Demokratischer Sozialismus - ein transformatorisches Projekt

Der Ausgang der Bundestagswahlen 2002 hat eine seit langem drängende Frage noch stärker in das Bewußtsein von Linken gehoben. Was eigentlich ist das: das Projekt des demokratischen Sozialismus?

Der Ausgang der Bundestagswahlen 2002 hat - hoffentlich - eine seit langem drängende Frage noch stärker in das Bewußtsein von Linken gehoben. Was eigentlich ist das: das Projekt des demokratischen Sozialismus? Die übergroße Mehrheit der Wählerinnen und Wähler hat ein solches Projekt mit überzeugendem Nutzen für sie selbst nicht wahrgenommen.
Das neoliberale Projekt ist die Verwandlung der Welt in eine Welt- Marktwirtschaft der sozialen Kälte und ökologischen Blindheit, in der Gerechtigkeit keinen Raum hat.
Das neosozialdemokratische Projekt läuft auf einen Balanceakt zwischen Anpassung an die Imperative der Weltmärkte und dem Modifizierten Teilerhalt bereits erreichter politischer und sozialer Standards hinaus. In diesem Spagat nimmt die Gerechtigkeit so nachhaltigen Schaden, daß die Konturen der Dritten Wege in den Berührungen mit dem neoliberalen Projekt verschwimmen. In der Mehrzahl der westeuropäischen Staaten wurden daher die in den 90er Jahren in die Regierungen gewählten sozialdemokratischen Parteien aus diesen Positionen wieder abgewählt - wie in den vorangegangenen Wahlen die Repräsentanten neoliberaler Entwicklung.
Das Projekt der Grünen war ein wirkliches, ein großes Projekt: die Rettung der Menschheit vor dem ökologischen Suizid, der ökologische Umbau der Gesellschaft. Ein Aufbauprojekt, verankert in intellektuell anspruchsvollen Milieus der Gesellschaft, allerdings kaum in den Kämpfen der Lohnabhängigen um soziale Gerechtigkeit. Unter dem Druck der kapitalistischen Globalisierung und in der Malaise der Staatsfinanzen droht dieses Projekt in einen existentiell gefährlichen Zeitverzug zu geraten. Gerechtigkeit zwischen "Nord" und "Süd" in der Nutzung der Naturressourcen und Gerechtigkeit gegenüber kommenden Generationen ist nicht in Sicht. Der Partei der Grünen droht durch ihre Einbindung in die etablierten Machtmechanismen ihr Projekt zu entgleiten. Initiativen, Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen werden es ohne parlamentarische Träger kaum ausreichend zur Geltung bringen können.
Die Dringlichkeit von Alternativen liegt auf der Hand. Die Massenarbeitslosigkeit dauert an, ebenso eine Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Die Vorboten einer möglichen Klimakatastrophe sind kaum übersehbar. Eine wachsende Kluft zwischen reichen Industrieländern und der Mehrheit der sogenannten Entwicklungsländer hat größere Teile der Weltbevölkerung in eine ausweglose Lage gebracht. Die dominierenden Antworten darauf sind die wachsende Bereitschaft zum Einsatz militärischer Macht als angeblich taugliches Mittel der Politik, die Neigung der USA zu völkerrechtswidrigen Präventivkriegen für eigene imperiale Ziele, die Fortsetzung der Liberalisierung der Weltmärkte mit polarisierenden Wirkungen, soziale Deregulierung und Privatisierung nicht zuletzt der öffentlichen Dienstleistungen und Daseinsvorsorge. Als unvermeidbare Merkmale moderner Reformen gelten die (Teil-)Rücknahmen früherer tatsächlich sozialer Reformen durch Ausweitung von Niedriglohnarbeit, Rückbau der sozialen Sicherungssysteme, vermehrter Druck auf Beschäftigte und Arbeitsuchende, Abbau von Arbeitnehmerrechten sowie Steuersenkungen vor allem für Unternehmen - für die größten zumal. (1)

"... die freie Entwicklung aller"
Was kann in dieser Situation einschneidender Umbrüche das Projekt des demokratischen Sozialismus sein? Sich einer Antwort auf diese Frage anzunähern, dies ist die Aufgabe der programmatischen Debatte und eines neuen Parteiprogramms der PDS. Die marxistisch-leninistische Auffassung von einer sozialistischen Gesellschaft war, daß ihr eine politische Revolution unter Führung einer kommunistischen Avantgardepartei vorangehen müsse. Deren Aufgabe sei die Errichtung einer Diktatur des Proletariats - ausgeübt in dessen Namen von der Partei - und die Überführung von Kapitaleigentum in Staatseigentum in der zentralistischen Verfügung der Parteiführung (Einführung 1977, S. 349 f.). Dieser Sozialismus sollte die kapitalistische Ausbeutung überwinden. Im Mittelpunkt der neuen Ordnung sollte der Mensch stehen. Aber was "der Mensch" wollte, wurde in den Führungsgremien der Avantgardepartei beschlossen. Dazu gehörten unter den Bedingungen der DDR die Befreiung von Arbeitslosigkeit und zwischenmenschlicher Konkurrenz, ein weitgehend gleicher Zugang für alle zu Bildung und Leistungen des Gesundheitswesens, bezahlbare Wohnungen, flächendeckende Verfügbarkeit von Kinderbetreuungseinrichtungen, Frauenförderung, Erprobung genossenschaftlicher Entwicklungswege und die Verfolgung von Neofaschismus und Rassismus. Sowie aber eigenes Denken der Bürgerinnen und Bürger, kritische Stimmen in Kunst, Kultur, Wissenschaft, Öffentlichkeit und in der Partei selbst von der Parteiführung als Bedrohung der Macht empfunden wurden, trat das wirkliche innere Maß gesellschaftlicher Entwicklung unter staatssozialistischen Bedingungen zutage: die Herrschaft der Staatspartei.(2) Die Grundkonstruktion dieses Sozialismusmodells erlaubte nicht, die individuellen Interessen systemstützend in eine zukunftsfähige Entwicklung zu integrieren. Die Reproduktion der Individuen blieb der untergeordnete Prozeß, die Reproduktion der Herrschaft der Staatsparteien der bestimmende. Der Ausschluß individueller Freiheit, der sich auch in der Starrheit und Ineffizienz des Wirtschaftsmechanismus ausdrückte, mündete in das Scheitern dieses Sozialismus.
Die Autoren des von den Delegierten des Dresdner Parteitages mit großer Mehrheit zur Arbeitsgrundlage weiterer programmatischer Arbeit bestimmten Entwurfs für ein neues Parteiprogramm der PDS haben aus diesen Erfahrungen eine elementare Lehre gezogen. Einen Grundgedanken von Marx und Engels aufnehmend, betrachten sie KLEIN Demokratischer Sozialismus als demokratischen Sozialismus "eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Marx/Engels 1957, S. 482).
Freie Individuen als dominanter Ausgangspunkt der Reproduktion im Sozialismus und als sein bestimmendes Ziel! - Diese Vision ist um Welten von der Wirklichkeit des Kapitalismus entfernt und vermag doch hautnah an Wünsche und Empfinden der Bürgerinnen und Bürger anzuknüpfen. Das Gefühl der meisten in der Bundesrepublik ist, daß es sich recht gut in ihr leben lasse, daß dies aber ein Leben in einer ungerechten Gesellschaft ist. Daß es nicht besser wird, sondern daß die Klüfte tiefer werden zwischen oben und unten, zwischen reich und arm, zwischen Ost und West. Daß sie nicht als Menschen gelten, sondern eher als Wirtschafts- und Kostenfaktoren.

Projekt der Gerechtigkeit
Demokratischer Sozialismus hat in dieser Situation eine einzige und einzigartige Chance: sich als Projekt der Gerechtigkeit zu bewähren und der Ungerechtigkeit der Verhältnisse sowie der Funktionalität der einzelnen für die Kapitalverwertung die Forderung nach Bedingungen für ihre Individualität entgegen zu setzen. Demokratischer Sozialismus heißt, für die soziale Gleichheit der Teilhabe jeder und jedes einzelnen an den Grundbedingungen für ein selbstbestimmtes Leben in sozialer Sicherheit zu wirken.
Das Erstreiten entscheidender Bedingungen individueller Freiheit(3) und eines selbstbestimmten Lebens kann aber nicht auf Zeiten jenseits des Rubikon einer sozialistischen Revolution vertagt werden. Die Bürgerinnen und Bürger wollen hier und heute von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Bewegungen erfahren, welchen Nutzen sie von ihnen für ihr eigenes Leben zu erwarten haben.
Demokratischer Sozialismus hat nur als transformatorisches Projekt eine Chance, als ein Prozeß also, der mitten in der bürgerlichen Gesellschaft auf demokratische Weise für den Alltag von Mehrheiten nützliche Gestalt annimmt und zugleich über die herrschenden ungerechten Verhältnisse hinausweist. Gelingt es nicht, dieses transformatorische Element in die praktische gegenwärtige Politik von Sozialistinnen und Sozialisten hineinzuholen, wird sie sich entweder von sozialdemokratischer Politik kaum noch unterscheiden und damit überflüssig werden oder eine Beschränkung auf die Verneinung des Bestehenden ohne praktikable Politikangebote und ohne Anschluß an das heute Machbare wird ins scheinrevolutionäre Abseits führen.
Als das Verbindende zwischen - oft gewiß kleinen - alternativen Reformschritten unter gegebenen Verhältnissen und transformatorischem Anspruch könnte mit Imanuel Wallerstein eine Demokratisierung bezeichnet werden, die der Regel "mehr, viel mehr" folgt (Wallerstein 2002). Mehr soziale Gleichheit nämlich in der Teilhabe aller an den Grundbedingungen eines selbstbestimmten Lebens: an Existenz sichernder Arbeit, an Leistungen des Gesundheitswesens und an sozialer Sicherheit, vor allem an politischen Entscheidungen als Bedingung individueller Freiheit. Mehr soziale Gleichheit, weil ohne diese der Freiheit entscheidende Grundlagen fehlen. Mehr Solidarität, weil sonst die Gesellschaft ihren sozialen Zusammenhalt verliert. Friedenspolitik und ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft sind der Unterbau für einen solchen Prozeß.
Die Freiheit jeder und jedes einzelnen, das eigene Leben in sozialer Sicherheit selbst bestimmen zu können, darf nun ebenso als Orientierung sozialistischer Politik für die gegenwärtig möglichen politischen Entscheidungen und Schritte gelten wie als über den Kapitalismus hinausweisendes sozialistisches Ziel. Beide Dimensionen in einem transformatorischen Prozeß gesellschaftlicher Veränderungen miteinander zu verbinden, das macht sozialistische Politik aus. Wenn dies gelingt, wird sie deutlich unterscheidbar von der Politik aller anderen Parteien im parlamentarischen System der Bundesrepublik, deren pragmatische Politik ausgerechnet in einer Situation tiefster Brüche und notwendiger Entscheidungen zwischen gegensätzlichen Entwicklungspfaden ohne Vision in den Grenzen der herrschenden Eigentums- und Machtstrukturen, Verfügungs- und Verteilungsverhältnisse verbleibt.

Der Widerspruch ist in der Welt
Aber in der PDS verselbständigen sich diese beiden Pole sozialistischer Politik gegeneinander. Als sei nicht beides zugleich Aufgabe von Sozialistinnen und Sozialisten: erkennbare gesellschaftliche Opposition zu sein, die Protest, Kritik, Unmut und Widerstand bündelt und unverkennbar die Herrschaft des Profits über die Gesellschaft, patriarchale Verhältnisse, die Ausbeutung des "Südens" durch den "Norden" und ethnische Hierarchien überwinden will, und überzeugende Sachpolitik in einem voraussichtlich langen demokratischen Prozeß emanzipativen, sozial-ökologischen Wandels der bürgerlichen Gesellschaft, die auch die Mühen um kleinste Verbesserungen des Lebens nicht gering schätzt und dafür Wichtiges zu bieten hat.
Doch was zusammen gehört, wird immer wieder gegeneinander gekehrt. Hie die wahre sozialistische Opposition - und zuweilen so formuliert, als bedürften die in Regierungs-, kommunaler und Verwaltungsverantwortung Stehenden nicht statt des Vorwurfs, opportunistisch zu handeln, gemeinsamer Beratung mit ihren Kritikern. Als bedürften sie nicht größter Solidarität und des Rückhalts in den außerparlamentarischen Kämpfen, um in den Zwängen der Alltagspolitik und der leeren Kassen noch als gesellschaftliche Opposition gegen die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft erkennbar zu bleiben. Dort dagegen von seiten der als "Reformer" bezeichneten Macher in den politischen Alltagsmühlen der Vorwurf an Verantwortliche in den Vorständen und an Teile der Mitgliedschaft, sie mißachteten verharrend in hergebrachten Denkgeleisen, was die Menschen wirklich erwarten: konkrete Sachkompetenz und realisierbare Politikangebote zur Verbesserung ihres Lebens. Und undurchschaubarer wird für große Teile der Mitgliedschaft, in welchen Fällen solche Vorwürfe sogar zutreffen mögen und in welchen Streitpunkten persönliche Schuldzuweisung nur die Unfähigkeit überdecken, miteinander Lösungen für reale Widersprüche in der Gesellschaft zu finden.
Was ein innerer Widerspruch sozialistischer Strategie und Politik im Umgang mit den Widersprüchen der Gesellschaft ist, für den in jeder einzelnen Frage die konkrete Gestalt seiner Lösung neu gefunden werden muß, gerät unter der Hand zu erbitterten persönlichen Auseinandersetzungen und Interessenkämpfen. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer schrieb in einer Untersuchung über Kulturschöpfung und Kulturzerstörung (!): "Der ›Widerspruch‹, um mit Karl Kraus zu sprechen, ist nun einmal in der geschichtlichen Welt." (Mayer 2000) Und er zitierte Kraus, der seinen Kritikern in einem Epigramm entgegenhielt, sie würden reale Widersprüche mit nur persönlichen Meinungsverschiedenheiten verwechseln:

"Mein Wort berührt die Welt der Erscheinungen, die darunter oft leider zerfällt. Immer noch meint Ihr, es gehe um Meinungen, aber der Widerspruch ist in der Welt."

Der Widerspruch, daß sozialistische Politik auf Überschreitung der Grenzen des Kapitalismus zielt und gerade deshalb Mitverantwortung für demokratische Reformen und für bessere Lösungen von Alltagsproblemen der Menschen innerhalb dieser Grenzen wahrzunehmen hat, wird seine Lösung anders als nach gescheiterten marxistisch-leninistischen Vorstellungen voraussichtlich in einem transformatorischen Prozeß finden

.Richtungswandel durch Veränderung der Kräfteverhältnisse
Demokratischer Sozialismus ist ein transformatorisches Projekt

Transformation, das war im letzten Jahrzehnt der Begriff für den Übergang vom Staatssozialismus zu kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaften. Nach vorherrschender Auffassung kann Transformation nur diese eine Richtung haben: Alle Wege führen zum Kapitalismus und zur weiteren Durchkapitalisierung der Gesellschaft. Und tatsächlich ist dies der vorherrschende Trend gegenwärtiger Entwicklung. In immer neuen Wellen schreitet seit den 70er Jahren eher die Unterwerfung der Gesellschaft unter den Profit, die Rücknahme bereits erreichter sozialer und kultureller Standards und eine Schwächung solidarischer Elemente in der Gesellschaft voran.
Der Zeitgeist scheint gegen die Möglichkeit zu sprechen, in den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaften Ansätze für eine Richtungsänderung zu finden, für einen demokratischen Prozeß, der zu mehr Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Solidarität führt. Für einen transformatorischen Prozeß, der kein harmonisches Hineinwachsen in eine andere Gesellschaft sein wird, sondern sich in heftigen Auseinandersetzungen um die Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, Macht- und Eigentumsstrukturen vollziehen und eine Folge von kleinen und großen Brüchen umfassen wird.
Die Sozialismus-Versuche des 20. Jahrhunderts gingen allerdings kaum aus dem Entstehen und Heranreifen demokratisch-sozialistischer Elemente hervor. Sie entstanden vor allem als Versuche befreiender Antworten auf große Katastrophen wie die Weltwirtschaftskrise 1929/32, die beiden Weltkriege und die Barbarei des Faschismus. Wie aber, wenn es gelänge, derartige Großkatastrophen nicht mehr zuzulassen und drohenden globalen Gefahren wie einer Klimakatastrophe präventiv zu begegnen? Dann werden wohl Mehrheiten in den modernen bürgerlichen Gesellschaften selbst nach weiteren bitteren Erfahrungen mit Kriegen, sozialem Abbau und polizeistaatlichen Tendenzen im allergünstigsten Fall Reformen vom Typ des "mehr, viel mehr" ihre Zustimmung geben. Einen sozialistischen Umsturz werden sie kaum wählen.
Damit werden Anstrengungen zur theoretischen Begründung des demokratischen Sozialismus als Transformationsprozeß zu einer erstrangigen Herausforderung an kritische Gesellschaftstheorien (vgl. den ausführlichen Versuch einer solchen Begründung: Klein 2002, S. 66-112). Dann muß eine sozialistische Oppositionspolitik gegen die herrschenden Verhältnisse überzeugende praktische Reformschritte hervorbringen, um dazu beizutragen, daß ein emanzipativer Prozeß sozialökologischen Wandels in Gang kommt. Dann ist es aktuell, an die Überzeugung des alten Engels anzuknüpfen, daß das Proletariat, "weit entfernt, den Sieg mit einem großen Schlag zu erringen, in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen muß" (Engels 1963, S. 515). Engels verwies darauf, daß dies auch die Erfahrung in anderen europäischen Ländern sei: "In Frankreich, wo doch der Boden seit über hundert Jahren durch Revolution auf Revolution unterwühlt ist Â… und wo überhaupt die Umstände für einen insurrektionellen Handstreich weit günstiger liegen als in Deutschland - selbst in Frankreich sehen die Sozialisten mehr und mehr ein, daß für sie kein dauernder Sieg möglich ist, es sei denn, sie gewinnen vorher die große Masse des Volks Â…" (Engels 1963, S. 523).
Übertragen auf die heutigen Bedingungen: Das Lebenselixier des demokratischen Sozialismus als Transformationsprojekt und zugleich die Aufgabe demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten ist, in der gemeinsamen Suche mit allen anderen demokratischen Akteuren eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten einer emanzipativen Entwicklungsalternative zu erreichen.

Soziallogik kontra Kapitallogik
Demokratischen Sozialismus als ein Ziel aufzufassen, nach dem in einem transformatorischen Prozeß gesucht wird, wirft die Frage auf, ob es eine Logik des Sozialen, eine Soziallogik gibt, die in der bürgerlichen Gesellschaft als Gegenprozeß zur Kapitallogik wirkt. Die hier vertretene Annahme lautet, daß eine solche Soziallogik existiert, die objektive und subjektive Grundlagen für einen transformatorischen Prozeß in der Richtung von Emanzipation, von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit umfaßt.
Der Begriff Soziallogik wird hier als ein Arbeitsbegriff eingeführt, nicht als fertige theoretische Kategorie. Er deutet darauf hin, daß der Tendenz zur Unterwerfung der ganzen Gesellschaft unter das Kapital ein Bündel von Tendenzen, die in eine andere Richtung weisen, entgegenwirkt, ein Anwachsen sozialer und emanzipativer Ansprüche und ihrer Verwirklichung. Allerdings ist diese Tendenz bisher entschieden schwächer als die Logik der Kapitalverwertung. Überdies sind die als Soziallogik bezeichneten Tendenzen nicht ein so geschlossener Zusammenhang, nicht ein ökonomisches Gesetz wie die Kapitalverwertung. Sie ist eher die Resultante ganz unterschiedlicher Prozesse und Interessen, die der Kapitallogik mehr oder weniger entgegenstehen oder unter der Voraussetzung erheblich veränderter gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse entgegenwirken könnten. Vielleicht wird im Verlauf sachlicher Diskussion ein besserer Begriff für diese Gegenlogik gefunden. Hier kommt es darauf an zu betonen, daß sie existiert und gestärkt werden kann. In aller Regel sind Umstände und Prozesse, die in einem Widerspruch zu Kapitalherrschaft, patriarchaler Unterdrückung und anderen Herrschaftsverhältnissen stehen, doch in diese eingebettet. Träger sozialer, kultureller und ökologischer Interessen in Kollision mit den herrschenden Interessen sind oft gleichzeitig in diese eingebunden. Zudem haben potentielle Gegenmächte unterschiedliche spezifische Interessen. Der Begriff Soziallogik deutet daher auf in sich widersprüchliche, reale oder potentielle Prozesse hin, die nur bei größten Anstrengungen der mit ihnen verbundenen Akteure die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen in Frage stellen könnten. Für das Wirken einer Soziallogik sprechen unterschiedliche Theorieansätze und praktische Beobachtungen.

Ein produktivkrafttheoretischer Ansatz
Die Entwicklung der modernen Produktivkräfte bietet in doppelter Weise Ansätze für ein demokratisches Transformationsprojekt. Erstens umschließt sie die Entfaltung subjektiver Fähigkeiten und kreativer Potentiale, die für die Kapitalverwertung weit stärker als in der Vergangenheit erforderlich sind, zugleich jedoch mit ihr kollidieren und deshalb potentielle Chancen für ein Denken und Handeln über sie hinaus bieten. Einer großen Zahl von abhängig Beschäftigten, Selbständigen und freiberuflich Tätigen wird ein hohes Maß an Wissen, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Gemeinschaftsarbeit, Eigenmotivation und Selbstverantwortung abgefordert. Doch dies birgt Konflikte mit der durch Profitdominanz bedingten Fremdbestimmung. Dies kollidiert mit der Tendenz zur Reduktion des Menschen auf sich selbst vermarktende Arbeitskraft. Emanzipative Forderungen, die sich gegen solche Verengungen richten, können jedoch durchaus an Entwicklungserfordernisse anknüpfen, die das Produktivkraftsystem selbst hervorbringt.
Allerdings - dies fordert einer sozialistischen Partei überzeugendere eigene substantielle Angebote beispielsweise für eine demokratische Bildungsreform, innere Hinwendung zu Intellektuellen, Technikern und Ingenieuren, das intensive Gespräch mit ihnen und kritische Auseinandersetzung mit modernen Managementmethoden zur einseitigen Integration schöpferischer Potentiale in die Kapitalverwertung ab.
Zweitens: Moderne Produktivkraftentwicklung ermöglicht, mit weniger Arbeitsaufwand mehr Güter und Leistungen hervorzubringen. Das erlaubt "an sich" einem wachsenden Teil der Bevölkerung, Aufgaben zu übernehmen, die die Horizonte des Kapitals überschreiten, weil sie sich betriebswirtschaftlich in der Regel "nicht rechnen", für die Gesellschaft allerdings erheblichen sozialen Fortschritt bedeuten - für Gesundheit, Pflege, Bildung, Kultur und selbstbestimmtes Leben. Eine solche Entwicklung wird aber besonders seit den 70er Jahren immer stärker durch Gegentendenzen überlagert. Ursachen dafür sind gesellschaftliche Verluste im Gefolge von Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung, als Reaktion auf die Verschuldung der öffentlichen Haushalte und eine rigorose Sparpolitik zu Lasten zukunftsfähiger und einnahmewirksamer Investitionen, der Horror marktradikalen Denkens vor öffentlicher und öffentlich geförderter Beschäftigung und generell die herrschende Politik der sozialen Deregulierung und Privatisierung.
Die aus der Produktivkraftentwicklung "an sich" erwachsenen Chancen können nur mit einer alternativen Politik ausgeschöpft werden, die begehbare Wege zur Umkehr dieser Prozesse weist. Die Konzepte der Linken dafür, die PDS eingeschlossen, reichen nicht aus.

Ein reproduktionstheoretischer Ansatz
Regulationstheoretische Überlegungen stärken die Auffassung, daß stabile Gesellschaften der erweiterten Reproduktion allgemeiner Entwicklungsbedingungen über die bloße Reproduktion der Kapitalverhältnisse hinaus bedürfen. Vermehrte Bereitstellung von Bildung, Wissen, Gesundheit, Kultur, Energieversorgung, Mobilität, Kommunikation, sozialer Sicherheit und nicht zuletzt die Bewahrung der Natur bildet die conditio sine qua non der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ist ein über lange Zeiträume hinweg unverkennbarer Trend. Die Reproduktion des gesellschaftlichen Ganzen gebietet kategorisch - letzten Endes sogar im Teilinteresse der Unternehmerklasse - die Beschränkung der den Einzelkapitalen in der Konkurrenz eigenen Maßlosigkeit ihrer Verwertung und die Entwicklung nicht profitabler Bereiche der Gesellschaft. Schon Marx verwies auf diesen Zusammenhang (Marx 1962, S. 279 ff.).
Die Kapitallogik selbst bedarf ihres eigenen Gegenpols, der Soziallogik (4). Reformalternativen können und müssen daran anknüpfen. Allerdings muß dies der Unternehmerseite und den bürgerlichen Parteien in harten Kämpfen abgetrotzt werden, denen schon die kleinsten sozialen Schritte als ruinös für die Wirtschaft im Standortwettbewerb gelten. Doch trotz der weitgehenden Anpassung der ganzen Gesellschaft an "die Wirtschaft" statt deren Einbettung in die Gesellschaft existieren Prozesse, die der Wirtschafts- und Profitdominanz einen anderen Eigensinn entgegensetzen.

Ein systemtheoretischer Ansatz
Moderne bürgerliche Gesellschaften sind ausdifferenzierte Gesellschaften. Gesellschaftliche Teilsysteme haben sich herausgebildet - Wirtschaft, Politik, Recht, Sozialsphäre, Kultur, Wissenschaft, Religion. Sie folgen jeweils eigenen inneren Maßstäben der Entwicklung. In der Wirtschaft geht es um Profit, um Kapitalverwertung oder Kapitalentwertung - aber Sozial-, Arbeits- und Umweltgesetzgebung sowie Mitbestimmung wirken auch in die Wirtschaft hinein.
In der Politik geht es um Machtgewinn oder Machtverlust - aber ohne soziale Zugeständnisse an die Bevölkerungsmehrheit ist keine Elite vor Machtverlusten sicher. Im Recht geht es um Setzung und Einhaltung gesellschaftlicher Normen und um Sanktionen im Falle ihrer Verletzung. Dies vollzieht sich beeinflußt von Kapitalmacht - aber Menschenrechte weisen über diese hinaus. In der Wissenschaft geht es um Zugewinn an Erkenntnis, oft in Abhängigkeit von der Finanzierung wirtschaftlich lohnender und den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen zuträglicher Projekte. Aber der Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit sind auch herrschaftskritische Tendenzen eigen.
Zwar ist in bürgerlichen Gesellschaften der Profit der bestimmende Maßstab nicht allein in der Wirtschaft, sondern prägt trotz eigener Logiken der einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme hochgradig auch deren Entwicklung. Gleichwohl gilt, daß eine Logik sozialer Entwicklung wider die Kapitallogik Stützen in der relativen Eigenständigkeit der ausdifferenzierten einzelnen Teilsysteme und der in ihnen wirkenden spezifischen Interessen hat. Ein Blick auf die Entwicklung von Bildung, sozialen Sicherungssystemen, öffentlicher Daseinsvorsorge und Kultur macht dies deutlich.
Die Kunst alternativer Politik besteht unter anderem darin, die verbreitete Ablehnung einer weiteren Unterordnung von Kindergärten, Schulen und Universitäten, von Gesundheitseinrichtungen und der kulturellen Sphäre unter den "Terror der Ökonomie" (Viviane Forrester) aufzugreifen, um diese Chance für transformatorische Entwicklungen zu nutzen. Dies kann an die lebensweltlichen Interessen der Menschen anknüpfen.
Meinungen zur Zukunft
Frage: "Wie stellen Sie sich unsere Gesellschaft in 10 Jahren vor?"
(Wahlberechtigte deutsche Bevölkerung, Angaben in %, gerundet) Trifft zu
Ältere werden immer mehr Mühe haben, die Gesellschaft zu verstehen. 71
Die Gesellschaft wird kälter, egoistischer. 71
Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. 70
Geld wird immer wichtiger, die Menschen werden immer materialistischer. 68
Nur die Starken werden sich durchsetzen. 54
Die Zukunft wird unsicherer werden. 50
Es wird mehr Wohlstand geben, wir werden uns mehr leisten können. 16
Die Politik wird bürgernäher. 7
Es wird mehr Solidarität, mehr Zusammenhalt geben. 6
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach. FAZ, 16. 08. 2000. (5)

Individualisierung und lebensweltlicher Ansatz
Eines der Grundmerkmale bürgerlicher Gesellschaften ist der Prozeß der Individualisierung. Das eigene Leben mit selbstbestimmtem Sinn zu erfüllen, nach eigenem Maß zu leben, individuelle Freiheit für jede und jeden zu erstreben - das widerspricht der Logik des Kapitals und der Verwandlung aller Sphären des Lebens in Objekte der Kommerzialisierung. Hier hat eine Soziallogik ihre tiefsten Wurzeln. Hier sind entscheidende Ansätze für eine Transformation zu einer gerechten Gesellschaft zu finden. Doch diese Ansätze bedürfen der Freisetzung durch entschiedene Erneuerung der Demokratie. Denn einerseits werden Individualisierungsprozesse im Vergleich zu vorkapitalistischen Gesellschaften zwar durch höhere Einkommen, bessere Bildung, größere Mobilität, Fortschritte in der Emanzipation von Frauen und mehr Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen gefördert. Andererseits ist aber sozial gleiche Teilhabe an demokratischen Entscheidungen, an existenzsichernder Arbeit, Bildung, Wissen, Kultur und sozialer Sicherheit selbst in den reichen Ländern der westlichen Welt für die Bevölkerungsmehrheit nur ein Traum. Die emanzipativen Seiten des historischen Individualisierungsprozesses werden von jener anderen Seite überlagert, die Vereinzelung, Isolierung, Rückzug in das Private und Einsatz der Ellenbogen gegeneinander bedeutet. Dieser Widerspruch in den Individualisierungsprozessen ist ein Nährboden für Forderungen nach einer Gerechtigkeit, die Freiheit, soziale Gleichheit und Solidarität einschließt. Individualisierung steht auf Kriegsfuß mit der Kapitallogik. Dies gilt, obwohl oder weil sie bisher überwiegend in eben diese Kapitallogik eingebunden ist.
In der Gesellschaft und in ihren Teilsystemen geht es immer darum, daß die Individuen so funktionieren sollen, wie das den Maßstäben der Märkte, dem Erhalt gegebener politischer Verhältnisse, dem kulturellen Mainstream usw. entspricht. Im Widerspruch dazu haben die Individualisierungsprozesse das Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Leben gestärkt. Ein eigenes Leben bedeutet, daß die einzelnen ihre vielfältigen ganz persönlichen Beziehungen und ihre Einbindung in Arbeit, politische Prozesse, Kultur oder auch religiöses Leben zu einer jeweils einmaligen Lebenskonstruktion und Biographie kombinieren. Vom Standpunkt der kapitalistischen Wirtschaft mag die Ausweitung des Niedriglohnsektors und prekärer Beschäftigung funktionsgerecht für höchstmögliche Profite sein. Von einem emanzipativen, lebensweltlichen Standpunkt aus ist nach existenzsichernder, sinnvoller Arbeit für alle zu suchen, ist beispielsweise nach schrittweiser Einführung eines Bürgerrechts auf ein bedarfsorientiertes Grundeinkommen zu fragen, damit jede und jeder die Möglichkeit hat, zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen Nein sagen zu können, ohne die eigene soziale Existenz aufs Spiel zu setzen. In der Lebenswelt - so sehr sie gegenwärtig nach einem Befund von Jürgen Habermas von der Systemwelt kolonialisiert ist - ist Widerstand gegen die Logik der herrschenden Verhältnisse angelegt. Ein transformatorisches Projekt sozialen und ökologischen Wandels der Gesellschaft findet in den der Profitdominanz zuwiderlaufenden Seiten der Individualisierung und des lebensweltlichen Eigensinns wichtige Grundlagen.

Empirischer Ansatz: Analyse des öffentlichen Bewußtseins
Empirische Untersuchungen über Befindlichkeiten, Problemwahrnehmungen und Verhalten der Bevölkerung der Bundesrepublik deuten auf erhebliche Ambivalenzen im öffentlichen Bewußtsein hin. Sie enthalten starke Anknüpfungspunkte für ein transformatorisches Projekt, die jedoch wiederum durch Gegentendenzen blockiert sind.

Meinungen zur Gesellschaft
Antworten: Trifft zu Â… : 1 + 2 Ganz genau + Überwiegend, 3 + 4 : Eher nicht + Überhaupt nicht Ost West
  1 + 2 3 + 4 1 + 2 3 + 4
Dimension: "Gesellschaft"
Ich glaube, die Gesellschaft muß sich in Zukunft grundlegend ändern. 77 6 72 10
Ich glaube, wenn alles so weitergeht wie bisher, steuern wir auf eine Katastrophe zu. 53 22 60 21
In der Gesellschaft regiert das Prinzip der Chancengleichheit, nicht das "Recht des Stärkeren". 13 70 22 53
Dimension: "Möglichkeiten im politischen System"
Es gibt doch eine Menge Möglichkeiten, sich politisch einzubringen und etwas zu verändern. 25 38 32 38
In der Gesellschaft etwas verändern zu wollen, ist sowieso zwecklos. 26 47 24 52
Dimension: "Persönliche Aktivität"
Ich würde mich schon politisch engagieren, aber nur dort, wo ich weiß, daß es sich lohnt. 35 37 45 31
Entsprechend meinen Möglichkeiten bin ich politisch aktiv. 14 64 14 67
Ich lebe mein Leben, alles andere ist mir egal 6 77 11 75

(6)
Große Teile der Bevölkerung in der Bundesrepublik wünschen sich die Gesellschaft anders als sie ist - gerechter, demokratischer, sozialer und sicherer. Doch sie empfinden die Gesellschaft in der Bundesrepublik auch als eine solche, in der sie ihr Leben gut einrichten können. Eine Bevölkerungsmehrheit nimmt schwerwiegende gesellschaftliche Defizite wahr, fühlt sich jedoch zugleich stark in die gegenwärtigen Verhältnisse integriert. Die meisten wünschen sich eine bessere Gesellschaft, glauben aber, daß sich kaum etwas am gegenwärtigen Lauf der Dinge ändern läßt. Die neoliberale geistige Hegemonie ist ungebrochen. Allerdings geben 26 Prozent der in einer repräsentativen Untersuchung Befragten an, daß sie sich für Veränderungen engagieren würden, wenn sie Aussichten auf Erfolg erkennen könnten (Chrapa/Wittich 2001).
Eine sozialistische Transformationsstrategie könnte den Befindlichkeiten der Bevölkerungsmehrheit dadurch entsprechen, daß sie auf prozeßhaften Wandel einer Folge von Teilschritten gerichtet wird. Dies können nur solche Schritte sein, die von der Aktivität vieler getragen und selbst bestimmt werden und die deren durchaus weitreichende Wünsche dadurch aufnehmen, daß das Machbare in der Gegenwart mit der Vision einer sozialökologischen Entwicklung zu einer gerechten, emanzipativ verfaßten Gesellschaft verknüpft wird. Der empirisch nachweisbare Aufstieg von Gerechtigkeit im Wertegefüge, das dem Empfinden von Mehrheiten zugrunde liegt, könnte vorsichtig als im kulturellen Wandel enthaltene Chance für transformatorische Entwicklungen gedeutet werden.

Eigentumstheoretischer Ansatz
Allen Hoffnungen auf progressiven Wandel, die hier mit unterschiedlichen Ansätzen begründet werden, stehen die dominierenden Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse entgegen. Die internationale Fusionswelle, die Privatisierung von öffentlichen Unternehmen und das Vordringen des Kapitaleigentums in immer neue Sphären der Gesellschaft - beispielsweise als Kapitaleigentum an Grundbausteinen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens durch Genpatentierung - scheinen alle Überlegungen zu antikapitalistischen transformatorischen Prozessen in das Reich der Illusionen zu verweisen.
Jedoch die in der Theorietradition des orthodoxen Sozialismus und Kommunismus angenommenen festen Konturen des Kapitaleigentums - Eigentümer oder Nichteigentümer und kein Übergang dazwischen -, die jede transformatorische Bewegung in bürgerlichen Gesellschaften ausschließen würden, unterliegen Wandlungsprozessen, die auf Chancen für die Zurückdrängung des Kapitaleigentums und für die Überwindung seiner Vorherrschaft hindeuten. Dieser Wandlungsprozeß ist keineswegs das Bestimmende in der gegenwärtigen Entwicklung. Das Bestimmende ist die wachsende Kapitalmacht und die Unterwerfung der Gesellschaft unter deren Imperative.
Aber unübersehbar geht mit der Reproduktion des Kapitaleigentums eine reale, bisher stets sehr viel schwächere Gegentendenz zur Einschränkung der Verfügungsgewalt der Kapitaleigentümer über ihr Eigentum einher. Die gewerkschaftlichen Kämpfe und die anderer Bewegungen, die auf dem Wege der Sozialgesetzgebung die Unternehmen nötigen, einen Teil ihrer Profite in Beiträge für soziale Sicherungssysteme zu verwandeln, sind Ausdruck dessen. Die Besteuerung der Unternehmergewinne - so ungerecht sie auch im Vergleich zur Steuerbelastung der Lohneinkommen ist - bedeutet Eingriff in die Verfügungsgewalt über das Eigentum. Gebote und Verbote sowie marktkonforme Instrumente der Umweltpolitik wirken ebenfalls auf die Verfügung über Kapitaleigentum ein. Die Entwicklung eines Dritten (Non-Profit-)Sektors deutet auf die Alternative einer pluralen Eigentumsstruktur hin, in der entgegen dem vorherrschenden Privatisierungstrend öffentlich gefördertes Eigentum autonomer Wirtschaftsakteure im Dritten Sektor, genossenschaftliches und kommunales Eigentum, Eigentum von Ländern und Bund und öffentlich-rechtliches Eigentum überall dort an Gewicht gewinnen könnten, wo privates Kapitaleigentum der Forderung im Grundgesetz nach Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums nicht entspricht.(7)
Der Grundgedanke einer alternativen Eigentumspolitik besteht in einer so weitreichenden Erneuerung der Demokratie, daß jegliche Form von Eigentum dem Gemeinwohl unterworfen wird.(8) Der ökonomische Kern einer solchen Alternative ist die Zurückdrängung und Überwindung der Profitdominanz zugunsten emanzipativer, sozialer und ökologischer Maßstäbe in demokratischen Entscheidungsprozessen (siehe Näheres: Klein 2002, S. 113-142). Deshalb heißt es im Entwurf für ein neues Parteiprogramm der PDS: "In den Profit- und Herrschaftsinteressen der international mächtigsten Teile des Kapitals Â… sehen wir die Ursachen für die Gefährdung der menschlichen Zivilisation und Kultur, für Gewalt und Krieg, soziales Elend und die Krise der globalen Ökosphäre. Wir wollen, dass diese Herrschaftsstrukturen zurückgedrängt und überwunden werden. " Deshalb "lehnen wir die Vorherrschaft kapitalistischer Eigentumsverhältnisse ab Â…". Und: "Eigentumsfragen sind Fragen der Macht und des Kräfteverhältnisses in der Gesellschaft. Progressiver Wandel der Eigentumsverhältnisse muß durch Gegenmächte bewirkt werden."

Akteursorientierter Ansatz
Dieser Gedanke der Stärkung von Gegenmächten mündet in die für transformatorische Prozesse entscheidende Aussage: Es gibt nur eine einzige Chance, jegliche Form des Eigentums dem Grundgesetz entsprechend auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Es gibt nur einen einzigen Weg, die Unterwerfung der Soziallogik unter die Kapitallogik zu beenden und das Verhältnis zwischen beiden Entwicklungslogiken umzukehren. Das ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Das ist die Selbstermutigung vieler Bürgerinnen und Bürger, ihrer Initiativen und sozialen Bewegungen, der Gewerkschaften und anderer Organisationen, kurz, von Gegenmächten unterschiedlicher Art und von Parteien, die mit ihnen solidarisch sind, zum Begehen neuer Wege. Das ist die Vernetzung alternativer Akteure zu Allianzen für mehr Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und Solidarität.(9)
Für die künftige programmatische Arbeit ist es eine ernstrangige Aufgabe, sie stärker mit den praktischen Erfahrungen dieser unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte zu verbinden.Ein

Fazit
Die Aussage der hier vorgelegten Überlegungen ist, daß die moderne bürgerliche Gesellschaft der Bundesrepublik selbst Tendenzen, Möglichkeiten und Ansatzpunkte für einen emanzipativen Transformationsprozeß birgt. Die Schlußfolgerung aus diesem Befund ist, daß es darum geht, diese Tendenzen gegen alle konservativen Herrschaftsverhältnisse, gegen Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft voll zur Geltung zu bringen. Doch dazu bedarf es eines Stücks Vision, um den vorherrschenden Glauben abzuschütteln, daß der Weg in die Zukunft mit der Anerkennung der gegebenen Macht- und Reichtumsverteilung, mit Verlusten und Ängsten großer Teile der Bevölkerung gepflastert sein muß. Der Gebrauchswert der PDS - wenn sie denn den demokratischen Sozialismus konsequent als transformatorisches Projekt begreift und in Politik umsetzt - ist, praktische Reformpolitik mit der Perspektive einer anderen gerechten Gesellschaft in Frieden mit anderen Völkern und mit der Umwelt zu verbinden.

Dieter Klein - Jg. 1931, Prof. Dr. oec. habil., Wirtschaftswissenschaftler. Vorsitzender der Zukunftskommission der Rosa- Luxemburg-Stiftung Berlin. Autor zahlreicher Bücher und Artikel, unter anderem: "ReformAlternativen: sozial - ökologisch - zivil", Berlin 2000 und (zusammen mit Michael Brie und Michael Chrapa): "Sozialismus als Tagesaufgabe", Berlin 2002.

Mit dem nebenstehendem Beitrag wird die Diskussion zum Programm der PDS wieder aufgenommen. Vgl. dazu auch die Beiträge zu Strategie und Programmatik der PDS in: UTOPIE kreativ, Sonderheft Oktober 2000 sowie die Hefte 120, 123, 128, 132, 134, 139, 143 und 146.

(1) "In den Städten können Armenviertel entstehen, der Gesundheitszustand und die Lebenserwartung von Bevölkerungsgruppen können sinken, die Kriminalität kann steigen. ... Die Nachteile der Niedriglohnstrategie sind damit offenkundig. Dennoch muß auch sie verfolgt werden, solange die Strategie der Erneuerung hin zur unternehmerischen Wissensgesellschaft noch nicht hinreichend wirksam geworden ist." (Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen 1997, S. 23)

(2) "Die bürgerliche Revolution verankert nur die Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse, die sich im Schoße der alten, feudalen Gesellschaft spontan vollzogen hat... Demgegenüber können sich sozialistische Produktionsverhältnisse nicht spontan im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln, denn hier handelt es sich nicht um die Ablösung einer Form der Ausbeutungsverhältnisse durch eine andere, sondern um die Beseitigung jeglicher auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln basierenden Ausbeutungsverhältnisse überhaupt. Das bedeutet, daß die politische Revolution des Proletariats, die Beseitigung der Macht der Bourgeoisie und die Errichtung der Diktatur des Proletariats, notwendige Voraussetzung und Bedingung für die Schaffung der ökonomischen Basis der Gesellschaft ist." (Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus, Berlin 1977, S. 349/350)

(3) Individuelle Freiheit einer und eines jeden in einer gerechten Gesellschaft der sozialen Sicherheit - das könnte als Annäherung an ein modernes Selbstverständnis des demokratischen Sozialismus gelten.

(4) Aus reproduktionstheoretischer Sicht spricht zweierlei für die Möglichkeit einer Stärkung der Soziallogik gegen die Kapitallogik. Stabile Gesellschaften bedürfen erstens der erweiterten Reproduktion allgemeiner Entwicklungsbedingungen über die bloße Reproduktion der Kapitalverhältnisse hinaus. Zweitens ergeben reproduktionstheoretische Überlegungen, daß auch eine beschleunigte Entwicklung nicht profitabler sozialer Bereiche mit marktwirtschaftlicher Regulierung der Produktion vereinbar ist - wenn auch nicht im Selbstlauf.

(5) "Es gibt im Westen der Welt wohl kaum einen verbreiteteren Wunsch als den, ein eigenes Leben zu führen. Wer heute in Frankreich, Finnland, Polen, der Schweiz, in England, Deutschland, Ungarn, in den USA und Kanada herumreist und fragt, was die Menschen wirklich bewegt, wo für sie der Spaß aufhört, wenn man es ihnen nehmen will, dann wird er auf Geld, Arbeitsplatz, Macht, Liebe, Gott usw. stoßen, aber mehr und mehr auf die Verheißungen des eigenen Lebens. ... Mit nur leichter Übertreibung kann man sagen: Das alltägliche Ringen um das eigene Leben ist die Kollektiverfahrung der westlichen Welt geworden." (Ulrich Beck/Erdmann, Ulf Ziegler: Eigenes Leben, München 1997, S. 9)

(6) Zugleich erwarten 71 Prozent aller Deutschen, daß die Gesellschaft kälter und egoistischer wird. Nur 6 Prozent rechnen auf mehr Solidarität und Zusammenhalt. Besonders für die einfachen Leute werde sich die Lage verschlechtern, nehmen 71 Prozent der Westdeutschen und 85 Prozent der Ostdeutschen an.

(7) Nach Schätzungen der Prognos AG von 1998 haben in der Bundesrepublik 2,3 Millionen Menschen in Organisationen ohne Erwerbscharakter einen bezahlten Arbeitsplatz. In den sozialen Diensten sind von den dort Beschäftigten 22,1 Prozent und von den im Gesundheitsdienst Beschäftigten 48,6 Prozent im Dritten Sektor tätig.

(8) Erneuerung der Demokratie, wachsender Einfluß unterschiedlicher Gegenmächte auf wesentliche gesellschaftliche Entscheidungen über die Richtungen der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft und über einzelne Schritte zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit würden dazu führen, daß das Eigentum selbst sich in dem Maße wandelt, in dem es gelingt, es übergreifenden Gemeinwohlinteressen an mehr Gerechtigkeit, Sicherheit und sozial-ökologischem Wandel zu verpflichten.

(9) Der Widerstreit zwischen Kapitallogik und Soziallogik, zwischen herrschenden Eliten und Gegenmächten führt zu einer zentralen Frage: Wodurch kann erreicht werden, daß die Zivilisations- und Evolutionspotentiale bürgerlicher Gesellschaften und die Tendenzen, die hier mit dem Begriff der Soziallogik bezeichnet wurden, nicht der Kapitalverwertung und der Befestigung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse einverleibt bleiben, sondern in demokratischen Alternativen aufgehoben, das heißt bewahrt und zugleich auf neue Weise entfaltet werden? - Die Antwort ist, daß dies nur in den gesellschaftlichen Kämpfen um eine andere bessere Gesellschaft möglich ist. Von deren Ausgang hängt die Entscheidung über künftige Entwicklungspfade ab.

Literatur

Chrapa, Michael/Wittich, Dietmar (2001): Zwischen den Wahlen, Berlin/Halle.

Engels, Friedrich (1963): Einleitung zu MarxÂ’ "Klassenkämpfe in Frankreich", in: MEW Bd. 22, Berlin.

Klein, Dieter (2002): Demokratischer Sozialismus als transformatorisches Projekt, in: Brie, Michael/Chrapa, Michael/Klein, Dieter: Sozialismus als Tagesaufgabe. Rosa-Luxemburg- Stiftung, Manuskripte 36.

Marx, Karl (1962): Das Kapital. Band I, in: MEW Bd. 23, Berlin. Marx,

Karl/Engels, Friedrich (1957): Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, Berlin.

in: UTOPIE kreativ, H. 147 (Januar 2003), S. 17-29