Ein Volk als Geisel

Osama bin Laden wurde nicht gefunden. Jetzt haben die USA in ihrem sogenannten Anti-Terror-Krieg einen anderen Feind ausgemacht, Saddam Hussein, ...

... obgleich nichts auf dessen Beteiligung an den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hinweist. Der persönliche Gegner der Bush-Familie und Herrscher über das zweitgrößte Erdölvorkommen der Erde ist gewiß ein brutaler Diktator, der sich aber leider von vielen brutalen Diktatoren in Arabien und anderswo wenig unterscheidet. Soll man sie alle und ihre Völker mit Krieg bekämpfen?
Völkerrechtswidrig hatte Saddam 1980 den Iran angegriffen, um einen besseren Zugang zum Persischen Golf am Schatt-el-Arab zu erhalten. Dafür wurde er weder von der UNO noch von den USA bestraft; vielmehr unterstützten ihn die USA finanziell und logistisch gegen ihren Feind Iran. Um eine Niederlage in diesem Krieg zu verhindern, setzte Saddam 1988 Giftgas gegen die vorrückenden iranischen Soldaten und im gleichen Jahr auch gegen ihn bekämpfende Kurden im eigenen Land ein. Tausende wurden ermordet. Wie reagierten damals die Vereinten Nationen und die USA auf diese Verbrechen, die jetzt als Begründung für die Notwendigkeit eines Krieges gegen den Irak zitiert werden? Es gab keine Sanktionen, keine Bestrafung, sondern weiterhin freundschaftliche Beziehungen zwischen den USA und dem Irak. Zu Festtagen wechselten die Präsidenten George Bush I. und Saddam Hussein Glückwunschtelegramme. Nachdem aber irakische Truppen Kuwait und seine Ölfelder besetzt hatten, folgten im August 1990 sofort UN-Sanktionen, um den bedingungslosen Rückzug zu erzwingen. Alle Wünsche des Irak sowie der anderen arabischen Länder nach Verhandlungen wurden abgelehnt. Im Januar 1991 begann dann der zweite Golfkrieg und damit all das Elend für das irakische Volk, das von den USA als Geisel für die Arroganz, die Fehler und Verbrechen Saddam Husseins genommen wurde.
Bis dahin ging es dem Volk gut - trotz des achtjährigen Krieges gegen den Iran und der Schulden von 90 Milliarden Dollar im Ausland, vor allem in den USA und Rußland. Das Schulwesen war vorbildlich. Etwa 85 Prozent der Menschen konnten lesen und schreiben. Das Gesundheitswesen war das beste im vorderen Orient. 131 moderne Krankenhäuser wurden gebaut und optimal eingerichtet. Daneben gab es 850 Gesundheitszentren, in denen Vorsorge-Untersuchungen und Impfungen stattfanden. Alle Menschen hatten unentgeltlich Zugang. Jährlich kaufte der Irak für 600 Millionen Dollar Medikamente und Krankenhausbedarf im Ausland, dazu alle modernen Apparate. Was die Ärzte in den internistischen und chirurgischen Kliniken leisteten, hatte europäisches Niveau.
Es gab keine Arbeitslosigkeit. Die ausgebildeten Iraker verdienten gut, wohnten in schönen Häusern. Die Städte, Straßen, Geschäfte und Basare waren sauber. Das änderte sich, als am 17. Januar 1991 der von den USA angeführte Krieg begann, dem die Vereinten Nationen mit dem begrenzten Ziel zustimmten, Kuwait zu befreien. In 43 Tagen wurden tausend Luftangriffe geflogen, 88 500 Tonnen Bomben, Raketen und panzerbrechende Geschosse abgefeuert, darunter etwa 300 Tonnen uranhaltiger Munition. Es folgten vier Tage Landkämpfe, in denen die irakischen Truppen keine Chance gegen die technisch überlegenen US-Streitkräfte hatten. Etwa 50 000 kamen ums Leben. Irak kapitulierte.
Der UN-Auftrag, Kuwait zu befreien, war also erfüllt. Was der Welt vorenthalten wurde, war die Wahrheit über die massiven Bombardierungen und Zerstörungen im ganzen Land Irak, die zur Erfüllung des UN-Auftrags nicht notwendig, daher völkerrechtswidrig waren. Zerstört wurden nahezu sämtliche Fabriken (z.B. zur Herstellung von Trockenmilch, Gefrierfleisch, Textilien, Kunstdünger, Desinfektionschlor, Pharmazeutika, tiermedizinischen Impfstoffen), außerdem Getreidesilos, Viehställe, das zentrale Telefonamt, nahezu alle Brücken, die meisten Straßen, mehrere Krankenhäuser, viele andere Gebäude in Bagdad, ganze Stadtteile im Süden Iraks, besonders in Basra. Unverzeihlich wirkten sich die Zerstörungen der Elektrizitätswerke, der Kläranlagen und Wasserwerke aus. Die Menschen waren gezwungen, Flußwasser zu trinken - mit der Folge schwerster Infektionen und Durchfallerkrankungen. Kleinkinder waren die häufigsten Opfer. Allein im ersten Jahr starben 170 000 Kleinkinder.
Ähnliche und noch schlimmere Zerstörungen sind im nächsten Krieg zu erwarten - mit neu entwickelten Waffen. Durch die Veröffentlichung der "Nuclear Posture Review" wissen wir, daß sich die US-Regierung für den Bedarfsfall, beispielsweise um Bunker zu brechen, den Einsatz von Atomwaffen auch gegen Nicht-Atomwaffenstaaten vorbehält.
Neben den Angriffen US-amerikanischer und britischer Truppen muß auch mit Bürgerkrieg gerechnet werden. 1991 hatte Präsident Bush I. die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden des Landes zum Aufstand gegen Saddam aufgerufen. Sie sollten das unvollendete Werk zu Ende bringen - und verließen sich auf US-amerikanische Unterstützung, die aber ausblieb. Die irakischen Truppen schlugen die Aufstände nieder. Inzwischen haben die USA begonnen, Kurden und Schiiten für einen neuen Krieg anzuwerben und auszubilden.
Die verarmten Menschen im Irak ertragen zumeist still ihr Leid - in großer Sorge vor neuem Krieg und Bürgerkrieg. Es gibt keine begeisterte Unterstützung für das Regime, aber lieber soll der gegenwärtige Zustand erhalten bleiben, als daß neue Zerstörungen und Massentötungen über das Land kommen und danach ein neues Regime unter US-amerikanischer Führung. Denn die Regierungen in Washington und London sind wegen der zwölfjährigen Sanktionen und der ständigen Bombardements sehr unbeliebt, geradezu gehaßt. Unvergessen sind auch die Besatzungsjahre, als der Irak nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches ein britisches Protektorat war und Kuwait von ihm abgetrennt wurde.
Als Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer erklärten, Deutschland werde sich nicht am Krieg gegen Irak beteiligen, ging bei uns ein Aufatmen durchs Land, und man wußte, wem man bei der Bundestagswahl die Stimme zu geben hatte. Jetzt gilt es, in der Ablehnung des Krieges und der Scheinargumente für einen "Krieg gegen den internationalen Terrorismus" standfest zu bleiben. Kriminelle und Terroristen müssen verfolgt werden, nicht aber die unschuldigen Völker.