Erweiterung und Vertiefung der EU:

Neoliberale Restrukturierung und trans­nationales Kapital

in (30.09.2002)

Der Europäische Gipfel von Göteborg im Juni2001 markierte einen Durchbruch für das Erweiterungsprojekt der EuropäischenUnion (EU). ...

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1. Einleitung

Der Europäische Gipfel von Göteborg im Juni 2001 markierte einen Durchbruch für das Erweiterungsprojekt der Europäischen Union (EU). Nachdem die EU lange Zeit den mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten widersprüchliche Signale gegeben hatte, wurde nun erstmals ein konkreter Fahrplan verabredet. Die Verhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Kandidaten sollen bis Ende 2002 abgeschlossen sein und das Jahr 2004 wird als Beginn der Osterweiterung genannt. Dieser Fahrplan wird generell als Zeichen dafür gewertet, dass der Erweiterungsprozess nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Dennoch bleiben die Signale, die die EU den Beitrittskandidaten sendet, auch nach dem Göteborger Gipfel sehr gemischt. Der Termin für den Abschluss der Beitrittsverhandlungen ist erstens nicht verbindlich, und es ist entscheidend, dass diese Interpretation am deutlichsten von der Bundesrepublik Deutschland vertreten wird. Die deutsche Zustimmung ist für die Erweiterung jedoch unerlässlich. Zweitens gerät der vorgeschlagene Termin in Konflikt mit zwei der umstrittensten Reformen der EU: die der Landwirtschaftspolitik und die der Finanzierung der Regionalfonds. Drittens wird zunehmend deutlich, dass die EU nicht bereit ist, den Beitrittskandidaten auf absehbare Zeit die gleichen ökonomischen und sozialen Rechte einzuräumen wie den gegenwärtigen Mitgliedern. Dies wurde zuletzt in dem von der EU-Kommission im Januar 2002 vorgelegten Gemeinsamen Finanzrahmen für die Beitrittsverhandlungen deutlich. Weder im Bereich der Agrarsubventionen, noch für die Regional- und Strukturfonds ist derzeit eine Gleichbehandlung zwischen Alt- und Neumitgliedern vorgesehen.

Wie ist es zu erklären, dass die EU einerseits seit 1993 eine zunehmend kohärente Politik der Anbindung Mittelosteuropas (MOE) entwickelte, andererseits aber die Einlösung der Erweiterungsperspektive doch immer wieder hinauszuzögern droht? Ist die gegenwärtig sich abzeichnende soziale und ökonomische Ungleichbehandlung der Neumitglieder vorübergehender Natur oder verfestigt sich ein Zwei-Klassen Europa? Dies sind die Fragen, denen ich im folgenden nachgehen werde.

Im Gegensatz zu einem Großteil der EU-Forschung, die den Prozess der EU-Vertiefung und Osterweiterung getrennt voneinander behandelt[2], liegt meiner Analyse die Annahme zugrunde, dass die konkrete Form und die Ambivalenzen der Einbindung MOEs sich nur aus einer Untersuchung des Zusammenwirkens der vertieften regionalen Integration und des Erweiterungsprojektes erschließen lassen. Beide Prozesse gehorchen einer gemeinsamen Rationalität: Sie sind das Ergebnis eines neoliberalen Umbaus, der insbesondere von transnationalen Kapitalgruppen mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums in der Triade zu stärken, vorangetrieben wird.[3] Diese beiden Prozessen unterliegende Rationalität führt jedoch, wie ich im folgenden zeigen werde, zu unterschiedlichen Ergebnissen. Die Vertiefung, die Mitte der 1980er Jahre als ein Elitenprojekt transnationalem Kapitals und supranationaler Akteure begann, mündete in eine prekäre hegemoniale Konstellation. Über Kompensationszahlungen und den Appell an national(istisch)e Gefühle werden schwächere Akteure in das neoliberale Projekt eingebunden (Teil zwei). Demgegenüber beruht die konkrete Form der Einbindung MOEs seit Anfang der 1990er Jahre auf dem Export einer sehr viel "marktradikaleren" Variante des Neoliberalismus. Dies erlaubt transnationalen Kapitalgruppen den Zugriff auf die osteuropäischen Standorte, und schützt die EU gleichzeitig vor internen verteilungspolitischen Konflikten, die die prekäre hegemoniale Konstellation des neoliberalen Umbaus gefährden könnten (Teil drei). Im vierten Teil werde ich argumentieren, dass die Beitrittskandidaten selber kaum in der Lage sind, die Bedingungen der Osterweiterung zu beeinflussen. Ungleiche Machtbeziehungen zur EU, gesellschaftlich schwach verankerte Reformeliten, die die externe Absicherung ihrer Politik suchen und der Wettlauf zwischen den einzelnen Kandidaten um die vorderen Plätze in der Erweiterung verhinderten bislang, dass die osteuropäischen Länder den Vorgaben der EU signifikanten Widerstand entgegensetzten.

2. Neoliberaler Umbau in Europa:
     "Eingebetteter" Neoliberalismus im Westen...

2.1 Die neue Dynamik der Europäischen Integration

Der neue Aufschwung, den der europäische Integrationsprozess seit Mitte der 1980er Jahre genommen hat, trägt deutlich neoliberale Züge. Das Binnenmarktprojekt zielte auf die Wiederherstellung ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit in der Triade. Mittels "negativer Integration" (Scharpf 1996) wurden die nationalstaatlichen Regulationsweisen zueinander in Konkurrenz gesetzt. Es entstand eine "Kompetenzlücke" in der nationale Politiken in ihren Problemlösungskapazitäten eingeschränkt wurden, ohne dass auf europäischer Ebene adäquate Kompetenzzuwächse errichtet wurden. Der Vertrag von Maastricht stellt eine qualitativ neue Stufe in der europäischen Integration dar. Sein zentrales Novum, die Wirtschafts- und Währungsunion, bildet den supranationalen Kern des neuen EU-Systems. Nach außen zielt die Wirtschafts- und Währungsunion auf die Ausdehnung des europäischen Handlungsspielraums in der Währungskonkurrenz. Nach innen verpflichtet sie die politischen Akteure auf orthodoxe monetaristische Geld- und Finanzpolitiken, die nur wenig Spielraum für Lohn- und Umverteilungspolitiken lassen (Altvater/Mahnkopf 1993, Bieling 2001).

Die Währungsunion bildet nur die eine Flanke des im Vertragswerk von Maastricht festgeschriebenen Ziels der "Förderung der Wettbewerbsfähigkeit des organisierten Europas" (Schaper-Rinkel 1999: 39). Die andere Flanke wurde 1993 in dem Weißbuch der Kommission zu Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung konkretisiert, welches sich "zu einem zentralen intellektuellen Referenzpunkt der wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion innerhalb der EU entwickelt hat" (van Apeldoorn 2000: 209). Das Weißbuch hebt die Bedeutung industrie- und innovationspolitischer Maßnahmen sowie bildungspolitischer Aktivitäten hervor, um die westeuropäische Konkurrenzposition zu verstärken. Anders als in dem negativen Integrationsprojekt des Binnenmarktes wird hier offen einer europäischen Innovations- Informations- und Infrastrukturpolitik das Wort geredet. Das Konzept und die Ideologie der Wettbewerbsfähigkeit standen seitdem für weitere europäische Initiativen Pate. So wurde 1995 eine Competitiveness Advisory Group ins Leben gerufen, deren Aufgabe es ist, die neue Ideologie zu operationalisieren. Eines der von dieser Gruppe geförderten Konzepte ist das "Benchmarking", welches definiert wird "als ein Werkzeug, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die ‚Konvergenz zur besten Praxis‘ zu fördern. Dies umschließt auch den globalen ‚Vergleich des gesellschaftlichen Verhaltens, der kommerziellen Praxis, der Marktstrukturen und öffentlichen Institutionen‘" (Europäische Kommission 1997, zit. in van Apeldoorn 2000: 212). Benchmarking zielt damit deutlich auf den neoliberalen Umbau in allen gesellschaftlichen Sphären.

2.2          Die Rolle des transnationalen Kapitals

In der Literatur ist bereits oft auf die Rolle hingewiesen worden, die transnationale Kapitalgruppen in der Durchsetzung der neoliberalen Agenda der EU spielen. In enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission und häufig unter Umgehung nationaler Parlamente haben diese Kräfte entscheidenden Einfluss auf die verschiedenen Initiativen genommen, die die Bausteine des neuen Europas geworden sind (Sandholtz/Zysman 1989, Cowles 1995, van Apeldoorn 2000). Eines der zentralen Foren, welches "die Interessen und die Macht der am stärksten transnationalisierten Segmente des europäischen Kapitals vermittelt" (van Apeldoorn 2000: 189), ist der European Roundtable of Industrialists (ERT). Gegründet wurde er 1983, auf Initiative Pehr Gyllenhammars, dem Vorsitzenden von Volvo, mit der Unterstützung von Etienne Davignon, dem damaligen Vizepräsident der Kommission. Derzeit besteht der ERT aus 45 Vorsitzenden der größten und am stärksten internationalisierten industriellen Konzerne Europas.

Van Apeldoorn argumentiert, dass der ERT die politische Elitenorganisation einer sich formierenden transnationalen kapitalistischen Klasse bildet. Der ERT spielt eine zentrale Rolle in der Überwindung strategischer und ideologischer Spaltungen innerhalb dieser Klasse. Nach van Apeldoorn existieren unter den europäischen transnationalen Konzernen und den mit ihnen verbundenen sozialen Kräfte zwei unterschiedlich ausgerichtete Projekte zur Zukunft Europas. Das erste, neo-merkantilistische Projekt "bildete eine eher defensive Strategie der Regionalisierung, in der der Binnenmarkt als Etablierung eines europäischen ‚Heimat-Marktes‘ verstanden wurde. In diesem sollten dann (potentielle) ‚European Champions‘ ... dazu in der Lage sein, der intensivierten nicht-europäischen Konkurrenz erfolgreich zu begegnen" (van Apeldoorn 2000: 200). Dieses neo-merkantilistische Projekt wird insbesondere von denjenigen Kapitalgruppen unterstützt, die sich durch die intensivierte US-amerikanische und japanische Konkurrenz bedroht fühlen. Das zweite, neoliberale Projekt, welches sich stärker für Deregulierung und negative Integration sowie einen "offenen" Regionalismus einsetzt, wird von global orientiertem Finanz- und Industriekapital befürwort. Van Apeldoorn zeigt, dass sich das Kräfteverhältnis innerhalb des ERT und dessen Politik im Laufe der 1990er Jahre zugunsten des letzteren, global ausgerichtetem Kapital verschoben hat.

2.3 Die breitere Basis für den neoliberalen Umbau

Der Einfluss und das Kräfteverhältnis innerhalb des ERT allein kann die neoliberale Wende in der EU seit Mitte der 1980er Jahre natürlich nicht erklären. Der Neoliberalismus gewann vielmehr vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Krise und dem damit einhergehenden Legitimationsverlust des Keynesianismus in Europa an Bedeutung. Neoliberale Rezepte wurden zunehmend auch von zentristischen und sozialdemokratischen Kräften sowie Gewerkschaften als Problemlösungsstrategien akzeptiert. Darüber hinaus entdeckten diese Kräfte zunehmend die Bedeutung Europas für die Wiedergewinnung eines Teils ihrer auf nationalem Terrain verloren gegangenen Handlungsfähigkeit.[4] Die Einbindung sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Kräfte in das neoliberale Europa spiegelt sich in einer Reihe von Initiativen, insbesondere in der Aufwertung der Struktur- und Regionalpolitik, der Charta für soziale Grundrechte sowie der europäischen Beschäftigungspolitik wieder. Van Apeldoorn (2000) spricht daher von der Etablierung einer "eingebetteten neoliberalen Ordnung" in Europa, d.h. einer Ordnung, die sowohl das dominante, auf Deregulierung und offenen Regionalismus abzielende Projekt, wie aber auch Elemente der neo-merkantilistischen und sozialdemokratischen europapolitischen Vorstellungen wiederspiegelt. Allerdings macht er deutlich, dass die Einbeziehung der Forderungen gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Kräfte (sowie des defensiv-industriellen Kapitals) nur eine untergeordnete Stellung einnimmt (van Apeldoorn 2000: 214, vgl. auch Bieling 2001). Zur Herstellung gesellschaftlicher Unterstützung für den neoliberalen Umbau in der EU sind die redistributiven und sozialen Politikelemente daher nicht ausreichend. Hierfür scheint mir ein anderer und langfristig sehr viel widersprüchlicherer Sachverhalt von zentraler Bedeutung zu sein: die Mobilisierung der Gesellschaften unter einem national(istisch)en Banner, die in den europäischen Integrationsprozess eingeschrieben ist.

Um das Argument zu entwickeln, dass die national(istisch)e Mobilisierung der europäischen Gesellschaften in das Projekt neoliberaler Restrukturierung eingeschrieben ist, ist es notwendig, sich kurz das grundlegende Muster der neuen europäischen Integrationsweise zu vergegenwärtigen. Wie weiter oben dargestellt, ist es das Ziel der Integration, die Wettbewerbsfähigkeit auf (möglichst) allen Ebenen der europäischen Gesellschaften zu stärken. Ziltener (1999) bezeichnet dementsprechend die neue Integrationsweise als wettbewerbsstaatlich. Kennzeichen dieser Integrationsweise ist, dass die europäische Ebene durch Vergemeinschaftung bestimmter Politikbereiche (z.B. Währungspolitik), das Setzen veränderter Rahmenbedingungen für staatliches Handeln sowie durch die In-Konkurrenzsetzung von nationalen Regulationsweisen als zentrale Schnittstelle fungiert, mittels derer die nationale Wettbewerbsstaatlichkeit in der EU durchgesetzt wird (zum Konzept des nationalen Wettbewerbsstaates vgl. Hirsch 1995, Altvater 1994). D.h. obwohl es zu einer signifikanten Aufwertung der europäischen Ebene im Rahmen der neuen Integrationsweise kommt, führt dies nach Ziltener nicht zur Herausbildung supranationaler Staatlichkeit, sondern die Anpassung an die veränderte Integrationsweise wird im Rahmen der nationalen Gesellschaften vorgenommen. Von der gesellschaftlichen Mobilisierung im nationalen Rahmen zeugt beispielsweise das Wiedererstarken korporatistischer Arrangements in Europa (Bieling 2001, Perez 2000, Schulten 2000). Diese Arrangements unterscheiden sich wesentlich vom Korporatismus der 1960/1970er Jahre. In dem neuen "Wettbewerbskorporatismus" (Rhodes 1998) werden die Gewerkschaften auf Lohnzurückhaltung und Unterstützung im Umbau der Sozialversicherungssysteme verpflichtet, wird die Flexibilität der Arbeitsmärkte gefördert, etc. Der Wettbewerbskorporatismus bindet damit Gewerkschaften und Arbeitnehmer in die Sicherung des nationalen Standorts im internationalen Konkurrenzkampf ein.

Es ist dabei nicht viel, was nationale Mobilisierung von einer nationalistischen trennt. Wie Streeck (1999) ausführt, ist Konkurrenz eine durchgreifende Kraft, welche die gesellschaftliche Solidarität selbst dort verändert, wo sich eine Volkswirtschaft erfolgreich an den verstärkten Marktdruck anpasst, und auch auf Sektoren durchschlägt, die diesem Druck nicht direkt ausgesetzt sind. Unter dem Fordismus-Keynesianismus beruhte gesellschaftliche Solidarität auf einem doppelten - sozialen und nationalen - Prinzip: Die Sozialpolitik sorgte für eine breite Umverteilung der Marktergebnisse im nationalstaatlichen Rahmen. Im Zuge verstärkter internationaler Konkurrenz wird der Sozialstaat aber zunehmend einseitig als Kostenfaktor angesehen, und in Richtung des nationalen Wettbewerbsstaates umgebaut. Gesellschaftliche Solidarität wird damit immer stärker restriktiv auf ihre nationale Grundlage zurückgeführt. Diese nationale Grundlage kann mehr oder weniger umfassend definiert werden: In ihrer "gutartigen" Form können auch schwächere gesellschaftliche Gruppen einbezogen werden, wie beispielsweise in den oben beschriebenen Wettbewerbskorporatismen. Es ist aber fraglich, inwieweit diese "gutartige" Form nationaler Solidarität als Basis ausreichend ist, um den destruktiven Tendenzen strukturellen Wandels, zunehmender Unsicherheit und wachsender Ungleichheit, die Hand in Hand gehen mit der neoliberalen Restrukturierung, etwas entgegenzusetzen. Als Alternative bietet sich eine "bösartige", ausschließende Form nationalistischer Solidarität an, die von den in ihrer Bedeutung stark zunehmenden neuen rechtspopulistischen Parteien vertreten wird. Diese Parteien verbinden eine marktradikale neoliberale Agenda mit der Zurückweisung des sozialen und individuellen Gleichheitsprinzips und berufen sich dabei offensiv auf xenophobe und nationalistische Argumente, um die "Verlierer" der neoliberalen Transformation anzuziehen. Ihr Erfolg liegt allerdings darin begründet, dass sie sich nicht ausschließlich auf Verlierer stützen, sondern ein Bündnis zwischen diesen und Segmenten der neuen Mittelklassen schaffen, die die marktradikale Agenda unterschreiben (Betz 1993).

Insgesamt wird die neoliberale Restrukturierung, die die Grundlage für den Vertiefungsprozess der EU bildet, also von einem spezifischen historischen Block getragen.[5] Dieser Block besteht aus einem Bündnis der entstehenden transnationalen kapitalistischen Klasse mit sozialdemokratischen, zentristischen und gewerkschaftlichen Kräften sowohl aus den Zentren wie den Peripherien, wobei erstere dominieren. Die untergeordneten Gruppen werden über Redistributionszahlungen und soziale Politiken sowie über die Berufung auf die nationale Solidarität mit dem Ziel der Standortsicherung im internationalen Konkurrenzkampf in den hegemonialen Block eingebunden. Als Resultat dieser spezifischen Kräftekonstellation hat der sozioökonomische Umbau in Westeuropa bislang zu einer eingebetteten Form des Neoliberalismus geführt. Die neoliberale Ausrichtung der Restrukturierung Westeuropas wird von keiner relevanten politischen Kraft ernsthaft in Frage gestellt, wohl aber die eingebettete Form. Erstarkende rechtspopulistische Kräfte propagieren eine neue Sicherheitsagenda, die Reduzierung sozialer Solidarität mit den Schwachen in der Gesellschaft und bemächtigen sich nationalistischer und xenophober Ideologien, um die Verlierer des Neoliberalismus symbolisch zu kompensieren.

Wie hat dieser historische Block mit seinem Projekt neoliberaler Restrukturierung die EU-Politik gegenüber Osteuropa geprägt? Im folgenden werde ich argumentieren, dass die EU eine sehr viel marktradikalere Variante des Neoliberalismus zu den Beitrittskandidaten exportiert hat.

3. Â… und Marktradikalismus im Osten

Obwohl die EU-Akteure seit dem Zusammenbruch des Sozialismus wiederholt ihre besondere Verantwortung für die östlichen Nachbarn und ihren Willen zur Unterstützung von deren Reformanstrengungen betont haben, entwickelten sich die institutionellen Beziehungen zwischen West und Ost nur sehr zögerlich. Zunächst versuchte die EU, die osteuropäischen Nachbarn mittels speziell für diese entwickelte Assoziierungsverträge (die sog. Europa-Abkommen) auf Distanz zu halten. Erst 1993, auf dem Gipfel von Kopenhagen, eröffnete sie die Beitrittsperspektive, die jedoch an eine Reihe von politischen und ökonomischen Bedingungen geknüpft wurde. In der Folge stellten 10 MOEL[6] (sowie Malta, Zypern und die Türkei) Beitrittsanträge. Seitdem entwickelte die EU eine zunehmend kohärente Strategie, um die Kandidaten auf den Beitritt vorzubereiten. 1997 veröffentlichte die Kommission zum erstenmal ihre Stellungnahmen zu dem Fortschritt der Kandidaten bei der Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien. Auf der Grundlage dieser Stellungnahmen wurden im März 1998 Erweiterungsverhandlungen mit zunächst fünf MOEL, eineinhalb Jahre später dann mit allen 10 Beitrittskandidaten aufgenommen. Die Verhandlungen mit den am weitesten fortgeschrittenen Kandidaten sollen bis Ende 2002 abgeschlossen sein und das Jahr 2004 wird derzeit als Beginn der Osterweiterung genannt (vgl. für einen Überblick über die Entwicklung der Beziehungen zwischen EU und MOE z.B. Grabbe 1999).

Obwohl sich die konkrete Architektur der Osterweiterung nur zögerlich herausgebildet hat, ist jedoch, wie im folgenden gezeigt werden soll, von Anfang an ein klargeschnittenes Muster in den Beziehungen zwischen der EU und den MOEL erkennbar.

3.1 Das Muster der EU-MOE Beziehungen

Das Beziehungsmuster zwischen der EU und den Beitrittskandidaten aus MOE, welches sich kontinuierlich über die 1990er Jahre reproduziert hat, beruht auf einer asymmetrische Machtbeziehung zwischen der EU und den MOEL. Diese wird durch das Naben- und Speichensystem politischer und ökonomischer Beziehungen, die die EU ihren osteuropäischen Nachbarn auferlegt hat, verstärkt und ist durch ein hohes Maß von Konditionalität geprägt. Beide Charakteristika ermöglichen es der EU Kernbereiche ihres Deregulierungsprojektes auf die MOEL auszuweiten, und gleichzeitig die Ausdehnung derjenigen Bereiche, die zu stärkeren EU-internen Verteilungskonflikten führen würden, immer weiter hinauszuzögern.

Dass zwischen der EU und den MOE-Beitrittskandidaten asymmetrische Machtbeziehungen bestehen, ist nicht überraschend. Ökonomisch und politisch ist die EU der stärkere Part in den Beziehungen, und es sind die MOEL, die dem Club beitreten wollen. Die EU hat diese Ausgangsbedingungen jedoch über die 1990er Jahre kontinuierlich verstärkt, indem sie auf eine bilaterale und differenzierte Behandlung der einzelnen Kandidaten beharrte. Diese Herangehensweise zeigte sich bereits in den ersten institutionellen Verbindungen mit den MOEL (die Handels- und Assoziierungsabkommen, sowie das Phare Programm), und sie ist ebenfalls für die Heranführungsstrategie seit 1994 kennzeichnend. Als Ergebnis der bilateralen und differenzierten Behandlung hat sich ökonomisch ein regionalwirtschaftliches Naben- und Speichensystem herausgebildet, in dem die einzelnen osteuropäischen Volkswirtschaften strahlenförmig auf das westeuropäische Zentrum hin ausgerichtet werden (Baldwin 1994, Gowan 1995). Die vorherige regionalwirtschaftliche Integration im Rahmen des RGW-Raumes wurde so durch eine starke Handelsabhängigkeit der einzelnen MOE von der EU, und insbesondere von Deutschland abgelöst (Inotai 1999). Politisch fördert die bilaterale und differenzierte Herangehensweise der EU einen Wettlauf der einzelnen MOE um die vordersten Plätze bei der Mitgliedschaft. Dieser Wettlauf wird geschürt durch das regelmässige Ranking, welches die EU in ihren Fortschrittsberichten aufstellt.

Der Wettlauf um die Mitgliedschaft wird verstärkt durch das hohe Maß an Konditionalität, welches die EU an die Perspektive der Mitgliedschaft geknüpft hat. Gemäß der Kopenhagen-Kriterien müssen die Beitrittskandidaten in der Lage sein, politische Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respektierung der Menschen- und Minderheitenrechte, die Existenz einer funktionierenden Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck in der Gemeinschaft standhalten zu können, zu garantieren. Diese Kriterien wurden im Laufe der Heranführungsstrategie zunehmend konkretisiert, und sie begründen, dass die gegenwärtigen Verhandlungen wesentlich stärker als frühere Erweiterungsverhandlungen von Bedingungen geprägt sind, die einseitig von der EU vorgegeben werden (Preston 1997). Die Kopenhagen-Kriterien gehen - ein Novum der Osterweiterung - weit über den acquis communautaire hinaus, und der acquis selber hat sich in den 1990er Jahren erheblich ausgedehnt. Die Fortschritte der Kandidaten in der Erfüllung der Kriterien wird regelmäßig evaluiert, und ein Zurückfallen hinter die festgelegten Ziele kann mit Sanktionen - finanzieller Art oder einer Zurückstufung des Kandidaten in eine spätere Erweiterungsrunde - beantwortet werden.

Durch die Konditionalität und ihre Konkretisierung über die 1990er Jahre sowie die regelmäßige Evaluierung vermittelt die EU den Eindruck, als ob die Kandidaten auf ihrem Weg zum Beitritt objektive Kriterien erfüllen müssten, und das Erreichen der Mitgliedschaft ausschließlich von ihren Anstrengungen abhinge. Außerdem ist es ein klares Signal, dass es bei dem Wettlauf tatsächlich um etwas geht, da Nachzügler den Eintritt womöglich für immer verpassen. Gleichzeitig aber stattet die Tatsache, dass die Kopenhagen-Kriterien sehr allgemein formuliert sind und unterschiedliche Interpretationen möglich lassen, die EU mit einem Ermessensspielraum aus, welchen sie nutzen kann um ihre Unzufriedenheit mit bestimmten Kandidaten auszudrücken unabhängig davon, ob diese den acquis erfüllen oder nicht.

Mit der Etablierung asymmetrischer Machtbeziehungen und dem hohen Grad an Konditionalität sichert sich die EU einen starken Einfluss in MOE. Diesen nutzt sie insbesondere, um die Kernbereiche ihres Deregulierungsprogramms zu exportieren. Bereits im Zentrum der Assoziierungsabkommen stand die Sicherung der Handels- und Marktliberalisierung in MOE. Mit dem Weißbuch zur Vorbereitung der assoziierten Staaten auf die Integration in den Binnenmarkt (1995) rückte der Export des Binnenmarktregimes in den Vordergrund. Darüber sicherte sich die EU eine erhebliche Einflussnahme auf die Gestaltung der Wettbewerbspolitik und der industriellen Standards in MOE. Im Gegensatz zur Süderweiterung wird dabei von den MOE verlangt, dass sie ihre Märkte bereits vor dem Beitritt liberalisieren und den EU-Standards anpassen, ohne dass eine direkte Verbindung zwischen Marktliberalisierung und EU-Mitgliedschaft besteht (Inotai 1999). Mit den Beitrittspartnerschaften (seit 1997) avancierte die EU endgültig zum externen Motor der Reformen in der Region (Grabbe 1998). Die Partnerschaften sind umfassend: ihr Gegenstand sind nicht nur die makroökonomische Entwicklung, geld- und haushaltspolitische Programme sowie Fortschritte in der Über­nahme des acquis, sondern auch die Fortschritte in Verwaltungs-, Regional-, Struktur- und Sozialversicherungsreformen etc. (ebd.).

Während die EU also ihren Einfluss nutzt, um die institutionellen Grundlagen ihrer regulatorischen Reformen nach MOE zu exportieren, zögert sie gleichzeitig die Ausdehnung all derjenigen Politikbereiche, die den Transformationsprozess in MOE erleichtert und/oder sozial abgefedert hätten - wie einen gleichberechtigten Marktzugang, substanzielle finanzielle Transfers oder die Freizügigkeit der Arbeitnehmer - immer weiter hinaus. Auch diese Entwicklung ist nicht neu: Bereits die handelspolitische Liberalisierung, die Gegenstand der Assoziierungsabkommen bildete, klammerte gerade diejenigen Sektoren aus, in denen MOE Konkurrenzvorteile gehabt hätte: Stahl, Textil, Bekleidung, Chemie und Agrarwirtschaft (Gowan 1995, DIW 1997). Auch das Weißbuch zur Vorbereitung der assoziierten Staaten auf die Integration in den Binnenmarkt bezog die MOE nur sehr selektiv in den acquis ein: so wurde beispielsweise im Inhaltsverzeichnis ein Kapitel über den "freien Personenverkehr" angekündigt, im Text aber fehlte dieses völlig (Gaudissart/Sinnaeve 1997). Der freie Personenverkehr wird - auf Bestreben von Deutschland und Österreich - auch nach der Erweiterung erst nach einer längeren Übergangsfrist realisiert werden. Schließlich fällt auch die finanzielle Unterstützung der Transformationsprozesse in MOE sehr viel magerer aus als vergleichbare Transferzahlungen innerhalb der EU.

Bis vor kurzem aber bestand zumindest die berechtigte Hoffnung, dass der gleichberechtigten Einbindung der MOE in den acquis einschließlich finanzieller Transfers nach der Erweiterung nichts mehr im Wege stehen würde. Mit dem Vorschlag der Kommission zur Finanzierung des Beitritts vom Februar 2000 hat sich diese Annahme allerdings als Illusion herausgestellt. Trotz - oder vermutlich gerade wegen - des deutlichen Entwicklungsgefälles zwischen Alt- und Neumitgliedern sollen letztere erst nach einer Übergangszeit von 10 Jahren die vollen Agrarsubventionen erhalten. Regional- und Strukturhilfen sollen ebenfalls geringer ausfallen als bei den Altmitgliedern (Europäische Kommission 2002a, 2002b). Mit diesen Vorschlägen bleibt die Kommission nicht nur hinter dem finanziellen Rahmen zurück, der 1999 auf dem Berliner Gipfel für die Erweiterung veranschlagt wurde.[7] Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass viele der Neumitglieder in den ersten Jahren de facto mehr zum EU-Budget beisteuern werden, als sie an Transferleistungen zurückbekommen (Mayhew 2002). Die Kommissionsvorschläge machen deutlich, dass derzeit nicht daran gedacht wird, den Neumitgliedern die gleichen ökonomischen und sozialen Rechte einzuräumen wie den Altmitgliedern.

Insgesamt ist es der EU über die 1990er Jahre mittels einer Mischung von Peitsche (Macht und Konditionalität) und Zuckerbrot (Mitgliedschaftsperspektive) gelungen, die osteuropäischen Transformationsprozesse in wachsendem Maße zu beeinflussen. Dabei dehnte sie die Kernbereiche der ökonomischen Deregulierung auf die MOE aus, während die redistributiven Elemente des EU-Modells, bzw. Politikbereiche, deren Ausdehnung den eingebetteten neoliberalen Konsens innerhalb der EU selbst gefährden würden, ausgeklammert bleiben. Wie ist dieser Export einer sehr viel marktradikaleren Variante des Neoliberalismus nach MOE zu erklären?

3.2 Die Rolle des transnationalen Kapitals in der Osterweiterung

Es gibt natürlich eine Reihe von Erklärungen für die nur selektiv erfolgende Einbindung MOEs. Zentral ist zunächst das bedeutende Entwicklungsgefälle zwischen Ost und West, welches die Frage der Finanzierbarkeit des gegenwärtigen EU-Modells in einer erweiterten Union aufwirft. Weiterhin verlangt die Erweiterung um mehr als 10 Länder nach umfassenden Reformen der finanziellen, institutionellen und prozeduralen Grundlagen des EU-Modells selber. Aus Sorge vor den damit verbundenen Spannungen versuchen die EU-Mitgliedsstaaten diese Reformen möglichst klein zu halten und das Gros der Anpassungsleistungen auf die Beitrittskandidaten abzuwälzen.

Ohne eine Analyse der herrschenden Kräfteverhältnisse in der EU bleiben diese Argumente als Erklärung des konkreten Modus der Erweiterung jedoch unvollständig. Im folgenden werde ich daher genauer auf die unterschiedlichen Fraktionen im historischen Block und ihre Erweiterungsagenda eingehen. Dabei ist es nicht überraschend, dass die dominante Fraktion des historischen Blocks, das transnationale Kapital, sich zu der Gruppe entwickelt hat, die die Erweiterung am stärksten befürwortet, und die zunehmend auch die konkrete Erweiterungsagenda mitbestimmt. Bereits 1991 veröffentlichte der ERT den Bericht "Reshaping Europe", in dem für eine zügige ökonomische Integration der MOE Staaten mit dem Ziel der EU-Mitgliedschaft eingetreten wurde (ERT 1991). 1997, im Vorfeld des Luxemburger Gipfels forderte der ERT die EU zu schnellen institutionellen Reformen und zu einer engen Zusammenarbeit mit den MOEL auf, um diese auf den EU-Beitritt vorzubereiten. 1999 veröffentlichte der ERT sein erstes Papier, welches sich ausschließlich der Erweiterungspolitik widmete, und die "goldene Chance", die die Erweiterung für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Gesamteuropas darstellt, betonte. In diesem Bericht wird auch erstmals das Ausmaß des Engagements individueller ERT-Mitglieder in MOE deutlich (ERT 1999). Im Zentrum des jüngsten, im Vorfeld des Göteborger Gipfels veröffentlichte Berichts steht eine Kosten-Nutzen Rechnung der Osterweiterung, die das starke Interesse des ERT an der Erweiterung sowie die von ihm erhofften Gewinne verdeutlicht (ERT 2001).

Die Gründe, warum der ERT die Erweiterung unterstützt, liegen relativ klar auf der Hand. Seinen Mitgliedern - wie dem transnational orientierten Kapital insgesamt - bietet die Integration der osteuropäischen Produktionskapazitäten, mitsamt der vergleichsweise niedrigen Lohnkosten und hoch qualifizierten Arbeitskräfte die Möglichkeit der Reorganisation ihrer Wertschöpfungsketten und damit der Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf europäischen und internationalen Märkten. Dass dieses Potential genutzt wird, zeigt sich erstens in dem insbesondere seit 1994 stark ansteigenden Fluss von Direktinvestitionen vor allem in die Visegradstaaten Ungarn, Tschechien, Polen und seit einiger Zeit auch der Slowakei. Zweitens nehmen ausländische Investoren in strategischen Sektoren (Finanzsektor, Telekommunikation etc.) eine herausragende Bedeutung an (vgl. Holman in diesem Heft, und Lindstrom/Piroska zum slowenischen Sonderweg in dieser Beziehung). Aber auch die industriellen Leitsektoren befinden sich häufig in ausländischer Hand. Die Kontrollpositionen, die das ausländische Kapital in wichtigen Sektoren MOEs gewinnen konnte, nutzt es drittens zur Restrukturierung ihrer Wertschöpfungsketten (vgl. beispielsweise Kurz/Wittke 1998, Zysman/Schwartz 1998). Kurz/Wittke (1998) unterscheiden zwei grundlegende Muster dieser Restrukturierung: der least-cost approach, in welchem arbeitsintensive Fertigungsschritte von West nach Ost ausgelagert werden; und die komplementäre Spezialisierung, die mit know-how Transfer und der Ansiedlung von höherwertigen Unternehmensfunktionen einhergehen kann. Das Hauptziel dieser Investitionen ist die Erschließung eines komplementären Marktpotentials wie etwa die Erweiterung der Produktpalette für speziell auf die "emerging markets" zugeschnittene Produkte.

Aus diesen Gründen unterstützten transnationale Kapitalgruppen die Osterweiterung der EU. Obwohl die seit 1990 erfolgte sukzessive Anbindung der MOEL dem transnationalen Kapital bereits einen weitgehenden Marktzugang ermöglicht hat, wird erwartet, dass die Erweiterung und die damit einhergehende politisch-institutionelle Stabilität und regulatorische Vereinheitlichung die Investitionsperspektiven noch einmal signifikant verbessern wird (ERT 2001: 10, vgl. auch Bevan et al. 2001). Weniger deutlich fällt allerdings die Unterstützung des ERT für die Ausweitung der sozialen oder kompensatorischen Politiken auf die Beitrittskandidaten aus, und dies ist kein Zufall: Die Attraktivität MOEs beruht zum Teil jedenfalls gerade auf den Unterschieden in sozialen und Umweltstandards zu Westeuropa.[8] Eine Politik, die zu stark die gesamteuropäische soziale Kohäsion fördern würde, könnte dieses Gefälle gefährden, und damit einen Teil der Standortattraktivität MOEs zunichte machen.

3.3     Die fehlende Unterstützung für den Export des
          eingebetteten Neoliberalismus

Wenn transnationale Kapitalgruppen sich nicht für ein soziales Gesamteuropa einsetzen, wie sieht es mit anderen Kräften in der EU aus? An dieser Stelle ist es notwendig, kurz auf die deutsche Position einzugehen, da Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre einer der stärksten Befürworter der Osterweiterung war. Dieser Befürwortung zum Trotz haben die deutschen Regierungen jedoch deutlich gemacht, dass sie keinesfalls gewillt sind, stärkere finanzielle Verantwortung für das Erweiterungsprojekt zu übernehmen. Die von der BRD geforderte Reform des europäischen Haushalts steht damit im klaren Widerspruch zu dem Ziel der Erweiterung (Hyde-Price 2000: 185). Ähnlich wie der ERT verfolgt Deutschland damit eine Pro-Erweiterungspolitik - die zumindest zum Teil auf ökonomische Interessen zurückzuführen ist, da deutsches Kapital überproportional in MOE engagiert ist - ohne jedoch die Integration der MOEL zu gleichen sozialen Bedingungen zu unterstützen.

Die schwächeren Akteure des sozialen Blocks - Gewerkschaften und die Eliten der peripheren EU Staaten bringen der Erweiterung insgesamt nur eine lauwarme Unterstützung entgegen. Aus normativen Gründen können sie diese nicht ablehnen. Darüber hinaus ist es für Westgewerkschaften zentral, den Gefahren des Sozialdumpings politisch entgegenzuarbeiten. Sie wären damit die idealen Befürworter eines sozialen Gesamteuropas, wenn damit nicht Verteilungskonflikte einhergehen würden. Für beide Gruppen nämlich ist klar, dass die Osterweiterung keine "East-West win-win experience" ist, wie es der ERT (1999) formuliert, sondern dass ein vereinigtes Europa eher einem Nullsummenspiel gleicht, in welchem die den MOE zukommende Unterstützung auf Kosten der Altmitglieder geleistet wird.

Das bedeutet insgesamt, dass die Erweiterung der europäischen Union zwar von einer begrenzten, aber mächtigen Anzahl von Akteuren befürwortet wird, die vor allen Dingen an der ökonomischen Nutzung der osteuropäischen Potentiale interessiert sind. Die Idee einer gleichberechtigten Integration der MOEL und einer (finanziellen) Solidarität mit den östlichen Nachbarn erfährt demgegenüber fast keine Unterstützung. Daraus resultiert, dass die Beziehungen zwischen der EU und den MOEL vornehmlich den Interessen des transnationalen Kapitals entsprechen. Dieser auf enge ökonomische Interessen gestützte und unsolidarische Ansatz hat allerdings zu einer Reihe von Problemen geführt, die die Stabilität im neuen Europa zu unterminieren drohen.

Auch wenn es der EU bislang gelungen ist, interne Verteilungskonflikte durch die Begrenzung und das Hinausschieben der Kosten der Erweiterung weitgehend zu unterdrücken, so besteht erstens doch ein zunehmendes Bewusstsein darüber, dass die Kosten und Vorzüge der Erweiterung ungleich verteilt sein werden. Für einige privatwirtschaftliche Akteure ist die Erweiterung in der Tat eine "win-win" Situation. Der Nachweis, dass diese privaten Gewinne gesamtgesellschaftlich diffundieren, ist bislang jedoch nicht erfolgt. Das keynesianische Regime hatte mit der Umverteilung ein Rezept für die Begrenzung und Vergesellschaftung privatwirtschaftlicher Gewinne. Da das gegenwärtige ideologische Klima und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse die Anwendung dieses Rezeptes immer weniger erlauben, muss den "Verlierern" zur Kompensation etwas anderes geboten werden. Wie weiter oben ausgeführt, ist dies die nationalistische Ideologie. Es ist vielleicht kein Zufall, dass in den beiden Ländern, die aufgrund der Öffnung des Ostens der größten Restrukturierung ausgesetzt sind, die aber insgesamt am stärksten von der Öffnung profitieren - Deutschland und Österreich - zugleich xenophobe und nationalistische Töne gegen die Erweiterung stark an Bedeutung gewinnen. Diesem ideologischen Druck geben auch gemäßigtere politische Kräfte nach, und tragen damit selber zu einem nationalistischen Verschiebung des öffentlichen Diskurses bei. Nationalismus und Xenophobie gefährdet dabei nicht unbedingt das Projekt der Erweiterung. Sie stärken aber die Aussichten für eine Erweiterung unter sehr ungleichen Bedingungen, die mit der Stärkung repressiver Staatsfunktionen einhergeht.

Zweitens hat die Integration der MOEs unter den oben beschriebenen Bedingungen bislang nicht die Hoffnungen erfüllt, die von diesen mit der "Rückkehr nach Europa" verknüpft waren. Die MOEL entwickeln Charakteristika einer Semiperipherie: duale ökonomische Strukturen und prekäre Wachstumsperspektiven (vgl. Neunhöffer/Schüttpelz in diesem Heft). Unter dem Einfluss ausländischer Investoren erfolgt eine selektive Aufwertung und Modernisierung ökonomischer, regionaler und sozialer Strukturen, und deren Anbindung an ein transnationales Akkumulationsregime. Dieses modernisierte Segment koexistiert mit den problematischeren Erbschaften des alten Systems: Schwerindustrie, Landwirtschaft etc. Die Übernahme der Kosten für die Restrukturierung und die soziale Abfederung dieser Sektoren, an denen die Modernisierung bislang weitgehend vorbeigegangen ist, obliegt den jeweiligen osteuropäischen Staaten. Bislang haben sich zudem nur wenige Brücken zwischen beiden Segmenten herausgebildet (Kurz/Wittke 1998, Bohle 2002, Szalai 2001).

Auch die Wachstums- und Aufholperspektiven der Beitrittskandidaten sind bislang nicht stabil zu nennen. Das BIP pro Kopf der 10 Beitrittskandidaten lag 2000 bei etwas über 40% des EU-Durchschnitts (Eurostat, zitiert in Neunhöffer/Schüttpelz). Ein - langsamer - Aufholprozess gegenüber Westeuropa konnte erst ab der 2. Hälfte der 1990er Jahre festgestellt werden, aber selbst dieser Aufholprozess gilt nicht für alle Länder. Rumänien, Bulgarien, und die Tschechische Republik fielen vielmehr in diesem Zeitraum gegenüber der EU zurück (ebd.).

Es wäre natürlich verkürzt, diese semiperipheren Charakteristika allein der EU-Politik gegenüber MOE anzulasten. Diese sind vielmehr das Ergebnis einer Kombination struktureller und gesellschaftlicher Hinterlassenschaften des Sozialismus, einer neuen Orthodoxie in der entwicklungspolitischen Theorie und Praxis, sowie der Integration als late comer in eine gesamteuropäische Arbeitsteilung. Die EU hat durch ihre einseitige Ausrichtung an der Agenda transnationaler Kapitalgruppen jedoch wesentlich zu der sich abzeichnenden Dualisierung MOEs beigetragen. Abschließend bleibt zu analysieren, was die MOEL angesichts des Charakters des Erweiterungsprojektes, und der zumindest zwiespältigen Ergebnisse ihrer bisherigen Integration dazu motiviert hat, in die von der EU vorgegebenen Bedingungen einzuwilligen.

4. Passive Revolution und Transnationalisierung
     der Politischen Ökonomien Osteuropas

Die Tatsache, dass die MOEL bislang die von der EU vorgegebenen Bedingungen (fast) widerspruchslos erfüllt haben, ist natürlich wesentlich auf das existierende Machtgefälle zurückzuführen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die östlichen Reformer reine policy taker sind. Im Gegenteil, in den meisten Fällen suchten die Reformeliten selber aktiv die Unterstützung der internationalen Finanzorganisationen, förderten die Ansiedlung ausländischen Kapitals, und drängen auf einen möglichst schnellen EU-Beitritt. Zudem erklärt dieses Argument nicht, warum die osteuropäischen Reformeliten nicht zumindest ansatzweise begonnen haben, miteinander zu kooperieren, um bessere Beitrittsbedingungen auszuhandeln. Eine weitere Erklärung ist die der fehlenden Alternativen. Trotz der harschen Aufnahmebedingungen scheint es für die politischen und ökonomischen Entwicklungsperspektiven allemal besser, in der EU zu sein als außen vor zu bleiben, und die finanzielle Unterstützung des Heranführungsprozesses, so mager sie ist, ist ebenfalls besser als keine Unterstützung (vgl. Neunhöffer/Schüttpelz in diesem Heft). Dieses Argument kann jedoch nicht erklären, warum die Perspektive der EU-Integration eine so deutliche öffentliche und politische Unterstützung in den meisten Kandidatenländern erhält. Um also zu erklären, warum das Projekt der "Rückkehr nach Europa" so stark befürwortet wird, warum die osteuropäischen Eliten fast jegliche Kooperation untereinander in der Vorbereitung des Beitritts ablehnen, und warum sie die Anforderungen der EU selbst jetzt noch akzeptieren, obwohl es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass sie eine Mitgliedschaft zweiter Klasse erwartet, werde ich erneut auf die Kräfteverhältnisse und gesellschaftlichen Projekte, diesmal in den MOEL eingehen.[9]

4.1 Passive Revolution

Zentral für die Herauskristallisierung des Projektes "Rückkehr nach Europa", welches in einer Reihe von MOEL den Transformationsprozess bestimmte, war zunächst der Zusammenbruch des Staatssozialismus. Dieser war das letzte der "drei großen nationalstaatlich organisierten Entwicklungsprojekte dieses Jahrhunderts" (Staatssozialismus, Fordismus, importsubstitutierende Industrialisierung), welches gescheitert ist (Altvater 1994: 520ff). Während es den westeuropäischen Gesellschaften gelang, an die Stelle des fordistisch-keynesia­nischen Projektes ein neues, transnational-neoliberales zu setzen, stagnierten die osteuropäischen Gesellschaften über die 1980er Jahre, und erlebten den vollständigen Zusammenbruch ihres Systems. Es ist z.T. auf diese Ungleichzeitigkeit von Krise und Restrukturierung zurückzuführen, dass westliche Kräfte ihre Ideen und Projekte, und damit auch ihre Interessen nach MOE exportieren konnten. Gerade der Neoliberalismus erweist sich in MOE besonders attraktiv, weil er die radikalste Kritik des delegitimierten staats­so­zia­listischen Systems darstellt (Szacki 1995). Der neoliberale Umbau in MOE konnte sich jedoch nicht auf etablierte gesellschaftliche Gruppen und spezifische nationale Projekte stützen, im Gegenteil, diese Gruppen und insbesondere die bürgerliche Klasse mussten erst hervorgebracht werden. Die Träger der neoliberalen Reformprojekte waren daher zumeist Intellektuelle und staatliche Eliten, die größtenteils nur eine geringe gesellschaftliche Verankerung hatten. Diese Entwicklung ist für eine passive Revolution charakteristisch (vgl. Gramsci 1971: 58ff, 105ff). Nach Gramsci ist eine passive Revolution ein Umbruch, der erstens aus der Erschöpfung der vorausgegangenen Produktionsweise resultiert, und in der zweitens die Revolution von einer Elite getragen wird, deren ideologische Leitvorstellungen nicht unmittelbar aus dem lokalen ökonomischen und sozialen Kontext resultieren, sondern vielmehr den Einfluss internationaler Entwicklungen reflektieren. Eng hiermit verbunden ist ein drittes Merkmal der passiven Revolution, die Tatsache nämlich, dass sich der Staat an die Spitze der gesellschaftlichen Erneuerung setzt, mit dem Ziel, diejenigen Kräfte hervorzubringen, die zu den Trägern weiterer Reformen werden sollen.

Die zumeist geringe gesellschaftliche Verankerung der Reformeliten und die Schwäche der Transformationsstaaten (Eichengreen/Kohl 1998) begründet, warum die Eliten von Anfang an die externe Absicherung ihres Projektes suchten. Zunächst war hierfür die Unterstützung der Internationalen Finanzorganisationen entscheidend (Greskovits 1998). Der EU-Mitgliedschaft kam jedoch schnell eine wesentlich größere Bedeutung zu. Die EU repräsentierte genau das, was die osteuropäischen Staaten historisch nicht erreicht hatten und jetzt in ihre unmittelbare Nähe zu rücken schien: ökonomischer Reichtum, stabile Demokratien und eine internationale Integration, die auf der gleichberechtigten Teilnahme der Mitgliedstaaten zu beruhen scheint. Die "Rückkehr nach Europa", die gleichbedeutend ist mit der EU-Mitgliedschaft, bildete daher nicht nur einen weiteren externen Anker für interne Reformen, sie liefert den osteuropäischen Gesellschaften auch eine ideologische Grundlage, die sie über lange Zeit auch die Härten der neoliberalen Transformation erdulden ließ.

4.2 Gesellschaftliche Konsequenzen der neoliberalen Reformen

Die passive Revolution bildet die Voraussetzung für die graduelle Inkorporierung osteuropäischer Akteure in den transnationalen historischen Block. Die neoliberalen Reformen und die Anpassung an die EU-Normen führen zu einer Restrukturierung der internen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den MOEL, und der Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Basis für das Europäisierungsprojekt. Wie bereits weiter oben ausgeführt, ist die hohe ausländische Penetration strategischer Segmente der meisten MOE Ökonomien ein zentrales Ergebnis des Transformation ohne einheimische Bourgeoisie. Holman (2001: 177, Hervorhebung im Original) zieht folgenden Schluss aus dieser Entwicklung: "It is foreign capital - and the quasi-state structures and cadres at the supranational level organically related to it - which plays an essential role in the process of transnational class formation in CEE (Mittelosteuropa, D.B.). The ownership and control of economically relevant assets, and the income generating nature of it, are increasingly transnational phenomena, while the growing inequality in the distribution of these assets is defended - that is, presented as the ‚general interest‘ - by the new power elites." Dass gerade letzteres von hoher Relevanz für die MOE ist, kann anhand des Konflikts Ungarns mit der EU um das Steuerregime für ausländische Investoren illustriert werden. Ungarn hat ein sehr liberales Direktinvestitionsregime und lockt ausländische Investoren insbesondere mit großzügigen Steuerbefreiungen.[10] Dies wird mit dem Hinweis begründet, dass die Investitionserleichterungen Voraussetzung für die Modernisierung der Wirtschaft sind. Die damit verbundenen Steuerausfälle werden als geringeres Übel eingestuft. Während die ungarische Regierung die Befreiung so lange wie möglich aufrechterhalten will, stellt sie für die EU eine verdeckte Subventionierung dar, die mit dem Beitritt nicht kompatibel ist. Hier wird deutlich, dass sich die ungarische Regierung die Forderung der ausländischen Investoren zu eigen gemacht hat, und diese trotz ihren fiskalpolitischen Konsequenzen als gut für das allgemeine Interesse ansieht.

Dies verweist auf ein weiteres zentrales Element der transnationalen Klassenformierung in MOE: Ausländische Investoren agieren nicht nur auf dem ökonomischen Terrain, sondern nehmen gleichzeitig Einfluss auf die politischen Positionen der "Gast"regierungen. So wurde beispielsweise in Ungarn 1997 der Investorenrat gegründet, der aus ca. 40 multinationalen Konzernen sowie deren Organisationen in Ungarn besteht. Voraussetzung für die Mitgliedschaft im Investorenrat sind Investitionen von mehr als 100 Millionen US-Dollar, eine Regel, die ungarische Investoren nicht de jure, aber de facto ausschließt. Der Rat trifft sich zweimal jährlich zu nicht-öffentlichen Beratungen, häufig im Beisein des Ministerpräsidenten (Interview Christoph Dörrenbächer und D.B. im ungarischen Wirtschaftsministerium, 27. Mai 2002). Auch der ERT hat seit 1999 sogenannte Erweiterungsräte in einzelnen MOEL eingerichtet, die als Verbindungsglied zwischen den nationalen Regierungen, der ERT Arbeitsgruppe Erweiterung und der Europäischen Kommission fungieren, mit dem Ziel, eine zügige Erweiterung herbeizuführen (ERT o.J.). Wenn das organisierte transnationale Kapital im Allgemeinen auch den zügigen EU-Beitritt Ungarns (und anderen MOEL) befürwortet, so setzt es sich gleichzeitig in konkreten Fällen für das Umgehen von EU-Regelungen ein: So bekommt die ungarische Regierung im Streitfall der Steuererleichterung Schützenhilfe von ausländischern Investoren[11], so setzte British Tobacco, der bedeutendste Tabakproduzent in Ungarn und ERT-Mitglied eine Über­gangsregelung für die Anwendung der EU-Tabakregulierung durch[12], und so konnte die Deutsche Telekom, Haupteigentümerin der ungarischen MATAV, die Liberalisierung des ungarischen Telekommunikationsmarktes erfolgreich hinauszögern. Insgesamt zeigt sich also, dass ausländische Investoren nicht nur ökonomisch aktiv sind, sondern auch politisch Einfluss auf die Gastregierungen suchen und damit diese in ihre Strategien einbinden.

Wie stark diese Kräfte an Einfluss gewinnen können, lässt sich natürlich nicht verallgemeinern. Dies hängt von der ökonomischen Stärke bzw. Schwäche und der Agenda anderer transnationaler und nationaler Kräfte ab, und es bleibt die Aufgabe zukünftiger Forschung, die Beziehungen und Konflikte zwischen unterschiedlichen transnationalen Kapitalfraktionen und zwischen nationalen und transnationalen Akteuren in den einzelnen MOEL genauer zu analysieren. Trotz der vermutlich signifikanten Unterschiede zwischen einzelnen MOEL bleibt meine Vermutung jedoch, dass insgesamt die mit nationalem Kapital verbundenen Kräfte zu schwach sind, um langfristig bedeutende Positionen aufrechtzuerhalten.

Der Zusammenbruch des Staatssozialismus, die neoliberale Restrukturierung und sukzessive "Europäisierung" der MOEL haben gleichzeitig zu einer Schwächung der Aktionsfähigkeit von Gewerkschaften und linker politischer Positionen geführt. Insbesondere die Gewerkschaften haben in den 1990er Jahren einen erheblichen Verlust ihrer Organisations- und Mobilisierungskraft hinnehmen müssen. Industrielle Beziehungen sind weitgehend dezentralisiert worden, der neue privatwirtschaftliche Sektor ist in den meisten MOE nahezu gewerkschaftsfrei, und die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften sind rapide zurückgegangen (Langewiesche/Tóth 2002, Ost 2000, Greskovits 1998). Insgesamt ist der Linken nicht gelungen, ein Gegenprojekt gegen die neoliberale Rückkehr nach Europa zu formulieren.

Spiegelbildlich zu der westlichen Auseinandersetzung über die Vertiefung der EU sind es auch in den östlichen Auseinandersetzungen vorrangig xenophobe und nationalistische Kräfte, die dem EU-Beitritt Widerstand entgegensetzen. In den letzten polnischen Parlamentswahlen vom September 2001 zogen zwei der extremen Rechten zuzuordnende EU-kritische Parteien in das Parlament ein: Leppers Bauernverband samoobrona (Selbstverteidigung) und die Liga der polnischen Familien. Diese Parteien haben ihre Basis besonders in sozioökonomischen Milieus, die zu den Verlierern der Transformation gehören: ländliche Gebiete, Schwerindustrie und z.T. der öffentliche Sektor, und sie greifen - wenn auch in sehr verzerrter Weise - Probleme dieser Milieus mit der Transformation auf. Dies unterscheidet m.E. die polnischen Anti-EU Kräfte von denen anderer MOE, in denen die strukturellen Hinterlassenschaften weniger problematisch waren. Der tschechische Vaclav Klaus beispielsweise, der mit seiner Partei ODS wiederholt scharfe Attacken gegen die angeblich zu kommunistische EU führt, ist ideologisch stärker der neuen populistischen Rechten verwandt und scheint auch eine diffusere Basis zu haben.

4.3 Die Internalisierung des Wettlaufs um die Mitgliedschaft

Die passive Revolution, und die sich aufgrund der neoliberalen Restrukturierung verändernden Kräfteverhältnisse in MOE sind die Gründe dafür, warum die osteuropäischen Gesellschaften das Ziel der EU-Mitgliedschaft sehr nachdrücklich verfolgen, und die von der EU vorgegebenen Bedingungen nicht wirksam in Frage stellen. Eine letzte Frage bleibt: wie ist es zu erklären, dass die MOEL nicht stärker untereinander kooperieren, um eine bessere Verhandlungsposition vis-a-vis der EU zu erlangen? Das von der EU induzierter Nabe und Speichenmodell der Beziehungen hat einen deutlichen Einfluss auf die Kooperationsunwilligkeit, aber es bleibt zu klären, wie dieses Modell von den MOE Gesellschaften internalisiert wird.[13] Meine erste Erklärung greift ein weiter oben entwickeltes Argument auf: Die Mobilisierung der Gesellschaften unter einem national(istisch)en Banner ist in den Modus der neoliberalen Restrukturierung selber eingeschrieben. D.h. trotz der weitgehenden Transnationalisierung der politischen Ökonomien in MOE wird die Rückkehr nach Europa als ein nationales Projekt artikuliert, indem die Akteure sich möglichst deutlich von ihren Nachbarn zu unterscheiden suchen. Anders ausgedrückt: neoliberale Restrukturierung, egal ob im Zentrum oder in der Peripherie, verträgt sich nicht gut mit der Formierung transnationaler Solidarität.

Eine zweite und komplementäre Erklärung für die Internalisierung des Wettlaufs um die Mitgliedschaft wurde jüngst von Greskovits (2001) entwickelt. Er argumentiert, dass die Ideologie der Rückkehr nach Europa in MOE als eine Entwicklungsideologie gelten kann, die stark von historischen Erfahrungen geprägt ist. Es ist nicht das erste Mal, dass die MOEL versuchen, "europäisch", d.h. entweder Teil des entwickelteren Kapitalismus zu werden, oder aber durch ein alternatives Entwicklungsmodell eine aufholende Entwicklung zu vollziehen. Das Besondere der Region ist jedoch, dass sämtliche dieser Versuche bislang gescheitert sind. Hierauf aufbauend, kann argumentiert werden, dass die Kooperationsunwilligkeit der MOEL auf eine historisch geprägte Angst zurückzuführen ist, einmal mehr zu den Verlierern der Weltgeschichte zu gehören.

5. Schluss

In diesem Beitrag habe ich argumentiert, dass sowohl die Vertiefung wie die konkrete Form der Osterweiterung der EU das Resultat einer Rekonfiguration von Kräfteverhältnissen ist, die ihren Ursprung letztendlich im weiteren Prozess der Globalisierung hat. Transnationales Kapital und supranationale Akteure haben in beiden Projekten die Führung übernommen, jedoch mit unterschiedlichen Ergebnissen: Durch die Einbindung sozialdemokratischer, zentristischer und peripherer politischer Kräfte konnte die Vertiefung der EU von einem Elitenprojekt zu einer - wenn auch sehr prekären - hegemonialen Konstellation entwickelt werden. Die Restrukturierung in Westeuropa führte damit zu einem eingebetteten Neoliberalismus.

Die Erweiterung der EU ist ebenfalls wesentlich auf das Interesse transnationaler Kapitalgruppen und supranationaler Akteure zurückzuführen. Die Erweiterungskoalition ist jedoch insgesamt begrenzter als die Vertiefungskoalition, und ihr fehlt jegliche Kraft, die sich für eine vollständige Ausdehnung des sozialen und finanziellen acquis auf die Beitrittskandidaten einsetzen würde. Die konkrete Form der Einbindung MOEs ist daher sehr viel radikaler in ihrer neoliberalen Ausrichtung, und spiegelt sehr viel einseitiger die Interessen transnationaler Kapitalgruppen wieder. Dies ist der erste Grund, warum die Europäisierung sich im Kontext der Osterweiterung von früheren Erweiterungsrunden unterscheidet. Erstmals in der Geschichte der EU geht eine Erweiterung Hand in Hand mit einer verringerten Solidarität und lässt die Errichtung einer permanenten Mitgliedschaft zweiter Klasse wahrscheinlich erscheinen.

Der zweite Grund, warum Europäisierung im Zuge der Osterweiterung eine neue Bedeutung annimmt, hängt mit der spezifischen historischen Erbschaft MOEs zusammen. Im Unterschied zu anderen - nord-, west- und südeuropäischen Ländern konnte die Rückkehr nach Europa nicht auf etablierten sozialen Gruppen und ein spezifisches nationales hegemoniales Projekt aufbauen. Wegen der fehlenden endogenen Bourgeoisie wurden gesellschaftlich nicht immer stark verankerte Intellektuelle und Reformeliten verantwortlich für die Annäherung an die EU, die als externer Anker für die Transformation fungiert. Das Fehlen einer eigenen Bourgeoisie ist auch der wesentliche Grund für die Bedeutung, die ausländische Gruppen unter der neuen besitzenden Klasse in MOE einnehmen.

Wenn meine Analyse korrekt ist, dann sind die Beziehungen zwischen Ost- und Westeuropa in einem sehr starken Maße von der Agenda einer sich herausbildenden transnationalen kapitalistischen Klasse abhängig. Es ist jedoch fraglich, inwieweit diese Agenda die Grundlage für eine langfristig stabile Konstellation sein kann. Die größte Schwäche des neoliberalen Projektes ist, dass es einerseits zunehmende Ungleichheit innerhalb und zwischen Staaten produziert, und gleichzeitig die Formulierung transnationaler Solidarität, die allein ein Minimum an sozialer Kohäsion im erweiterten Europa garantieren würde, verhindert. Das neoliberale Projekt basiert vielmehr in zunehmendem Maße auf der Mobilisierung eng definierter nationaler Bindungen als Grundlage (verminderter) gesellschaftlicher Solidarität, eine Grundlage, die sehr schnell eine nationalistische Prägung annehmen kann. Und es besteht die Gefahr, dass diese Bedrohung, die bereits jetzt in West und Ost offensichtlich ist, durch die marktradikale Osterweiterung noch weiteren Auftrieb erhält, da diese zu einer Verstärkung des Regimewettbewerbs führt.

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[1]    Ich danke Ondrej Cisar, Gergana Dimitrova, Béla Greskovits, Dora Husz, Nicole Lindstrom und Dora Piroska sowie den TeilnehmerInnen des ECPR Joint Session Workshop "Enlargement and European Governance", Turin, 22.-27. März 2002, für ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Papiers.

[2]    Zu den jüngsten integrationstheoretischen Kontroversen vgl. u.a. Moravcsik 1998, Kohler-Koch/Eising 1999, Hix 1994. Zu der schnell anwachsenden Erweiterungsliteratur siehe insbesondere Preston 1997, Grabbe/Hughes 1998, Sedelmeier 2001, Schimmelfennig 2000.

[3]    Diese Annahme stützt sich auf neo-gramscianische Interpretationen der internationalen und europäischen politischen Ökonomie (vgl. Cox 1987, Bieler 2000, Bieler/Morton 2001, Bieling/Steinhilber 2000).

[4]    Insbesondere das Scheitern des keynesianischen Experiments unter dem französischen Präsidenten Mitterand gab sozialdemokratischen und zentristischen Kräften (nicht nur in Frankreich) den entscheidenden Impuls, sich stärker für die europäische Integration einzusetzen, und es ist kein Zufall, dass das gegenwärtige Europa unter Jacques Delors als Präsident der EU Kommission seinen Aufschwung genommen hat. Obwohl die Präsidentschaft von Delors vor allen Dingen mit dem Binnenmarkt verbunden ist, erschöpfte sich seine "Vision" nicht in der radikalen Ausrichtung dieses Projektes auf Deregulation. Unter Delors wurden ebenso institutionelle Reformen, eine Aufwertung der Struktur- und Regionalfonds und die "soziale Dimension" des Binnenmarktes vorangetrieben (Ross 1995).

[5]    Als historischen Block bezeichnet Gramsci das Zusammenspiel von sozioökonomischer Basis und politischer und ziviler Gesellschaft. Dieser Block wird getragen von einer relativ stabilen Allianz unterschiedlicher Klassenfraktionen (Gramsci 1971: 366ff.).

[6]    MOEL = Mittelosteuropäische Länder. Die 10 Beitrittskandidaten aus MOE sind: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien und Bulgarien.

[7]    Insgesamt belaufen sich die Kosten der Erweiterung nach den Kommissionsvorschlägen bis 2006 auf 40 Mrd. Euro, oder ca. 7% des EU Budgets. Netto, d.h. unter Abzug der Beitragszahlungen der Neumitglieder belaufen sich die Kosten auf 28 Mrd Euro. Dies sind ca. die Hälfte der in der Agenda 2000 veranschlagten und auf dem Berliner Gipfel von 1999 - für eine Erweiterung um sechs Kandidaten - gegenüber der gegenwärtigen Annahme einer Erweiterung um 10 - akzeptierten Kosten.

[8]    Dies bedeutet allerdings nicht, dass transnational operierendes Kapital sich grundsätzlich gegen die Angleichung sozialer Standards wenden würde. In Fällen, wo sich das soziale Gefälle destabilisierend auf den transnationalen Betriebsfluss auswirkt, kann durchaus auf eine Angleichung bestimmter Standards hingewirkt werden. Zentral ist allerdings, dass die soziale Politik den ökonomischen Prioritäten untergeordnet wird.

[9]    Das folgende beruht wesentlich auf der Verallgemeinerung der Ergebnisse einer Analyse des polnischen Transformationsprozesses (Bohle 2002), sowie einem Vergleich des polnischen mit dem ungarischen (Greskovits/Bohle 2001).

[10] So trägt Audi in Györ angeblich ca. 12% zum Gesamtumsatz, aufgrund der Steuerbefreiungen aber ca. 74% des Gewinns der Audi-Gruppe bei. Ich danke Jochen Tholen für diesen Hinweis.

[11] Interview im ungarischen Wirtschaftsministerium, 27. Mai 2002. Wobei zu vermuten ist, dass die gleichen Akteure auch versuchen, die EU-Position zu beeinflussen.

[12] Ich danke Dora Husz für diese Information.

[13] Wie stark die Internalisierung des Wettlaufs um die Mitgliedschaft in den MOE vorangeschritten ist, zeigt die folgenden Anekdote: Zum ersten Mal im Jahr 2001 hat die EU-Kommission in ihren Fortschrittsberichten auf ein Ranking der einzelnen Kandidaten verzichtet. Dies hinderte die Kandidaten jedoch nicht daran, selber ein Ranking aufzustellen. Die ungarische Zeitung Nepszabadsag beispielsweise verwandte viel Mühe auf die Interpretation der einzelnen Fortschrittsberichte und kam zu dem Ergebnis, dass Ungarn und Slowenien an der Spitze der EU-Kandidaten stehen, noch vor der Tschechischen Republik und Polen.