Scheitern - Verrat - Lernprozess

Drei Ansätze zur Interpretation der Geschichte der kommunistischen Bewegung

1.Kommunistische Bewegung, Überwindung der drei großen Diskriminierungen und die Erringung der Demokratie und des Sozialstaats

Wie können wir eine historische Bilanz der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert ziehen? Welche Kategorie müssen wir in erster Linie benutzen? Heutzutage ist der Diskurs über das "Scheitern" des "Realsozialismus" so unbestritten, dass er nicht einmal bei der Linken auf Widerspruch stößt. Die vorherrschende Historiographie und Ideologie scheinen die Bilanz eines dramatischen Jahrhunderts in einer erbaulichen Fabel zusammenfassen zu wollen: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wird ein attraktives und tugendhaftes Mädchen (das Fräulein Demokratie) zuerst von einem Rohling (dem Herrn Kommunismus) angegriffen und danach von einem anderen (dem Herrn Nazi-Faschismus); die Kontraste zwischen den beiden ausnutzend und über komplexe Geschehnisse hinweg gelingt es dem Mädchen schließlich, sich von der schrecklichen Bedrohung zu befreien; inzwischen reifer geworden, aber ohne etwas von ihrem Charme verloren zu haben, kann das Fräulein Demokratie schließlich ihren Liebestraum durch die Heirat mit dem Herrn Kapitalismus verwirklichen; von Respekt und von allgemeiner Bewunderung umgeben, ist es dem glücklichen und unzertrennlichen Paar genehm, sein Leben besonders zwischen Washington und New York zu verbringen, zwischen dem Weißen Haus und der Wallstreet. Wenn die Dinge so stehen, ist kein Zweifel mehr zulässig: Der Kommunismus ist offensichtlich ruhmlos gescheitert.

Nur hat diese erbauliche Geschichte nichts mit der wirklichen Geschichte zu tun. Die zeitgenössische Demokratie beruht auf dem Grundsatz, dass jedes Individuum, unabhängig von Rasse, sozialem Stand und Geschlecht unveräußerliche Rechte besitzt, und sie setzt daher die Überwindung der drei großen Diskriminierungen (der rassistischen, klassenbedingten und sexuellen) voraus, die am Vorabend der Oktoberrevolution noch gang und gäbe waren.

Widmen wir uns zunächst der ersten: Sie tritt in zweifacher Form auf. Auf planetarischer Ebene sehen wir einerseits die "Versklavung der Hunderte Millionen Werktätigen in Asien und in den Kolonien überhaupt und in den kleinen Ländern" durch "einige wenige auserwählte Nationen", die - fährt Lenin fort -"das ausschließliche Privileg auf staatliche Konstituierung besitzen" und es den Barbaren in den Kolonien oder Halbkolonien absprechen (Lenin, 1955, Bd. 26, S. 425; Bd. 20, S. 442). Auf der anderen Seite zeigt sich auch innerhalb der Vereinigten Staaten die Rassendiskriminierung, wo den Schwarzen die politischen Rechte und manchmal auch die Bürgerrechte verweigert werden, und wo sie jedenfalls einem Regime der white supremacy unterworfen sind.

Beredt sind die Schlussfolgerungen, zu denen im Jahre 1944 ein berühmter schwedischer Soziologe (Myrdal) gelangt: "Die Segregation wird nunmehr so vollständig, dass ein Weißer im Süden nie einen Schwarzen sieht, wenn nicht als Diener oder in ähnlichen formalisierten und standardisierten Situationen, die für Beziehungen zwischen Kasten typisch ist." In den darauffolgenden Jahren beginnen die Mobilisierung und die Agitation der Schwarzen einige Erfolge zu erzielen. Die Änderung des Klimas kann von einem Brief aus erklärt werden, den der amerikanische Justizminister im Dezember 1952 an den Obersten Gerichtshof schickt, der gerade die Integration in den öffentlichen Schulen diskutiert: "Die Rassendiskriminierung begünstigt die kommunistische Propaganda und erweckt Zweifel auch bei befreundeten Nationen über die Solidität unseres demokratischen Credos." (In: Woodward, 1966, S. 118 und S. 131ff).

Es macht keinen Sinn, den Kommunismus mit dem Nazismus gleichstellen zu wollen, das heißt mit der Macht, die sich am konsequentesten und brutalsten der Überwindung der Rassendiskriminierung und damit der Einführung der Demokratie widersetzt hat. Stellt das Dritte Reich den mit dem totalen Krieg vorangetriebenen Versuch dar, ein Regime der white supremacy auf planetarischer Ebene und unter deutscher und "arischer" Hegemonie zu errichten, so hat auf der anderen Seite die kommunistische Bewegung einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Rassendiskriminierung und des Kolonialismus geliefert, dessen Erbe der Nazismus antreten und radikalisieren möchte.

Lassen wir jetzt einmal die Kolonien und das Schicksal der "minderjährigen Rassen" hinter uns, um unseren Blick auf die kapitalistische Metropole, ja ausschließlich auf ihre "zivile" Bevölkerung zu richten. Auch auf dieser Ebene -bemerkt Lenin - bestehen weiterhin bedeutende Klauseln des Auschlusses vom Bürgerrecht und von der Demokratie. In England ist das Wahlrecht "immer noch beschränkt genug [...] um die eigentlich proletarische Unterschicht fernzuhalten" (Lenin, 1955, Bd. 22, S. 287); wir können außerdem hinzufügen, dass einige Privilegierte weiterhin das "Mehrfachstimmrecht" genießen, das erst 1948 völlig aufgehoben wird. Besonders komplex war im klassischen Land der liberalen Tradition der Prozess, der zur Verwirklichung des Prinzips "ein Kopf, eine Stimme" geführt hat, und dieser Prozess ist undenkbar ohne die Herausforderung, die die Revolution in Russland und die kommunistische Bewegung dargestellt hatten.

Selbst dort, wo das männliche Wahlrecht allgemein oder nahezu allgemein geworden ist, wird es von der Einrichtung des Oberhauses neutralisiert, das Vorrecht des Adels und der privilegierten Klassen bleibt. Im italienischen Senat sitzen als vollberechtigte Mitglieder (von Rechts wegen) die Prinzen das Hauses Savoyen: Alle anderen werden auf Lebenszeit und auf Empfehlung

Bd. 26, S. 425; Bd. 20, S. 442). Auf der anderen Seite zeigt sich auch innerhalb der Vereinigten Staaten die Rassendiskriminierung, wo den Schwarzen die politischen Rechte und manchmal auch die Bürgerrechte verweigert werden, und wo sie jedenfalls einem Regime der white supremacy unterworfen sind.

Beredt sind die Schlussfolgerungen, zu denen im Jahre 1944 ein berühmter schwedischer Soziologe (Myrdal) gelangt: "Die Segregation wird nunmehr so vollständig, dass ein Weißer im Süden nie einen Schwarzen sieht, wenn nicht als Diener oder in ähnlichen formalisierten und standardisierten Situationen, die für Beziehungen zwischen Kasten typisch ist." In den darauffolgenden Jahren beginnen die Mobilisierung und die Agitation der Schwarzen einige Erfolge zu erzielen. Die Änderung des Klimas kann von einem Brief aus erklärt werden, den der amerikanische Justizminister im Dezember 1952 an den Obersten Gerichtshof schickt, der gerade die Integration in den öffentlichen Schulen diskutiert: "Die Rassendiskriminierung begünstigt die kommunistische Propaganda und erweckt Zweifel auch bei befreundeten Nationen über die Solidität unseres demokratischen Credos." (In: Woodward, 1966, S. 118 und S. 131 ff).

Es macht keinen Sinn, den Kommunismus mit dem Nazismus gleichstellen zu wollen, das heißt mit der Macht, die sich am konsequentesten und brutalsten der Überwindung der Rassendiskriminierung und damit der Einführung der Demokratie widersetzt hat. Stellt das Dritte Reich den mit dem totalen Krieg vorangetriebenen Versuch dar, ein Regime der white supremacy auf planetarischer Ebene und unter deutscher und "arischer" Hegemonie zu errichten, so hat auf der anderen Seite die kommunistische Bewegung einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der Rassendiskriminierung und des Kolonialismus geliefert, dessen Erbe der Nazismus antreten und radikalisieren möchte.

Lassen wir jetzt einmal die Kolonien und das Schicksal der "minderjährigen Rassen" hinter uns, um unseren Blick auf die kapitalistische Metropole, ja ausschließlich auf ihre "zivile" Bevölkerung zu richten. Auch auf dieser Ebene -bemerkt Lenin - bestehen weiterhin bedeutende Klauseln des Anschlusses vom Bürgerrecht und von der Demokratie. In England ist das Wahlrecht "immer noch beschränkt genug [...J um die eigentlich proletarische Unterschicht fernzuhalten" (Lenin, 1955, Bd. 22, S. 287); wir können außerdem hinzufügen, dass einige Privilegierte weiterhin das "Mehrfachstimmrecht" genießen, das erst 1948 völlig aufgehoben wird. Besonders komplex war im klassischen Land der liberalen Tradition der Prozess, der zur Verwirklichung des Prinzips "ein Kopf, eine Stimme" geführt hat, und dieser Prozess ist undenkbar ohne die Herausforderung, die die Revolution in Russland und die kommunistische Bewegung dargestellt hatten.

Selbst dort, wo das männliche Wahlrecht allgemein oder nahezu allgemein geworden ist, wird es von der Einrichtung des Oberhauses neutralisiert, das Vorrecht des Adels und der privilegierten Klassen bleibt. Im italienischen Senat sitzen als vollberechtigte Mitglieder (von Rechts wegen) die Prinzen das Hauses Savoyen: Alle anderen werden auf Lebenszeit und auf Empfehlung des Ministerpräsidenten vom König nominiert. Ähnliche Betrachtungen gelten für die anderen europäischen Oberhäuser, die, mit Ausnahme von Frankreich, nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgehen, sondern durch eine Verknüpfung von Erblichkeit und königlicher Nominierung gekennzeichnet sind.

Betrachtet man den Westen insgesamt, dann betrifft die weitreichendste Ausschlussklausel die Frauen. In England sind Mutter und Tochter Pankhurst, die die Suffragettenbewegung anführen, periodisch dazu gezwungen, die heimatlichen Gefängnisse aufzusuchen. Von Lenin und der bolschewistischen Partei verurteilt, wird der "Ausschluss der Frauen" von den politischen Rechten in Russland schon nach der Februarrevolution abgeschafft, die von Gramsci (wegen der entscheidenden Bedeutung der Räte und der Volksmassen) als "proletarische Revolution" begrüßt wurde; Gramsci hebt erfreut hervor, dass sie "den Autoritarismus zerstört, und durch das allgemeine Wahlrecht ersetzt hat, das auch auf die Frauen ausgedehnt worden ist". Den gleichen Weg schlägt dann die Weimarer Republik ein (die aus der Revolution hervorgegangen ist, die in Deutschland ein Jahr nach dem Russischen Oktober ausgebrochen war), und erst später die Vereinigten Staaten (siehe hierzu Losurdo, 1998, Kap. 2, § 3).

Die Überwindung der drei großen Diskriminierungen wurde durch eine doppelte Bewegung möglich: Mit den zahlreichen und großen Revolutionen von unten, die sich sowohl in den kapitalistischen Metropolen als auch in den Kolonien abspielten und die sich oft an der Oktoberrevolution und an der kommunistischen Bewegung inspirierten, haben sich Revolutionen von oben gekreuzt, die initiiert wurden, um neue Revolutionen von unten zu verhindern.

Zur Demokratie, wie sie heute im Allgemeinen verstanden wird, gehören auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Und gerade der Patriarch des Neoliberalismus, Hayek, klagt darüber, dass ihre Durchsetzung und ihre Präsenz im Westen auf den von ihm für ruinös gehaltenen Einfluss der "russischen marxistischen Revolution" zurückzuführen sind. Natürlich haben die subalternen Klassen nicht das Jahr 1917 abgewartet, um die Anerkennung dieser Rechte zu fordern. Ihre Erlangung durchläuft die gleichen Etappen, die zum Triumph des allgemeinen Wahlrechts führten. Robespierre, der in den diskriminierenden Funktionen des Klassenwahlrechts ein Echo der antiken Sklaverei verurteilt, rühmt gleichzeitig das "Recht auf Leben" als das erste und das unverjährbarste der Rechte des Menschen. Die achtundvierziger Revolution, die den Triumph des allgemeinen (männlichen) Wahlrechts sanktioniert, führt auch zur Forderung des Rechts auf Arbeit: Dies ist der Beginn der zweiten Etappe, deren Protagonist die sozialistische Bewegung ist. In Deutschland, wo sie besonders stark ist, sorgt Bismarck dafür, einer Revolution von unten durch eine Revolution von oben zuvorzukommen, die die ersten vagen Elemente sozialer Sicherheit einführt. Schließlich die dritte Etappe, die, von den Umwälzungen in Russland ausgehend, sich fast bis auf unsere Tage ausdehnt. Im Verlauf des zweiten Weltkriegs erklärt Franklin Delano Roosevelt, dass man, um ein für alle Mal "die Keime des Hitlerismus" zu zerstören, die "Freiheit von Not" realisieren müsse, was einen einschneidenden Eingriff in die bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse mit sich bringe. In den Losungen des amerikanischen Präsidenten scheint sich ein Projekt sozialer Demokratie abzuzeichnen, das - wie Kissinger mit Recht bemerkt - "weit über die vorausgehende politische amerikanische Tradition hinausgeht", ja sogar - wie Hayek nachhakt - darauf hinausläuft, auf die berüchtigte bolschewistische Revolution zu verweisen (siehe hierzu Losurdo, 1998, Kap. 2, § 3).

Und erneut ist es nicht möglich, ohne den Oktober und, ganz allgemein, ohne den revolutionären Zyklus, der vom Jakobinismus zum Kommunismus hinführt, das Aufkommen und die weitere Entwicklung des Sozialstaats im Westen zu verstehen. Auch in diesem Fall haben wir es mit einer Verflechtung von Revolutionen von unten und von oben, von aktiven und passiven Revolutionen zu tun. Man könnte sagen, dies sei die Regel bei den Prozessen historischer Umwandlung: Welchen Sinn hat es aber dann, von "Scheitern" zu sprechen, was die Geschehnisse anbetrifft, die mit der Oktoberrevolution begonnen haben? Zum Verständnis des inadäquaten oder entschieden irreführenden Charakters dieser Kategorie versuche man, sie auf die ehemaligen Kolonialländer und -Völker anzuwenden, die ihre Unabhängigkeit und Würde auf der Woge eines Kampfes erlangt haben, der sich von der kommunistischen Bewegung hat inspirieren und vorantreiben lassen. Bekannterweise hat Mao Tse-tung anlässlich der Gründung der Volksrepublik China proklamiert, dass die chinesische Nation aufgestanden sei und dass niemand mehr sie mit Füßen treten könne. Vielleicht dachte er dabei an die Jahre, in denen man am Eingang zu einem Park der französischen Konzession in Shanghai das Schild lesen konnte: "Eintritt verboten für Chinesen und Hunde". Ist die neue Lage, die sich in dem großen asiatischen Land herausgebildet hat, das Ergebnis eines "Scheiterns"? Ähnliche Betrachtungen könnte man hinsichtlich Vietnams oder Kubas und nicht weniger Länder der Dritten Welt anstellen, die sich zwar nicht auf den Sozialismus berufen, aber dennoch ihre Unabhängigkeit und Würde im Gefolge der Herausforderung erreicht haben, die die Oktoberrevolution, der "Realsozialismus" und die kommunistische Bewegung dem kapitalistischen System der ganzen Welt gegenüber darstellte. Das Mindeste, was man sagen kann, ist, dass der heutige Diskurs vom "Scheitern" grob euro-zentrisch ist. Allerdings handelt es sich um eine recht verbreitete Kategorie: Hannah Arendt spricht von der "Katastrophe" der französischen Revolution. Und dennoch ist die zeitgenössische Welt und die heutige Demokratie nicht denkbar ohne die Aktion und die Wirkungskraft, die zunächst die französische Revolution und später die Oktoberrevolution direkt oder indirekt entfaltet haben: Wie schon gesagt, die kommunistische Bewegung beeinflusst sogar das führende Land des Westens.

2. Vom "Scheitern" zum "Verrat"

Umso erstaunlicher ist der Erfolg, den die Kategorie "Scheitern" auch bei der Linken erzielt. Gerade in diesen Kreisen erlebt die erbauliche Geschichte, die von der herrschenden Ideologie und Historiographie verbreitet wird, manchmal eine kleine Variante. Selbst wenn er sich als Herr Kommunismus ausgab, war der Rohling, der als erster das Fräulein Demokratie angriff, in Wahrheit der Herr Stalinismus, ein vulgärer Betrüger oder bestenfalls ein grober Ignorant, der nichts von der Marxschen Theorie begriffen hatte. Der Diskurs vom "Scheitern" tendiert jetzt dazu, vom Diskurs vom "Verrat" (oder bestenfalls vom Missverständnis) abgelöst zu werden.

Bekanntlich wird das Motiv von der "verratenen Revolution" von Trotzkij besonders geschätzt. Im Übrigen haben die Autoren, die auf die eine oder andere Weise von ihm beeinflusst sind, die Tendenz, die Kategorie "Verrat" gewissermaßen auf alle Revolutionen anzuwenden. Auch im Verlauf der französischen Revolution haben wir das triste Schauspiel der "politischen Funktionäre", der Bürokraten vor uns, die die "direkte Demokratie" ersticken. Wir haben es mit einem "Mechanismus [zu tun), an dessen Ende die direkte Demokratie, die Selbstverwaltung des Volkes, sich durch die Errichtung der revolutionären .Diktatur' graduell in die Wiedereinrichtung eines Apparats zur Unterdrückung des Volkes verwandelt". Sowohl im Fall der französischen als auch in dem der russischen Revolution - bemerkt ein sehr gebildeter und begeisterter Anhänger Trotzkij s - versuche man, die "Machtkonzentration", den autoritären oder "totalitären" Ausgang unter Berufung auf die "Notwendigkeit" zu rechtfertigen. In Wahrheit vernachlässige man aber die unselige Rolle der "Bürokratie" und der "bürokratischen Sklerose". Sie sei in erster Linie verantwortlich für die Degeneration: "Die Demokratie von unten führt zur Entstehung einer Kaste von Parvenüs, die dazu neigen, sich von der Masse zu unterscheiden, und sie trachten danach, die Volksrevolution zu ihrem Vorteil auszunutzen" (Guerin, 1968, Bd. 2, S. 468ff und S. 475ff).

Gehen wir vom Frankreich des 18. Jahrhunderts zum Spanien des 20. Jahrhunderts über, dann sehen wir, dass sich nichts ändert. Wie soll man die Tragödie erklären, die in den dreißiger Jahren mit dem Sieg des Faschismus endet? Für Chomsky steht außer Zweifel: Als Antwort auf den Franco-Aufstand entwickelt sich "eine beispiellose soziale Revolution", deren Protagonisten die Massen sind; dann aber wird die "Konterrevolution" von der stalinistischen kommunistischen Partei angeführt, die die "Werktätigen" ihrer Kontrollmacht beraubt, um sie der "staatlichen Bürokratie" zu übertragen (Chomsky, 2002, S. 141 und S. 145).

Und jetzt wechseln wir von Europa nach Asien über. Wie soll man die Krise der Kulturrevolution in China erklären? In diesem Fall ist die antibürokratische Absicht klar und offensichtlich: Aber die "Propagandatrupps der Arbeiter", die Organisationen, die den Kampf anführen sollten, "verwandelten sich" leider "selbst in einen Sektor der Bürokratie, mal in Harmonie und mal im Widerstreit mit den anderen Bürokraten" (Masi, 1979, S. 103).

Mit ihrem naiven Dogmatismus - die Bürokraten, die den Elan der Massen ersticken und die Revolution verraten, sind immer die anderen -, mit ihrer Monotonie und mit ihrer universalen Anwendbarkeit auf die Krisenphänomene oder auf den Prozess der Konsolidierung und "Bürokratisierung" einer jeden Revolution zeigt die Kategorie "Verrat" ihre ganze Leere. Sie ist jedenfalls nicht überzeugender als die Kategorie ..Scheitern". Unverändert bleibt die schwache Argumentation: Es geht immerhin darum, zu erklären, wie es einem "Gescheiterten" oder einem "Verräter" (oder dem Protagonisten eines kolossalen "Missverständnisses") gelungen ist, einen gewaltigen Beitrag zum Emanzipationsprozess der Kolonialvölker zu leisten und, was den Westen anbetrifft, zur Zerschlagung des Ancien regime und zum Aufbau des Sozialstaats.

3. Der "Verrat" von Stalin bis Chruschtschow

In den Jahren, die unmittelbar auf den Zusammenbruch des Dritten Reichs folgen, ist das Prestige der Sowjetunion so groß, dass es sich auch außerhalb der kommunistischen Bewegung feststellen lässt. Hannah Arendt, weit davon entfernt, das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Land mit dem Dritten Reich zu vergleichen, wie sie es später tun wird, schreibt 1945 der Sowjetunion das Verdienst zu, die "völlig neue und erfolgreiche Lösung von Nationalitätengegensätzen und die neue Form der Organisation verschiedener Völker auf der Grundlage nationaler Gleichheit" erzielt zu haben; dies ist ein Problem, "das für jede politische und nationale Bewegung in unserer Zeit [...| von höchstem Interesse ist" (Arendt, 1989, S. 36). Die Kursivschrift dient zur Hervorhebung der Umkehr der Positionen einige Jahre später, nach Ausbruch des kalten Krieges, als Arendt dann Stalin die gezielte Auflösung der schon bestehenden Organisationen vorwirft, um künstlich jene amorphe Masse zu schaffen, die die Voraussetzung für den Totalitarismus abgebe.

In den Jahren, die auf den Zusammenbruch des Dritten Reichs folgen, ist das Prestige, das die UdSSR genießt, auch das Prestige, das seine Führungsspitze genießt. Was schließlich die Moskauer Prozesse angeht, unterstreicht der Lea-der der Christdemokraten die Glaubhaftigkeit der Anklage, wobei er sich auf "objektive amerikanische Informationen" beruft (De Gasperi, 1956, S. 15f).

Noch im Jahre 1953, gleich nach dem Tode Stalins, zieht einer seiner Feinde, und das heißt: ein überzeugter Anhänger Trotzkijs, folgende bezeichnende historische Bilanz: "Im Verlauf dreier Jahrzehnte hat sich das Gesicht der Sowjetunion vollkommen verändert. Der Kern der historischen Aktion des Stalinismus ist der folgende: er hat ein Russland vorgefunden, das den Boden mit Holzpflügen bearbeitete und er hinterlässt es als Besitzer des Atommeilers. Er hat Russland zur zweiten Industriemacht der Welt emporgebracht, und es hat sich nicht nur um einen bloß materiellen und organisatorischen Fortschritt gehandelt. Ein derartiges Resultat hätte man nicht ohne eine ausgedehnte Kulturrevolution erreichen können, in deren Verlauf man ein ganzes Land in die Schule geschickt hat, um ihm eine extensive Bildung zu vermitteln".

Zwar konditioniert und teilweise entstellt vom asiatischen und despotischen Erbe des zaristischen Russland, hatte im Stalinismus "das sozialistische Ideal seine natürliche, geschlossene Integrität" (Deutscher, 1972, S. 167f). Drei Jahre später ändert sich im Gefolge des 20. Parteitags der KPdSU das Bild vollkommen. Deutscher schreibt Chruschtschow das Verdienst zu, endlich "das e-norme, finstere, kapriziöse, degenerierte menschliche Monstrum" gebrandmarkt zu haben, vor dem sich die Kommunisten mehr als ein Jahrhundert lang auf die Knie geworfen hatten (Deutscher, 1972, S. 20). Zweifellos waren es zwei Wenden, die das heutige Stalinbild bestimmt haben: Der Ausbruch des kalten Krieges 1947 und der 20. Parteitag der KPdSU. Nach 1956 nimmt die Kampagne gegen Stalin nicht nur in Bausch und Bogen die Grundmotive der vom Westen gegen die UdSSR insgesamt entfesselten Kampagne wieder auf, sondern setzt manchmal gern noch einen drauf: Deutscher zum Beispiel kritisiert 1965 entschieden "die stalinfreundliche Welle in den alliierten Ländern und vor allem in den Vereinigten Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit" (Deutscher, 1972, S. 221)!

Begreiflich ist daher, dass in kommunistischen Kreisen, die darum bemüht sind, auf die antikommunistische Kampage zu reagieren, die Tendenz auftaucht, zu denken oder zu seufzen: In principio erat Chruschtschow] Er ist im Endeffekt der Wegbereiter der antikommunistischen Kampagne und wird deshalb als der Ausgangspunkt der ruinösen Entwicklung angesehen und abgestempelt, der auf den Zusammenbruch der Sowjetunion hinauslief: In dieser Hinsicht ist er derjenige, der sich zwar in der kommunistischen Partei und Tradition formiert, dann aber deren enormes politisches und ideelles Vermögen vergeudet hat. Abschließend gesagt: Der Staatsanwalt im Prozess gegen Stalin für "Verrat des Sozialismus" ist jetzt gezwungen, selber auf der Anklagebank zu sitzen!

4. Größte Ausdehnung und beginnende Krise des "sozialistischen Lagers"

Wenn also die gegen Stalin gerichtete Version des Diskurses vom "Verrat" den gigantischen Emanzipationsprozess nicht erklären kann, der sich auf Weltebene in den Jahren enwickelt hat, in denen der "Verräter" die Macht ausübte, dann gelingt es der gegen Chruschtschow gerichteten Version des Dirskurses vom "Verrat" nicht, den dramatischen Konflikten Rechnung zu tragen, die sich lange vor dem 20. Parteitag der KPdSU abspielen. Wenige Monate nach dem Tode Stalins wird Berija von einer Mehrheit isoliert und liquidiert, die neben Chruschtschow auch die engsten Mitarbeiter Stalins einschließt. Gegen wen ist in diesem Fall die Anklage des Verrats zu richten? Zu denken geben jedenfalls die Modalitäten, mit denen Berija liquidiert wird: Es handelt sich um eine Abrechnung im Mafia-Stil, einen Gewaltakt, der weder auf die staatliche Rechtsordnung noch auf das Parteistatut Bezug nimmt.

Und schon vor 1956 oder 1953 erodiert ein weiteres schweres Problem von innen her das ganze "sozialistische Lager". Es hat zwar eine eindrucksvolle Ausdehnung erlebt, weist aber schon beträchtliche Risse auf, wie es in erster Linie der Bruch der Sowjetunion mit dem Jugoslawien Titos zeigt. Es handelt sich nur um die erste, unerwartete nationale Krise des "sozialistischen Lagers". Weitere werden folgen: die Invasion Ungarns und der Tschechoslowakei, die Zusammenstöße am Ussuri, der Krieg zwischen Vietnam und Kambodscha und der zwischen Vietnam und China. Natürlich kann man auch in diesem Fall die Jagd auf den "Verräter" eröffnen. Aber im Übergang von einer Krise zur anderen wird diese Jagd immer mühevoller und konfuser: Wer ist der "Verräter" beim Zusammenstoß zwischen Kambodscha und Vietnam und zwischen Vietnam und China? Und welchen Sinn kann es haben, die Geschichte des "sozialistischen Lagers" in eine ununterbrochene Reihe von Momenten des "Verrats" verwandeln zu wollen, für die auch die Protagonisten großer Emanzipationskämpfe verantwortlich gemacht werden?

Ein anderer Ansatz erweist sich als produktiver. Gerade die außerordentliche Ausdehnung des "sozialistischen Lagers" bringt ein absolut neues Problem mit sich: Wie müssen sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen, kleinen und großen Ländern entwickeln, die zu diesem Lager gehören? Und wie kann man die Einheit im Kampf gegen den Imperialismus mit der Wahrung der staatlichen Souveränität der einzelnen Länder vereinbaren? Noch akuter wird das Problem nach dem Sieg der Revolution in China und dem Eintritt eines Landes ins "sozialistische Lager", das ein Kontinent ist, und das sich schon wegen seiner Dimensionen und seiner Geschichte berufen fühlt, eine erstrangige Rolle auf der internationalen Ebene zu spielen. Die Gespräche zwischen Stalin und Mao Tsetung kurz danach in Moskau sind so gespannt, dass sie fast zum Bruch führen. Mit Blick auf den Konflikt, der dann den Kalten Krieg kennzeichnen wird, war es Stalin gelungen, die politische und militärische Präsenz der Sowjetunion auch in Asien und sogar in China auszudehnen: Von seinen Konferenzpartnern in Jalta hatte er die Anerkennung der Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei bestätigt erhalten, die das zaristische Russland und später die "weißen" Generäle China entrissen hatten, und die die Sowjetunion noch 1924 als "integralen Bestandteil" Chinas anerkannt hatte (vgl. Paine, 1996, S. 325). In Jalta hatte Stalin außerdem die "Internationalisierung des Handelshafens von Dairen erreicht, mit der Wahrung der vorherrschenden Interessen der Sowjetunion in diesem Hafen, und die Wiedereinführung der Pacht von Port Arthur als Stützpunkt und Kriegshafen der UdSSR", darüber hinaus "die gemeinsame Ausnutzung der ostchinesischen Eisenbahn und der Eisenbahn der Süd-Mandschurei" (siehe den Text der Abmachungen von Jalta, in: Clemens, 1975, S. 3750- Von den Vereinigten Staaten und von Großbritannien unter Druck gesetzt, stimmt schließlich auch Tschiang Kai-schek diesen bedeutenden Zugeständnissen an Stalin zu, und unterschreibt mit der Sowjetunion einen Vertrag, der nicht zu Unrecht als "Chinas letzter .ungleicher Vertrag'" bezeichnet worden ist (Kindermann, 2001, S. 303). Mao Tsetung wird es dann sein, der ihn wieder in Frage stellt.

Die chinesische Delegation wirft das Problem der Äußeren Mongolei in Moskau nur mit größter Vorsicht auf. Diesbezüglich macht Mao sogleich einen Rückzieher, aber was die schnellstmögliche Wiedererlangung der chinesischen Eisenbahnen und Häfen anbelangt, zeigt er sich unbeugsam. In diesem Fall ist es Stalin, der zum Nachgeben gezwungen ist, aber er gibt erst nach, als er Nachricht von den Verhandlungen über den Botschafteraustausch zwischen Peking und London erhält: es zeichnete sich auf diese Weise die Gefahr eines chinesischen Titoismus ab (Shen Zhihua, 2002).

Die Beziehungen zwischen den beiden großen sozialistischen Ländern erwiesen sich von Anfang an als schwierig. Beide appellieren an den Kampf gegen den Imperialismus. Nur dass dieser Kampf für die Sowjetunion in erster Linie bedeutet, der von Washington vorangetriebenen Politik des Roll back entgegenzutreten und von daher die Resultate der Konferenz von Jalta zu konsolidieren (die von Stalin bei seinen Gesprächen mit Mao ausdrücklich verteidigt wurde). Sich dem Imperialismus zu widersetzen bedeutet dagegen für die Volksrepublik China, ihre territoriale Integrität wiederzugewinnen, ihre volle Souveränität auch über die östliche Mandschurei wieder zu behaupten, unter Abschaffung der Zugeständnisse und der Privilegien, die Stalin zunächst seinen Partnern in Jalta und dann Tschiang Kai-scheck abgerungen hatte. Stark geschwächt aus dem Krieg hervorgegangen (auch wegen der nerventötenden Langsamkeit, mit der sich die Vereinigten Staaten und Großbritannien zur Eröffnung der zweiten Front in Europa entschlossen hatten) und der Drohung einer neuen Aggression ausgesetzt, hat es die UdSSR zum einen absolut nötig, Atem zu holen, zum anderen ein möglichst breites und kompaktes Bündnis um sich zu vereinen. Anders die Lage der Volksrepublik China: Die Machtübernahme durch die Kommunisten hat nicht die vollständige nationale Wiedervereinigung mit sich gebracht. Die Rückgewinnung Taiwans steht auf dem Programm, angefangen mit den beiden kleinen Inseln Quemoy und Matsu. Letztere - unterstreicht Churchill bei seinem vergeblichen Versuch, die amerikanische Administration beweglicher werden zu lassen - liegen "vor der Küste", "gehören rechtmäßig zu China", das "ein eindeutiges nationales und militärischer Ziel verfolgt, das heißt, einen Brückenkopf loszuwerden, der sich ausgezeichnet für die Invasion Kontinentalchinas eignet" (Boyle, 1990, S. 193 [Brief an Eisenhower vom 15. Februar 1955]). Verständlich daher die Entschiedenheit, mit der Mao Tsetung dieses Ziel verfolgt, ohne sich allzusehr von den atomaren Bedrohungen seitens der Vereinigten Staaten einschüchtern zu lassen. Ein Anzeichen für nationalistische und provinzielle Begrenztheit ist diese Haltung für die sowjetische Führungsspitze, die ihrerseits verdächtigt wird, aus egoistischem und opportunistischem Kalkül, taub zu sein für die Emanzipations- und Befreiungsbedürfnisse der Kolonial- oder Exkolonialvölker. Tendiert China, im Gefolge der wiederholten atomaren Bedrohungen seitens der Vereinigten Staaten dahin, die Anstrengungen zu verdoppeln, um in den exklusiven Club der Atommächte einzutreten, so fürchtet die Sowjetunion, dass eine derartige Politik die atomare Aufrüstung von Ländern wie Deutschland begünstigen und die "friedliche Koexistenz" in Gefahr bringen könnte, die sie so dringend nötig hat.

Die Divergenzen, die in erster Linie auf die objektive Lage verweisen, werden zum Anlass eines immer schärfer werdenden ideologischen (und diplomatischen) Zusammenstoßes. Die gegen die chinesische Führung gerichtete Kritik der provinziellen Kurzsichtigkeit und der Politik des Abenteuers erlebt eine rapide Eskalation: auf dem Gipfel der Polemik wird die chinesische Führung beschuldigt, der sowjetisch-amerikanischen Atomkatastrophe Vorschub zu leisten, um schließlich die Welt dank ihres höheren demographischen Potentials zu beherrschen (vgl. Borissow-Koloskow, 1973, S. 188 und S. 199). Auf der Gegenseite haben wir es mit einer ähnlichen Eskalation zu tun: Weit davon entfernt, im Kampf gegen den Imperialismus nur einfache "Opportunisten" zu sein, verwandeln sich die sowjetischen Führungskader selber in Imperialisten und sogar in die heimtückischsten und gefährlichsten Imperialisten, die das Erbe des unersättlichen zaristischen Expansionismus angetreten haben und die jetzt, als neue Zaren, direkt die Volksrepublik China bedrohen, das Zentrum der Kampfbewegung der Kolonial- und Exkolonialvölker. Moskau und Peking klagen sich gegenseitig des "Verrats" und der darauf folgenden Verbannung an. Aber beide Parteien, weit davon entfernt Verräter zu sein, erweisen sich höchstens als zu "orthodox" in ihrem Marxismus: sie leiten mechanisch aus dem Sozialismus das Verschwinden der nationalen Konflikte ab; und weil diese, trotz allem, weiterhin existieren, werden sie der Degeneration oder dem Verrat des jeweils anderen angelastet.

5. Zwischen Utopie und Ausnahmezustand

Ein keineswegs begeisterndes Bild. Man vesteht daher, dass es auch in der Linken nicht an denen fehlt, die die mit der Oktoberrevolution begonnene Geschichte liquidieren möchten, wobei sie ihr natürlich nicht den westlichen Kapitalismus und Liberalismus entgegensetzen, sondern die Utopie. Dieses Vorgehen riskiert jedoch als Heilmittel das zu empfehlen, was oft zur Verschlimmerung des Übels beigetragen hat. Nehmen wir uns die Dialektik vor, die sich nach der bolschewistischen Revolution entwickelt hat. Der Erste Weltkrieg wütet noch: Das Gemetzel und die Abschaffung der elementarsten Freiheiten im Namen des Ausnahmezustands auch in den Staaten mit den konsolidiertesten liberalen Traditionen, alles das lässt jedes politische Programm inadäquat erscheinen, das diesseits der Forderung einer Sozialordnung ohne Militär- und Staatsapparat, ja sogar ohne jede Form des Zwangs, stehenbleibt. Der Marxismus verflacht sich auf diese Weise zum Anarchismus und stellt sich gewissermaßen als Religion vor. Der junge Bloch erwartet sich von den Sowjets den "Umbruch der Macht zur Liebe" (Losurdo, 2000, Kap. 2, § 10). Nicht viel anders argumentieren in Sowjetrussland Exponenten der revolutionären sozialistischen Partei, denn sie proklamieren: "Recht ist Opium für das Volk" (in: Bloch, 1961, S. 253) und: "die Idee der Verfassung ist eine bürgerliche Idee" (in: Carr, 1964, S. 128). Auf dieser Grundlage ist es leicht, jedwede terroristische Maßnahme zu rechtfertigen, um dem Notstand entgegenzutreten. Problematisch oder unmöglich scheint vor allem der Übergang zu einer verfassungsmäßigen Normalität zu werden, die von vorneherein als "bürgerlich" abgestempelt wird. So radikalisiert der Ausnahmezustand die Utopie so sehr, dass sie abstrakt wird, und diese abstrakte Utopie erstarrt weiterhin und lässt den Ausnahmezustand unüberwindlich werden.

Der patriotische Fanatismus und die nationalen Hassgefühle, zum Teil "spontan", zum Teil geschickt geschürt, haben zum Gemetzel des imperialistischen Krieges geführt. Es wird ein dringendes Erfordernis, ein ganz neues Kapitel der Geschichte anzufangen. Hier taucht in bestimmten Sektoren der kommunistischen Bewegung ein unrealistischer Internationalismus auf, der dahin tendiert, die verschiedenen nationalen Identitäten als bloßes Vorurteil abzutun. Dieser "Universalismus" ist nicht in der Lage, die Besonderheiten, die Unterschiede zu respektieren. Er verschärft nur noch die Konflikte und die nationale Frage; zunächst innerhalb der Sowjetunion und später in den Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialistischen Staaten. Und erneut haben wir es mit der unglückseligen Spirale zu tun: Ausnahmezustand - abstrakte Utopie - noch schärferer Ausnahmezustand.

Die Wahrnehmung der Bedeutung, die die kapitalistischen Interessen bei der Entfesselung des Gemetzels hatten, lässt in den Augen der sensibleren Gemüter nicht nur den Kapitalismus, sondern auch das Geld überhaupt als hassenswert erscheinen. Der junge Bloch ruft die Sowjets dazu auf, nicht nur jeder "Privatwirtschaft", sondern auch der "Geldwirtschaft" und damit der "alles Böseste im Menschen preiskrönenden Kaufmannsmoral" ein Ende zu setzen (in: Losurdo, 2000, Kap. 2, § 10). In Russland bringen die Katastrophe des ersten Weltkriegs und der darauffolgende Bürgerkrieg auch den Zusammenbruch der Geldwirtschaft mit sich, die in bestimmten Gebieten durch den Warenaustausch ersetzt wird. Diese Ausnahmesituation wird als "Kommunismus" interpretiert, wenn auch nur als "Kriegskommunismus". Als Vormarsch zum Kommunismus wird sogar eine drastische Notstandsmaßnahme ausgegeben, wie die Zwangsbeschlagnahmung der von den Bauern gehorteten Lebensmittelüberschüsse seitens der Sowjetmacht. Die messianische Erwartung des Absterbens des Staates, der nationalen Identitäten und des Geldes, und das heißt die emphatische und abstrakt gewordene Utopie, läuft in allen drei hier untersuchten Fällen darauf hinaus, Phänomene (Fehlen eines präzisen Verfassungsrahmens, nationale Unterdrückung, ungenügende Entwicklung des nationalen Marktes) als Vorwegnähme des zukünftigen Post-Kapitalismus zu verklären, die dagegen Ausdruck des Weiterbestehens des alten Regimes sind.

6. Revolution und Lernprozess

Das Auftauchen einer emphatischen und abstrakten Utopie ist jedoch nicht das Produkt der Phantasie einzelner Autoren oder einzelner Persönlichkeiten, sondern das Ergebnis eines objektiven historischen Prozesses. Hier kann uns ein Hinweis von Engels zu Hilfe kommen, der bei seiner Bilanz der englischen und französischen Revolution anmerkt: "Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, dass die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde [...] Es scheint dies in der Tat eins der Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu sein" (Marx-Engels, 1955, Bd. 22, S. 301). Es gibt keinen Grund, die von Marx und Engels erarbeitete materialistische Methodologie nicht auch auf die Revolution anzuwenden, die von ihnen inspiriert wurde. Im Endeffekt tendiert jede Revolution dahin, sich als die letzte vorzustellen, ja sogar als die Lösung aller Widersprüche und damit als Ende der Geschichte. Einerseits stimuliert die abstrakte und emphatische Utopie die Begeisterung der Massen, die notwendig ist, um den hartnäckigen Widerstand des Ancien regime zu brechen, andererseits erschwert sie den Aufbau der neuen Gesellschaft. Nur durch einen mühsamen und oft widersprüchlichen Lernprozess gelingt es einer großen Revolution, mit Präzision ihre Ziele und die politischen Formen zu definieren, die sie verwirklichen sollen. Wie Gramsci klar gemacht hat, genügt die Eroberung der Macht allein noch nicht, um eine Revolution als wahrhaft vollendet betrachten zu können; notwendig ist darüber hinaus die Entdeckung oder der Aufbau der institutioneilen und juristischen Mechanismen der regulären und geordneten Machtausübung. Aus diesem Grund erstreckt sich die bürgerliche Revolution in Frankreich über einen Zeitraum von 1789 bis 1871. In all diesen Jahrzehnten erprobt die neue herrschende Klasse über Versuche und Irrtümer, Widersprüche und Kämpfe die verschiedensten politischen Regime: konsitutionelle Monarchie und Republik, jakobinische Diktatur und Militärdiktatur, Kaiserreich und bonapartistisches Regime, repräsentatives Einkammer- und Zweikammersystem, mehr oder weniger ausgedehnte Formen des Klassenwahlrechts (manchmal mit der Versuchung, ein Mehrstufenwahlrecht oder die Mehrfachstimme für die "Intelligentesten" oder die Reichsten einzuführen) und direktes allgemeines (männliches) Wahlrecht. Was die sozialen Verhältnisse im eigentlichen Sinn betrifft, folgt auf die anfängliche Phase des Verbots der Arbeiter-"Koalitionen" eine reifere Phase, in der die Gewerkschaften legal anerkannt werden. Ähnliche Betrachtungen könnten hinsichtlich der Organisation des Heeres, der ideologischen Apparate und der anderen Sektoren des öffentlichen und sozialen Lebens angestellt werden. Aber erst mit der Liquidierung der Pariser Kommune und der Errichtung der Dritten Republik, mit der Einführung eines repräsentativen Systems, das auf der Konkurrenz mehrerer Parteien, aber gleichzeitig auf der soliden Kontrolle durch eine einzige Klasse beruhte, fand die französische Bourgeoisie die politischen und sozialen Formen für ihre Machtausübung unter normalen Bedingungen. Das Militär zog sich ein wenig zurück, um zum direkten Eingreifen nur in akuten Krisensituationen bereit zu stehen. Diese politischen und sozialen Formen werden allerdings nicht am Reißbrett erfunden und konstruiert, sondern im Verlauf harter Kämpfe, sowohl gegen das Ancien regime als auch gegen die Volksmassen und sogar verbunden mit internationalen Konflikten.

Die Klasse (oder der soziale Block), die sich vornimmt, die Bourgeoisie abzulösen, hat eine noch schwierigere Aufgabe vor sich. Sie muss nicht nur ein neues politisches Regime "erfinden", sondern auch neue soziale Verhältnisse, die nicht präexistieren, wie es für die bürgerlichen sozialen Verhältnisse schon innerhalb der alten Gesellschaft gilt, sie können vielmehr erst nach der Machteroberung aufgebaut werden. Die ist der von Lenin hervorgehobene fundamentale Unterschied zwischen der "sozialistischen Revolution" und der "bürgerlichen Revolution" (Lenin, 1955, Bd. XXVII, S. 75). Weitaus komplexer ist der Lernprozess, den eine Bewegung vollziehen muss, die den Kapitalismus überwinden will. Dass diese Aufgabe, noch erschwert durch die Politik der Eindämmung, Einkreisung und Aggression seitens des Imperialismus, nicht gelöst wurde, hat zur Niederlage des Sozialismus geführt.

7. Lernprozess und Ent-Messianisierung des kommunistischen Projekts

Die sozialistische und kommunistische Bewegung ist weit davon entfernt, diesen Prozess zu Ende geführt zu haben. Sollen wir die postkapitalistische Zukunft als das totale Verschwinden nicht nur der Klassengegensätze, sondern auch des Staates und der politischen Macht und der Rechtsnorm insgesamt, und außerdem der Religionen, der Nationen, der Arbeitsteilung, des Marktes, einer jeden Quelle des Konflikts verstehen? Sollen wir weiterhin mit Bebel glauben, dass es in der kommunistischen Gesellschaft keinen Platz mehr für "Parlamente", "Steuer- und Zollverwaltung", für "Gerichte", "Rechts- und Staatsanwälte", für "Gefängnisse", für die Rechtsnorm, die Verbrechen und sogar für die Gefühle des "Hasses" und der "Rache" gibt, so dass "Zehntausende von Gesetzen Erlassen und Verordnungen f...] Makulatur" werden? (Bebel, 1964, S. 482f) Sollen wir weiterhin mit Trotzkij glauben, dass im Kommunismus mit dem Staat auch das "Geld" und jede Form des Markts verschwinden werden? (Trotzkij, 1968, S. 61) Nach gewissen Erklärungen Trotzkijs zu urteilen, ereignen sich mirakulöse Umwandlungen schon im Sozialismus: "Die wahre sozialistische Familie, durch die Gesellschaft von den drückenden und demütigenden alltäglichen Bürden befreit, wird keine Regelung mehr nötig haben, und schon der bloße Gedanke an Gesetze über die Scheidung und die Abtreibung wird ihr nicht besser erscheinen als die Erinnerung an die Bordelle und die Menschenopfer" (Trotzkij, 1968, S. 1440).

Wir sprachen schon von den ruinösen Auswirkungen der Dialektik: Ausnahmezustand - abstrakte Utopie - weitere Verschärfung des Ausnahmezustands. Man sollte sich dagegen die Lehre Gramscis vor Augen halten, der sich vielleicht mehr als alle anderen darum bemüht hat, das kommunistische Projekt von der messianischen Aura zu befreien. Gramsci stellte den Mythos vom Absterben des Staates und seines Aufgehens in der Zivilgesellschaft in Frage und wies darauf hin, dass auch die Zivilgesellschaft eine Form von Staat ist; außerdem hat er hervorgehoben, dass der Internationalismus nichts mit der Verkennung der nationalen Besonderheiten und Identitäten zu tun hat, die über den Zusammenbruch des Kapitalismus hinaus weiterbestehen werden. Hinsichtlich des Marktes meint Gramsci, dass es besser wäre, von einem "bestimmten Markt" statt von Markt in abstraktem Sinne zu sprechen.

Einmal abgesehen von der Lehre des einen oder anderen bedeutenden Autors geht es vor allem darum, den Lernprozess der kommunistischen Bewegung schlechthin zu analysieren. Während des ersten Weltkriegs behauptet und radikalisiert Lenin die These vom Absterben des Staates; aber in seinen letzten Lebensjahren fordert er dazu auf, einen "wirklich neuen" Staatsapparat aufzubauen, der "wirklich den Namen eines sozialistischen, sowjetischen usw. verdient", bereit auch, von den "besten westeuropäischen Vorbildern" zu lernen (Lenin, 1955, Bd. 33, S. 474f; vgl. auch Losurdo, 2000, Kap. 3, § 3). In den Jahren Chruschtschows hat ein Jurist den Mut, die These vom Absterben des Staates neu zu interpretieren, indem er unterscheidet zwischen "Unterdrückungsfunktion", die dazu bestimmt ist, sich zu verringern und zu verschwinden und "wirtschaftlichen und kulturellen" Funktionen, die sich dagegen entwickeln werden. Bloch kritisiert diese Neuinterpretation. Auch er hat die messianische Erwartung der Umbruchs der "Macht" in "Liebe" aufgegeben. Zwar erörtert er weiterhin die These vom Absterben des Staates, aber er liest sie jetzt als ein "Grenzideal" oder einen "Grenzbegriff' (Bloch, 1961, S. 256ff), das heißt als ein Ideal, das die Aktion orientiert, ohne sich in einer vollendeten Wirklichkeit zu realisieren.

Nicht weniger mühsam erweist sich der Lernprozess auf anderen Gebieten. Gleich nach der Oktoberrevolution fordert Rosa Luxemburg das neue Regime auf, "die separatistischen Bestrebungen mit eiserner Hand [...] im Keime zu ersticken", die von "geschichtslosen Völkern", von "vermoderten Leichen [...] die aus jahrhundertjährigen Gräbern steigen", angezettelt würden (in: Losurdo, 2000, Kap. 5, § 2). Der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus und das neue soziale Regime lassen die nationalen Forderungen und Widersprüche mehr denn je als obsolet, irreführend und unerträglich erscheinen. Zusammen mit den nationalen und staatlichen Identitäten scheint der Vormarsch der Revolution auch die traditionellen Probleme der Beziehungen zwischen den Staaten auf den Müllhaufen der Geschichte werfen zu wollen. Als Trotzkij das Amt des Volkskommissars des Äußeren übernimmt, sagt er: "Ich werde ein paar Aufrufe an die Völker der Welt erlassen und dann Feierabend machen" (in: Carr, 1964, S. 814). Selbst wenn Lenin normalerweise keine so emphatischen Töne anschlägt, erklärt er in seiner Rede zum Abschluss des I. Kongresses der Kommunistischen Internationale, als der Kapitalismus seinem Absturz nahe zu sein schien, ohne zu zögern: "Der Sieg der proletarischen Revolution in der ganzen Welt ist sicher. Die Gründung der internationalen Räterepublik wird kommen" (Lenin, 1955, Bd. 28, S. 490). Etwa zehn Jahre später ist Stalin dagegen gezwungen, anzumerken, "wie kolossal groß die Stabilität der Nationen ist" (Stalin, 1971, Bd. 11, S. 308). Im Übrigen - darauf weist Stalin noch später hin - ist die Sprache, wesentliches Element der nationalen Identität, nicht bloß eine Überstruktur, wie ihre hartnäckige Beibehaltung beim Übergang von einem sozialen Regime zu einem anderen beweist; der Sozialismus bedeutet nicht das Verschwinden der verschiedenen Sprachen und der verschiedenen nationalen Identitäten. Und dennoch: Nachdem er so lange und so scharf die trotzkistische Theorie oder Versuchung des Exports der Revolution verurteilt hatte, scheint Stalin sich diese gegen Ende des zweiten Weltkriegs gewissermaßen zueigen zu machen. Folgendermaßen drückt er sich in einem Gespräch mit Milovan Djilas aus: "Dieser Krieg ist anders als alle vorhergehenden; wer ein Territorium besetzt, zwingt ihm auch sein soziales System auf. Jeder zwingt sein soziales System auf, so weit sein Heer vordringt; es könnte auch nicht anders sein" (Gilas [Djilas], 1978, S. 121). Die hier verdrängte nationale Frage wird energisch nur wenige Jahre später wieder auftauchen: Gerade in Osteuropa beginnt die Krise, die dann zur Auflösung des "sozialistischen Lagers" führen wird.

Betrachten wir die Widersprüche, die beim Aufbau der neuen sozialen Ordnung auftreten, die den Kapitalismus ersetzen soll. Wir sprachen schon davon, dass der junge Bloch die Abschaffung der "Geldwirtschaft" schlechthin anstrebte. Dies ist nicht nur die Haltung eines vom "Geist der Utopie" inspirierten Philosophen. In den vierziger Jahren beschreibt ein Bolschewik wirkungsvoll das geistige Klima in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution: "Wir jungen Kommunisten sind alle in der Überzeugung herangewachsen, dass das Geld ein für alle Mal abgeschafft würde [...J Wenn das Geld wieder erschien, würden dann nicht auch die Reichen wieder auftauchen? Befanden wir uns nicht auf einer glitschigen Bahn, die uns zum Kapitalismus zurückführte?" (in: Figes, 2000, S. 926).

Aber sehen wir jetzt ab von diesen mehr oder weniger messianischen Erwartungen. Einmal an die Macht gelangt, müssen die Kommunisten schwierige, manchmal dramatische Entscheidungen treffen: Sollen sie sich in erster Linie darum bemühen, ihre soziale Konsens-Basis zu erweitern oder zu konsolidieren, oder sollen sie sofort mit ihrem Programm der integralen Kollektivierung der Produktionsmittel beginnen? Letztere These vertritt Rosa Luxemburg, die die Bolschewiki scharf wegen ihrer "kleinbürgerlichen" Agrarreform kritisiert, die den Bauern Grund und Boden überlässt (in: Losurdo, 2000, Kap. 5, § 2). Russland ist völlig verarmt aus dem Krieg hervorgegangen: War es das Hauptziel der Sowjetmacht, mehr oder weniger egalitär die geringen verfügbaren Ressourcen aufzuteilen oder sollte die Anstrengung dahin gehen, diese zu vermehren? Wenn man die Hauptaufgabe in der Entwicklung der Produktivkräfte sieht, dann ergibt sich ein weiteres Dilemma: Soll man materielle Anreize schaffen, oder soll man an das revolutionäre Bewusstsein oder an die Hingabe an die Sache des Sozialismus seitens des "neuen Menschen" appellieren? Viele Jahre lang nährte Mao Tsetung die Illusion, rasch den Abstand zu den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern mit dem Appell an die revolutionäre Massenbegeisterung aufholen zu können. Doch die Mittelmäßigkeit der erzielten Resultate und die gleichzeitige Konsolidierung des Kapitalismus haben die chinesischen Kommunisten dahin geführt, den vorher als "revisionistisch" abgestempelten Weg mit einer ganz neuen Radikalität einzuschlagen. Und so entstand die "sozialistische Marktwirtschaft".

Erneut erweist sich der Lernprozess als komplex und mühsam, und zwar nicht nur für diejenigen, die Regierungsfunktionen ausüben. Als Gramsci die Oktoberrevolution begrüßte, unterstrich er, dass sie anfangs nur den "Kollektivismus der Armut, des Leidens" hervorbringen würde. Zu diesem Zeitpunkt schien in seinen Augen die egalitäre Verteilung der verfügbaren Ressourcen die Hauptaufgabe der Sowjetmacht zu sein. Später verteidigt der italienische Kommunistenführer die NÖP und weist darauf hin, dass man nur von einer simplifizierenden und oberflächlichen Auffassung vom Aufbau einer postkapitalistischen Gesellschaft her den "pelzbehangenen NÖP-Mann" skandalisieren könne, der einen entschieden höheren Lebensstandard als die Arbeiter habe, die doch die politisch herrschende Klasse bilden. Im Gegensatz zu früher scheint jetzt als Hauptaufgabe der neuen Sowjetmacht die Entwicklung der Produktivkräfte ausgemacht worden zu sein (Losurdo, 2000, Kap. 5, § 3).

8. Ent-Dämonisierung Stalins (und Chruschtschows) und Ent-Kanonisierung von Marx und Engels und der "Klassiker"

Die Geschichte des Sozialismus ist auch die Geschichte dieser Dilemmata, dieser Debatten und dieser Kämpfe. Die Konflikte haben nicht nur die Geschichte der einzelnen kommunistischen Parteien (an der Regierung oder in der Opposition) und die gesamte internationale kommunistische Bewegung tief gezeichnet, sondern auch die Entwicklung der großen Intellektuellen kommunistischer Orientierung. Die übliche Liquidierung der realen Geschichte des Sozialismus im Namen der Utopie oder des "authentischen" Denkens von Marx und Engels, impliziert auch die Aufwertung der großen Intellektuellen oder der Politiker, die der Macht fern standen oder sich nur marginal daran beteiligten, im Gegensatz zu denen, die wirklich Regierungsverantwortlichkeiten übernommen haben. Aber dieses Schwarz-Weiß-Bild ist aus einer Reihe von Gründen keineswegs überzeugend: Es stellt erstens einen Vergleich zwischen heterogenen Größen auf, und zwar zwischen Absichten und realen Handlungen (diese Haltung wirft Hegel der "schönen Seele" vor); es hat zweitens keine Glaubhaftigkeit auf historischer Ebene: Die großen Intellektuellen oder die Politiker die der Macht fern geblieben sind, sind nicht immun gegen die naiven Illusionen, gegen die Fehler und sogar gegen die Brutalitäten, die wir bei denen feststellen können, die die wirkliche Macht in Händen haben; wenn man drittens die Vorzüglichkeit der guten Vorsätze der Mittelmäßigkeit oder noch Schlimmerem der wirklichen Handlungen entgegensetzt, dann bereitet dieser Ansatz erneut der Pseudoerklärung des "Verrats" den Weg. Engels hatte sich seinerzeit lustig gemacht über ,jenen Aberglauben, der Revolutionen auf die Bösartigkeit einer Handvoll Agitatoren zurückführt" (Marx-Engels, 1955, Bd. 8, S. 5). Leider wütet bis heute in der kommunistischen Bewegung der "Aberglaube", aufgrund dessen die Krisenmomente oder die Niederlage einer Revolution der "Bösartigkeit" einer Handvoll Verrätern zuzuschreiben sei. Es ist an der Zeit, endgültig mit dieser unglückseligen Tradition Schluss zu machen.

Wie auch immer sie dekliniert wird, die Kategorie "Verrat" setzt die Kanonisation von Marx und Engels (und der wie auch immer definierten "Klassiker") voraus, und außerdem die Exkommunikation derer. die beschuldigt werden, den Kanon verraten zu haben. Die hier vorgeschlagene Anwendung der Kategorie "Lernprozess" impliziert dagegen zum einen die Ent-Dämonisierung Stalins (aber auch Chruschtschows und Trotzkijs), zum anderen die Ent-Kanonisierung von Marx und Engels (und der "Klassiker"). Und diese Entkanonisierung impliziert ihrerseits, dass der Lernprozess noch bei weitem nicht abgeschlossen ist.

9. Kapitalismus und Sozialismus: Experimente am Reißbrett oder gegenseitiger Kampf und wechselseitige Bedingung

Ist es lächerlich, das 20. Jahrhundert auf die erbauliche Fabel reduzieren zu wollen, von der ich eingangs gesprochen habe, so ist es nicht weniger lächerlich, die Geschichte dieses Jahrhunderts wie den Vergleich zwischen zwei Experimenten am Reißbrett darzustellen, von denen das eine gescheitert und das andere geglückt ist. Denn ebenso wie die Geschichte des Westens und der Dritten Welt (mit der Überwindung der drei großen Diskriminierungen und dem Aufkommen des Sozialstaats) nicht ohne die Herausforderung durch den "Realsozialismus" verstanden werden kann, kann auch die Gechichte des "Realsozialismus" nicht ohne die Politik der Intervention, der Einkreisung und des technologischen und ökonomischen Embargos seitens des Westens verstanden werden.

Was den ersten Punkt angeht, wissen wir, dass über jeden Verdacht erhabene Autoren den Abbau des rassistischen Regimes im Süden der Vereinigten Staaten und den Aufbau des Sozialstaats im Westen in Zusammenhang mit dem Einfluss bringen, die die "russische marxistische Revolution" und das "sozialistische Lager" auf die eine oder andere Weise ausgeübt hätten. Hier sollte man eingehender die Dialektik analysieren, die sich nach der Oktoberrevolution entwickelt hat. Das kapitalistische System, das sich durch die Übernahme von Elementen aus dem ideellen und politischen Gepäck der kommunistischen- und Arbeiterbewegung und aus dem Realen Sozialismus konsolidiert hatte, hat daraufhin seinerseits eine unwiderstehliche Anziehung auf die Bevölkerung der Länder ausüben können, die sich durch einen Sozialismus auszeichneten, der von Anfang an die gut sichtbaren Zeichen des vom Westen entfesselten und aufgezwungen Krieges trägt: Mit der Zeit wird er immer sklerotischer, bis er schließlich zu seiner eigenen Karikatur wird. Das heißt, den auf der Woge der bolschewistischen Revolution entstandenen Ländern ist es nicht gelungen, sich konkret mit dem Westen zu messen, zu dessen tiefgreifender Modifizierung sie selber beigetragen hatten. Letzten Endes hat das politisch-soziale System den Sieg davon getragen, das besser auf die Herausforderung hat reagieren können, die das entgegengesetzte oder konkurrierende System lanciert oder objektiv konstituiert hat. Auch in diesem Fall hat sich so der anfängliche Teilsieg der kommunistischen und Arbeiterbewegung, die gezeigt hatte, dass sie fähig war, ihre konkrete historische Wirksamkeit auch im gegnerischen Lager durchzusetzen, in eine Niederlage von strategischer Tragweite verwandelt.

So wird der widersprüchliche Prozess verständlich, der sich heute abspielt. Nach der Lockerung des vom Imperialismus aufgezwungenen permanenten Ausnahmezustands und aufgrund eines Lernprozesses, der durch diese neue Situation erleichtert wird, reift in einem Land wie China die theoretische Anerkennung der Bedeutung der rule of law heran und es werden Anstrengungen unternommen, einen sozialistischen Rechtsstaat aufzubauen: So drücken sich, sowohl mit der Tradition des "Realsozialismus" als auch mit dem Erbe der "Kulturrevolution" brechend, die heutige Verfassung und die Führung der Volksrepublik China aus. Im Westen geht dagegen mit dem Verschwinden der Herausforderung, die eine starke internationale kommunistische Bewegung und das "sozialistische Lager" dargestellt hatten, ein allgemeiner Rückschritt Hand in Hand. Es handelt sich nicht nur um den Abbau des Sozialstaats. Der Tendenz nach tauchen sogar wieder zwei der drei großen Diskriminierungen, wenn auch in anderer Form, wieder auf, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts überwunden worden waren. In den Vereinigten Staaten - unterstreicht unter anderen ein maßgeblicher liberaler Historiker wie Schlesinger jr. - ist die Bedeutung des Geldes im Wahlkampf so groß, dass die repräsentativen Organe Gefahr laufen, wieder das Monopol der besitzenden Klassen zu werden (wie in den goldenen Jahren des Klassenwahlrechts). Was die internationalen Beziehungen betrifft, so rehabilitiert Popper, der praktisch offizielle Theoretiker der "offenen Gesellschaft", ganz explizit den Kolonialismus (vgl. Losurdo, 1993, Kap. 8, § 4 und § 7). Eine neue Vitalität kommt im Übrigen der imperialen Mythologie zu, wonach ein "auserwähltes Volk" das Recht und die Pflicht habe, die anderen zu führen: Auf das Kiplingsche Motiv von der White Man 's Burden folgt inzwischen das von Bush jr. so geschätzte Motiv der American Man 's Burden.

Die "Niederlage" ist nicht das "Scheitern": Während letztere Kategorie ein total negatives Urteil impliziert, ist die erstere ein partiell negatives Urteil, das auf einen bestimmten historischen Kontext Bezug nimmt und es ablehnt, die Realität einiger Länder (und sogar eines Landes, das ein Kontinent ist) zu verdrängen, die sich weiterhin auf den Sozialismus berufen. Ihr Widerstand und ihre Vitalität leiten sich aus der Fähigkeit her, mit Irrtümern und mehr oder weniger geglückten Experimenten konkret den notwendigen Lernprozess voranzubringen, indem sie das sozialistische Projekt von seinen abstrakt utopistischen Komponenten befreien und den sozialistischen Markt, die rule of law in sozialistischer Version, das Weiterbestehen der nationalen Unterschiede und Identitäten usw. wiederentdecken. Es eröffnet sich eine neue Phase mit vielen unvorhersehbaren Aspekten: Der Lernprozess kann keinen garantierten Erfolg haben, er ist weder immun gegen Widersprüche und Konflikte noch gegen die Gefahr der Niederlage. Es ist ein Prozess, der bei weitem noch nicht zu seinem Abschluss gekommen ist.

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