitischer Optionen allein zu urteilen. Erfahrungen wie die ineffiziente Privatisierung der britischen Staatsbahn oder die exorbitanten Kosten des US-Gesundheitswesens gemahnen zur Vorsicht gegenüber Lösungen "von der Stange". Kurz und gut, sowohl der Kanal der öffentlichen Meinungsbildung (public choice) als auch das feedback diverser Wissenschaftsdisziplinen (und zwar nicht nur der Sozialwissenschaften) sind konstant gefordert, sollen vorwärtsweisende Lösungen gefunden werden. Nun, da der Bedarf an EU-internen Reformen in all den brisanten Feldern wie Landwirtschaft, Regionalpolitik und Entscheidungsstrukturen wiederholt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, könnte sich die Zeit als günstig erweisen für weitere - multidisziplinär und international ausgerichtete - Forschungskooperationen, die Resultate erbringen könnten, welche dem gegenwärtigen Status quo überlegen wären. Die EU-Erweiterung ist kein Anschluß, sie ist eine Herausforderung, um Marktwirtschaft und die Bedingungen langfristiger Entwicklung in Europa neu zu bestimmen (Eatwell et al. 1997). Vorerst haben wir mehr Fragen als - handhabbare - Antworten.

Aus dem Englischen von Jan Wielgohs

Anmerkung
1 Vgl. ECE Economic Survey for Europe, No. 1, 2001, p. 254. Diese Einschätzung wird mitunter angefochten, so von Åslund (2001), der so weit geht, die Bedeutung und Existenz jeglichen Leistungs- und Wohlstandsverlusts im Postkommunismus in Frage zu stellen.

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