Militärpolitische Mäusefänger

In der klugen Erkenntnis, daß Parteitagsbeschlüsse in der Bevölkerung kaum Interesse finden, haben die beiden großen Konkurrenten der bevorstehenden Bundestagswahl, CDU/CSU und SPD, ...

... gleich ihre Regierungsprogramme für den Fall vorgelegt, daß sie die Wahl gewinnen. So signalisieren sie Selbstbewußtsein und Realismus. Um so mehr muß es in den Kapiteln Sicherheitspolitik und Bundeswehr verwundern, daß die Realität hier einem oft maßlosen Wunschdenken zum Opfer fällt. Das Motto ist offensichtlich: Mit Speck fängt man Mäuse. Immerhin stellt die Bundeswehr mit Verwaltung und Angehörigen ein Potential von rund einer Million Wähler.
Einen Rekord an Übertreibung leisten sich CDU/CSU, wenn sie in ihrem Regierungsprogramm 2002-2006 versprechen: "Vor dem Hintergrund der Gesamtheit der Aufgaben muß die Bundeswehr einen Umfang von mindestens 300 000 Mann - davon 100 000 Wehrpflichtige - haben." Einmal davon abgesehen, daß die Existenz weiblicher Soldaten schlicht unterschlagen wird, wissen die Fachleute der Unionsparteien aus eigener Erfahrung, daß eine derart große Armee, noch dazu modern gerüstet und gut ausgebildet, nicht zu bezahlen ist. Denn schon die Regierung Kohl hat an Soldaten und Rüstung kräftig gespart. Die weitere Feststellung im CDU/CSU-Regierungsprogramm "Der Verteidigungshaushalt wird aufgabengerecht spürbar angehoben" läßt sich daher bereits vor der Wahl als unseriöses Versprechen durchschauen.
Kann man nun aber den Schwesterparteien zugute halten, daß sie auch um den Preis unhaltbarer Versprechungen wieder an die Macht kommen wollen, so muß man die Aussagen der SPD in ihrem Regierungsprogramm 2002-2006 selbst dann strenger beurteilen, wenn die Autoren die Angabe konkreter Zahlen vermeiden und stattdessen schlicht und unrealisierbar verkünden: "Wir werden die Reform der Bundeswehr weiterführen." Mit dem Schlagwort Reform treiben zwar alle Parteien gern Schindluder, aber selten so drastisch wie in diesem Falle. Denn hinter dem Begriff Reform verbirgt sich hier eine Armee von gut 200 000 Zeit- und Berufssoldaten sowie rund 80 000 Wehrpflichtigen und dem entsprechenden Personal für die Wehrverwaltung. Das groteske Feilschen in den vergangenen Monaten um die Finanzierung des aus militärischer Sicht dringend benötigten Transportflugzeuges oder des neuen Schützenpanzers mit dem Scharpingschen Traditionsnamen aus Nazizeiten "Panther" hat gezeigt, daß die überdimensionierten Pläne von Ex-Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Ex-Generalinspekteur Harald Kujat längst Makulatur geworden sind. Ungeachtet dessen heißt es im Regierungsprogramm der SPD für die nächste Legislaturperiode, man habe "mit der mittelfristigen Finanzplanung für die Bundeswehr und dem beschlossenen Programm für Innere und Äußere Sicherheit ... finanzielle Planungssicherheit für die Bundeswehr geschaffen". Kann die SPD eine solche Behauptung ernsthaft aufstellen, wenn sie glaubt, auch zukünftig die Regierung zu stellen? Wohl kaum.
Zu den großen Illusionen in den Regierungsprogrammen beider großer Parteien gehört aber nicht nur eine überdimensionierte Armee, sondern auch das unbeirrte Festhalten an der Wehrpflicht. Zur Begründung beschränkt sich die SPD auf die Behauptung, nur die allgemeine Wehrpflicht könne helfen sicherzustellen, "daß die Bundeswehr künftig in der Gesellschaft fest verankert bleibt". CDU/CSU fügen noch hinzu, die Wehrpflicht sei auch "sicherheitspolitisch geboten, um die notwendige Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr zu gewährleisten und einen qualitativ und quantitativ ausreichenden Nachwuchs zu erhalten". Einmal abgesehen davon, daß der Zwangsdienst für junge Männer nicht mit Nachwuchsproblemen der Bundeswehr begründet werden kann und darf - was befürchten die große Parteien eigentlich von einer Armee, die ausschließlich aus Zeit- und Berufssoldaten besteht? Woher das Mißtrauen?
Mißtrauen ist gegenüber den Regierungsprogrammen von CDU/CSU und SPD geboten. Denn in beiden Dokumenten kommen die Begriffe Abrüstung und Rüstungskontrolle so gut wie gar nicht vor. Während die Unionsparteien die Notwendigkeit von Abrüstungspolitik einfach ignorieren, spricht die SPD zwar von der "Fortsetzung einer Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle", zählt auch einige Themenfelder auf, schweigt aber beharrlich zu der Frage, wie Abrüstung und Rüstungskontrolle gegen den wachsenden Widerstand der NATO-Schutz- und Führungsmacht USA durchgesetzt werden können. Vor diesem Hintergrund klingt die Behauptung der SPD in einem Flugblatt, sie habe "Deutschland zu einer Friedensmacht" entwickelt, wie bloße Ironie.
Selbstverständlich versichern beide große Parteien, den Frieden bewahren und die Sicherheit stärken zu wollen. Auch wollen sie die Menschenrechte weltweit fördern und soziale Ungerechtigkeit abbauen. Die Außenpolitiker wissen: Sicherheit ist ein Begriff, der schon seit längerem weit umfassender als nur militärisch definiert werden muß. Doch so richtig diese Erkenntnis ist - sie in Taten umzusetzen, kostet wiederum Geld, viel Geld. Keine der großen Parteien ist indessen bereit, die Entwicklungshilfe auf die ohnehin dürftigen 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes, so wie international vereinbart, anzuheben. Die SPD geniert sich nicht zu versichern, sie wolle "bis zum Jahre 2006 unseren Anteil auf 0,33 Prozent des Bruttosozialproduktes steigern". CDU/CSU halten sich in diesem Falle mit konkreten Aussagen zurück und kündigen nur vage an, "sobald wie möglich die Höhe des Entwicklungsetats an die international vereinbarte Zielgröße von 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes anzunähern". Diese unverbindlichen Angaben sind in Anbetracht wachsender Armut und sozialer Ungerechtigkeit mehr als blamabel - gerade nachdem die rot-grüne Koalitionsregierung Deutschland unter dem Banner der Humanität auf dem Balkan und in Afghanistan in den Krieg geführt hat.
Vor diesem Hintergrund ist die derzeitige Debatte über eine Beteiligung deutscher Soldaten im Falle eines US-amerikanischen Angriffs gegen Irak mit äußerster Vorsicht zu genießen. Denn trotz der starken Worte von Bundeskanzler Gerhard Schröder gegen eine deutsche Beteiligung ist die Entscheidung im Ernstfall völlig offen. Zwar betont das SPD-Regierungsprogramm "die verläßliche Freundschaft zu Amerika" nicht ganz so uneingeschränkt wie die Konkurrenz von der Union; aber mit dem Satz "Man darf sich seiner Verantwortung nicht entziehen, wenn Völkermord oder die Eskalation gewaltsamer Konflikte drohen oder geschehen" hält sich die SPD alle Möglichkeiten offen, jederzeit gegen jede Art von sogenanntem Feind mit in den Kampf zu ziehen. Schließlich war es die rot-grüne Koalitionsregierung, die die Bundesrepublik Deutschland nach entsprechender Vorarbeit ihrer schwarz-gelben Vorgänger wieder zur kriegführenden Nation gemacht hat.

erschienen in Ossetzky 18-2002