Kardinal Ratzingers Trauma

Die Odyssee Blochs war mit dem Lehrverbot in Leipzig noch nicht zu Ende. Die Blochs befanden sich auf einer Reise in der BRD, als 1961 die Mauer errichtet wurde, beide kehrten nicht in die DDR zurück

Die Odyssee Blochs war mit dem Lehrverbot in Leipzig noch nicht zu Ende. Ernst und Karola Bloch befanden sich auf einer Reise in der Bundesrepublik, als 1961 die Mauer errichtet wurde, beide kehrten nicht in die DDR zurück. Im neuen Wohnort Tübingen war der für die DDR unerträgliche Philosoph als Quasi-Nachfolger Heideggers bald Anziehungspunkt einer rebellischen, mindestens unzufriedenen Studentengeneration, was den Unmut zahlreicher Konservativer auf ihn lenkte. Ganz besonders betroffen von der Ausstrahlungskraft dieses Neubürgers am Neckar fühlte sich ein jüngerer Kollege vom Jahrgang 1927, sein Name: Joseph Ratzinger, der schließlich nach Rom auswich, inzwischen zum obersten Sittenwächter eines erzkonservativen Katholizismus aufstieg und zu seinem 75. Geburtstag am 16. April 2002 von den Medien ringsum gefeiert, wo nicht in den Himmel gehoben wurde, zu dem er ohnehin schon die innigsten Beziehungen pflegte.

Der einstige Tübingen-Flüchter entwickelte sich zu einer Säule des weitgestreckten Kirchenstaates, was der Leiter der Vatikanischen "Kongregation für die Glaubenslehre" auch fürderhin bleiben soll. Der Regel gehorchend hätte ein Fünfundsiebzigjähriger aus seinem Amte im Vatikan auszuscheiden, doch Karol Wojtyla, Papst Johannes Paul II., möchte mit seinen 82 Jahren den energischen sieben Lenze jüngeren Deutschen und Nachfolger der Inquisitions- und Zensurbehörde nicht missen. Begonnen hatte die nichtweltliche Weltkarriere Ratzingers mit einem Schockerlebnis Anfang der sechziger Jahre, als Bloch, der von konservativen SED-Politikern aus der Leipziger Karl-Marx-Universität entfernte Philosoph, sein neues Amt antrat und regen Zulauf erhielt. "Ernst Bloch lehrte nun in Tübingen und machte Heidegger als einen kleinen Bourgeois verächtlich."

So ein entnervter Ratzinger, der in Bloch die "marxistische Versuchung " der "Theologischen Fakultäten" nahen sah, weshalb der Kampf für das von "existentialistischer Reduktion" bedrohte Christentum aufgenommen werden müsse.

Es war fast wie vordem in Leipzig, nur hatten dort die herrschenden Glaubenswächter im Philosophen den feindlichen Nicht-Marxisten bekämpft, während Ratzinger jetzt den existentiellen Erz-Marxisten um sich greifen sah. Also gab er seine bisherige liberale Haltung auf, verließ den freundlichen Neckar-Ort seines Schreckens und landete nach diversen Zwischenstationen im obersten Zensoren-Amt seiner Heiligen Kirche, von wo aus er alles bekämpft, was die Dogmen bedroht: Frauen, Befreiungstheologen, Kommunisten, Liberale, Hans Küng, Zweifel an der Vormacht des Papstes, die Schwangeren-Konflikt-Beratung, die Reformation, die modernen Ansprüche der Laienbewegung, die Liberalisierung von Sexualmoral Â…

Ratzinger erkannte schlagartig die Gefahr für den reinen Glauben, das Trauma traf ihn mit voller Wucht mitten in die beziehungsweise in der Seele. Wie Jehova einst Saul andonnerte: Saul - weshalb verfolgst du mich? - so sah Professor Ratzinger sich angerufen, nur schlug er den umgekehrten Weg ein, vom liberalen zum unnachsichtig strafenden Gottesmann, hatte er doch dort zu Tübingen mitten ins "Antlitz atheistischer Frömmigkeit" blicken müssen.

Es darf aber allein eine gottgewollte Frömmigkeit geben, die zu schützen und zu mehren der Weg nur nach Rom führen kann. So erfuhr das kleine Parteistaatsschauspiel von Leipzig in Tübingen seine weltkirchliche Fortsetzung. Die Reinheit der Lehre war für die einen in Moskau verkörpert, für die anderen ist sie es in Rom. Die einen bauen Kirchen, die anderen reißen sie ein. Hörsäle bauen alle. Und reißen sie ein. Denn die "atheistische Frömmigkeit", die alle Gläubigen zu umfassen anhebt, unterspült den Fels der Fanatiker sämtlicher Kirchen und Gegenkirchen. Über das Wirken Blochs im Leipziger Hörsaal 40 notierten wir: "Die Blochsche List, in der dieser ganze Skandal kulminierte, bestand in der Entheiligung des Dogmas." Um welches Dogma es sich dabei handelt, wußte schon der junge Marx: "Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in Gesellschaft der Freiheit, am Tage ihrer Beerdigung."

Bloch übrigens reagierte mit wenig Verständnis auf Ratzingers Feindseligkeit. In Leipzig befand sich sein Direktorenzimmer nur ein paar Schritte von dem des Theologen Emil Fuchs entfernt, der nicht nur als Vater des Atomspions Klaus Fuchs bekannt war, sondern auch als christlicher Sozialist auf eine achtbare antifaschistische Vergangenheit zurückblickte. Es gab eine Christen wie Sozialisten einende Gemeinsamkeit in der revolutionären Reformation.

Am 4. August 2002 jährt sich der 25. Todestag des Philosophen, der im Tübinger Exil verstarb.

in: Des Blättchens 5. Jahrgang (V) Berlin, 5. August 2002, Heft 16