MEMORANDUM 2003

Krise im Schatten des Krieges - Mehr Steuern für mehr Beschäftigung statt Abbruch des Sozialstaates

Die wirtschafts- und sozialpolitische Lage Deutschlands im Frühjahr 2003 ist durch Konzeptionslosigkeit, Unsicherheit und Chaos gekennzeichnet. Die Massenarbeitslosigkeit ist zu Beginn der zweiten Amtszeit der rot-grünen Regierung höher als zu Beginn der ersten und ist zum Jahresanfang auf neue Rekordhöhen gestiegen. Die Finanzpolitik hält unbeirrt an Kürzungen vor allem der Sozialausgaben fest. Dies ist gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv und verschärft zunehmend den Druck auf die bedürftigen Gruppen der Gesellschaft. Die Steuerpolitik folgt einem Zickzackkurs, der mit vernünftigen Ansätzen begann, unter dem Druck der Unternehmerlobby einknickte, sich mittlerweile wieder auf die gewohnte Umverteilung von unten nach oben zu bewegt und im übrigen Städte und Gemeinden in den Ruin treibt. In der Arbeitsmarktpolitik schließlich wird das Konzept: ,,Noch mehr Flexibilität durch noch mehr Druck" verstärkt umgesetzt, das schon in den letzten Legislaturperioden gescheitert war und, nachdem jetzt auch bisher bewährte arbeitsmarktpolitische Instrumente abgeschafft werden, noch tiefer in die Arbeitslosigkeit führen wird. Die hektische steuer- und arbeitsmarktpolitische Betriebsamkeit der Bundesregierung verdeckt deren bleiernen Traditionalismus, den sie gemeinsam mit den Unternehmerverbänden und dem überwiegenden Teil der Medien gerne den Gewerkschaften vorwirft. Von diesem Festhalten an schon längst gescheiterten Konzepten gehen keine gesamtwirtschaftlich positiven Impulse aus. Es steigert im Gegenteil die Gefahr einer neuen Rezession, die sich zu einer deflationären Abwärtsspirale vertiefen könnte.

Überlagert wird die wirtschaftliche Unsicherheit durch die Gefahren des Krieges, der von der US-amerikanischen Regierung - ungeachtet millionenfacher Ablehnung in aller Welt - vorbereitet wird und notfalls auch unter Bruch des Völkerrechts betrieben werden soll. Wir sehen hierin keinen Beitrag zum Kampf gegen den Terrorismus oder zum Schutz der Menschenrechte. Die Triebkräfte für diesen Krieg liegen vielmehr vor allem in ökonomischen und geostrategischen Interessen der USA: dem Interesse am Zugriff auf die Ölreserven der Welt, deren Nutzung die ökologisch katastrophale und energieintensive Produktions- und Lebensweise der USA und anderer Industriegesellschaften sichern soll. Überdies sollen die Dominanzposition der USA gegenüber den ölabhängigen Konkurrenten und die Vormacht des US-Dollar gegenüber dem Euro aufrecht erhalten werden. Ein Erfolg dieser Konzeption ginge ökonomisch zu Lasten der Menschheit und ökologisch zu Lasten der Natur. Die Ermordung unzähliger Menschen sowie unabsehbare globale wirtschaftliche Schäden wären die Folgen eines längeren Krieges. Die Durchsetzung der US-amerikanischen Dominanz würde die ohnehin fragile Konzeption einer auf Völkerrecht gegründeten Weltfriedensordnung endgültig zerstören und das Recht des Stärkeren als Grundlage internationaler Beziehungen faktisch legitimieren. Aus diesen Gründen gibt es für die Menschen in Deutschland wie in der ganzen Welt ein alles andere überragendes Interesse daran, diesen Krieg zu verhindern oder möglichst schnell zu beenden. Wir begrüßen es, dass dieses Interesse sich in einer breiten politischen Mobilisierung niederschlägt, und fordern die deutsche Bundesregierung auf, ihre bisherige Ablehnung des US-amerikanischen Krieges auch weiterhin in allen internationalen Gremien zum Ausdruck zu bringen und in Deutschland konsequent umzusetzen.

Wir werden in diesem Memorandum zunächst auf die Hintergründe und Folgen der US-amerikanischen Kriegspolitik eingehen. Anschließend zeigen wir, dass die aktuelle Wirtschaftspolitik auch ohne die zusätzlichen Risiken des Krieges mit erheblichen konjunkturellen Unsicherheiten konfrontiert ist. Es folgt die kritische Auseinandersetzung mit den beiden Schwerpunkten der derzeitigen deutschen Wirtschaftspolitik, der Finanzpolitik und der Arbeitsmarktpolitik. Dieser Kritik schließen sich Vorschläge für eine andere Wirtschaftspolitik an, die sich an den Zielen Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit orientieren.

1. Hintergründe und Risiken des Irak-Krieges

Unsere Ablehnung des Krieges begründet sich nicht aus speziellen wirtschaftlichen Überlegungen, für die WirtschaftswissenschaftlerInnen eine besondere Kompetenz beanspruchen könnten. Die Gefahren des drohenden Krieges richten sich nicht in erster Linie auf die Wirtschaft, und seine unmittelbaren wirtschaftlichen Risiken betreffen nicht in erster Linie die Weltkonjunktur oder die deutsche Wirtschaft. Der Krieg ist vor allem eine Katastrophe für die betroffenen Menschen, und er zerstört die politischen und rechtlichen Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens der Völker. Seine wirtschaftliche Dimension liegt zunächst und vor allem in der Vernichtung der unmittelbaren materiellen Lebensgrundlagen wie Nahrungsmittel, Produktionsanlagen und Infrastrukturen in den angegriffenen Gebieten. Insofern ist eine Position gegen den Krieg ein allgemein menschliches und politisches Gebot.

Jenseits dieser allgemeinen Dimension gibt es aber auch eine Reihe ökonomischer und politökonomischer Faktoren, die mit der US-amerikanischen Kriegspolitik verbunden und wirtschaftswissenschaftlicher Analyse zugänglich sind. Sie betreffen erstens die Hintergründe, zweitens die Kosten und drittens die Folgen des Krieges für die Weltwirtschaft und damit auch für die europäische und deutsche Entwicklung.

Zu den Hintergründen: Wir sind nicht der Ansicht, dass es bei dem drohenden Krieg um die Entwaffnung oder den Sturz eines Diktators, um die Herstellung von Demokratie oder um den Schutz von Menschenrechten geht. Zu seinen wesentlichen Triebkräften gehören vielmehr ökonomische Interessen der USA an dem Zugriff auf einen erheblichen Teil der Weltölreserven. Dies hat die Friedensbewegung mit ihrem Slogan ,,Kein Blut für Öl" plastisch zum Ausdruck gebracht. Dabei geht es nicht um die Beseitigung akuter Ölknappheit, denn diese gibt es nicht, sondern um drei langfristig-strategische Orientierungen: Zum einen soll der Zugriff auf den langfristig knapper werdenden Energieträger Öl die energieintensive Produktions- und Lebensweise entwickelter Industrieländer trotz aller Schäden sichern, die dies für Natur und Umwelt mit sich bringt. Dies entspricht dem Interesse der Ölkonzerne und der meisten Regierungen der OECD. Zum anderen können die USA durch die Kontrolle über einen großen Teil der Ölreserven der Welt andere Länder in Abhängigkeit halten und hierdurch ihre ökonomische und politische Vormachtposition in der Welt stabilisieren. Drittens schließlich spielt das Öl auch in der härter werdenden internationalen Währungskonkurrenz eine wesentliche Rolle: Wenn es den USA gelänge, durch die Kontrolle über den wesentlichen Teil der Weltölvorräte den Ölhandel weiterhin in ihrer Währung abzuwickeln, stärkten sie damit die Stellung des US-Dollar als Weltwährung, die durch das enorme und weiter steigende US-amerikanische Leistungsbilanzdefizit und zusätzlich durch die jüngste Krise am Aktienmarkt unter Druck geraten ist.

Zu den Kosten des Krieges: Die unmittelbaren monetären Kosten des Krieges sind die Ausgaben für den US-amerikanischen Militäreinsatz und für die anschließende politische und ökonomische Stabilisierung des Irak. Zu den weiteren wirtschaftlichen Folgen zählen die Auswirkungen des Krieges auf den Ölpreis und die Effekte veränderter Währungsrelationen, die sich danach ergeben können. Die Quantifizierung dieser Faktoren hängt in erster Linie von den Annahmen über die Dauer und den Erfolg des Militäreinsatzes ab. Hierüber sind einigermaßen verlässliche Prognosen nicht möglich. Dies zeigt die enorme Spannweite der in der Öffentlichkeit verbreiteten Zahlen, die von 48 Mrd. US-$ (kurzer erfolgreicher Krieg, geringe Aufbaukosten, fallender Ölpreis, stabiler US-Dollar) bis zu 1,9 Billionen US-$ (langer Krieg, große Zerstörungen und Stabilisierungskosten, steigender und anhaltend hoher Ölpreis, abwertender US-Dollar) reichen. Dabei handelt es sich jeweils um die Kosten, die nur für die USA entstünden. Es stellt sich darüber hinaus jedoch - insbesondere bei Szenarien, die von ungünstigeren Prognosen ausgehen - die Frage, wer außer den USA die Kosten des Krieges zu tragen hat und wie sich dies auf die Weltwirtschaft und einzelne Länder auswirkt.

Zu den Folgen für die Weltwirtschaft: Bei der Abschätzung dieser Folgen sind einerseits der Ölpreis, andererseits der US-Dollar-Wechselkurs und drittens vor allem der derzeitige Zustand der US-Wirtschaft zu berücksichtigen. Noch sind die USA eine Wachstumslokomotive für die Weltwirtschaft. Dies ist insofern paradox, als steigende Importüberschüsse einerseits die Weltnachfrage stabilisieren. Andererseits führen aber die damit verbundenen Leistungsbilanzdefizite zu einer auf Dauer untragbaren Auslandsverschuldung. Für die USA ist dies nur aufgrund der bislang unangefochtenen Stellung des US-Dollars als Weltwährung möglich. Aus dieser widersprüchlichen Position der USA in der Weltwirtschaft ergeben sich je nach Dauer und Verlauf des Krieges unterschiedliche Konsequenzen:

- Durch einen schnellen militärischen Erfolg könnten die USA zeigen, dass sie ihre (Vor)Machtansprüche tatsächlich militärisch umsetzen können. Hierdurch dürfte das Vertrauen internationaler Anleger in die Stärke der US-Wirtschaft steigen. Die daraus resultierenden Kapitalzuflüsse würden ein weiterhin hohes oder sogar noch steigendes Leistungsbilanzdefizit finanzieren und ermöglichten es der US-Wirtschaft damit, auch künftig als weltwirtschaftliche Konjunkturlokomotive zu fungieren. Fallende Ölpreise als Folge der Zerschlagung des OPEC-Kartells könnten das so ausgelöste Wachstum verstärken. Dieses Szenario mündet in der Perspektive eines zunächst stabilisierten weltwirtschaftlichen Wachstums, von dem auch andere Länder in gewissem Maße profitieren würden. Der Preis hierfür wäre allerdings hoch: Er bestünde zum einen in einer beschleunigten Zerstörung der Umwelt durch die Aufrechterhaltung der energieintensiven Produktions- und Lebensweise der Industrieländer. Er bestünde zum anderen in einer neuen Weltordnung, die politisch und ökonomisch durch die relativ uneingeschränkte Vormacht der USA geprägt wäre, der gegenüber alle anderen Länder und insbesondere die EU an politischer und ökonomischer Eigenständigkeit verlören. Diese Position würde die Amerikanisierung auch der sozialen Beziehungen in Europa nach sich ziehen.

- Ein längerer Krieg hätte dagegen negative Folgen für die US-amerikanische Wirtschaft und könnte den gegenwärtig noch anhaltenden Dollarzufluss in einen Dollarabfluss verwandeln. Das Leistungsbilanzdefizit der USA könnte nicht mehr finanziert werden. Sein Abbau führte zu einer Dollarabwertung und zur Erosion der US-amerikanischen Vormacht in der Weltwirtschaft sowie zu einer Verbesserung der Konkurrenzposition Europas. Da die EU wegen ihrer fundamentalistisch verengten wirtschaftspolitischen Perspektive nicht bereit ist, durch eine expansive Politik die Rolle der weltwirtschaftlichen Konjunkturlokomotive zu übernehmen - und Japan hierzu nicht in der Lage ist -, würde eine solche Konstellation ziemlich direkt in eine weltwirtschaftliche Rezession führen, die durch steigende Ölpreise vertieft würde.

2. Konjunktur zwischen Verunsicherung und Politikverweigerung

Auch unabhängig von den Unsicherheiten, die durch die Kriegspolitik der US-amerikanischen Regierung verursacht werden, befindet sich die Weltwirtschaft zu Beginn dieses Jahres in einer sehr labilen Situation. Der kräftige Aufschwung, der nach dem Mitte 2000 einsetzenden Einbruch der Weltkonjunktur für das Jahr 2002 vorausgesagt worden war, ist nicht zustande gekommen. Zwar lag das Wachstum der Weltwirtschaft mit 2,3 % wieder höher als im Jahr zuvor, aber für die Rückkehr zu einer mit den 1990er Jahren vergleichbaren Dynamik reichte das nicht aus.

Maßgeblich für die aktuelle Instabilität der Weltwirtschaft sind die Entwicklung und die Lage der US-amerikanischen Wirtschaft. Diese hat sich einerseits nach der Rezession des Jahres 2001 - in dem die Produktion drei Quartale hintereinander gesunken und jahresdurchschnittlich auf 0,3 % (gegenüber 3,8 % im Vorjahr) abgestürzt war - im vergangenen Jahr mit einem Wachstum von 2,2 % deutlich erholt. Ursache hierfür war vor allem der steigende private Verbrauch, der seinerseits durch die anhaltend hohen Immobilienpreise und intensive Absatzkampagnen der Automobilindustrie gestützt wurde. Ob dies auch weiterhin so sein wird, ist jedoch fraglich. Denn auf der anderen Seite hält die Schwäche an den Finanzmärkten an. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie in absehbarer Zeit auch auf die Immobilienmärkte übergreift. Die Krise der New Economy ist mit dem Verschwinden zahlreicher von vornherein maßlos überbewerteter Firmen offensichtlich nicht vorbei, sondern setzt sich mit dem Zusammenbruch großer Technologiekonzerne (Vivendi) und mit Riesenverlusten renommierter Medienimperien (AOL/Time Warner) fort. Die Bilanzfälschungen bei ENRON, WorldCom u.a. sowie das Fehlverhalten von Wirtschaftsprüfern, Analysten und Banken haben dazu beigetragen, das Vertrauen der Anleger zu erschüttern. Infolgedessen sind die Investitionen im vergangenen Jahr gesunken und das Leistungsbilanzdefizit hat erneut zugenommen. Diese im ökonomischen Sinne mittelfristig unhaltbare Entwicklung wird gegenwärtig noch durch die politische und militärische Vormachtstellung der USA gestützt, die dazu führt, dass der US-Dollar nach wie vor die führende Weltwährung ist. Es ist aber - mit oder ohne Krieg - keineswegs sicher, dass dies so bleiben wird. Eine aus ökonomischen Gründen eigentlich zu erwartende Schwächung des US-Dollar würde jedoch eine Umkehr der Kapitalflüsse bewirken und die USA in eine Rezession treiben, die ohne energische Gegensteuerung in eine weltweite Abwärtsspirale führt.

Die notwendige Gegensteuerung könnte nur von Seiten der EU kommen, da die japanische Wirtschaft bereits so geschwächt ist, dass sie als weltwirtschaftliches Kraftzentrum zumindest für die nächste Zeit ausfällt. Die EU könnte als ein solches potenzielles Kraftzentrum die Rolle der weltwirtschaftlichen Konjunkturlokomotive von den USA übernehmen. Dazu ist sie jedoch wegen ihres stabilitätspolitischen Fundamentalismus nicht in der Lage. Die europäische Geldpolitik lehnt eine wachstums- und beschäftigungspolitische Verantwortung strikt ab und beschränkt die Aufgabe der Europäischen Zentralbank ausdrücklich auf die Gewährleistung der Preisstabilität, die zudem - mit einer Obergrenze für den Anstieg der Verbraucherpreise von unter 2 % - äußerst restriktiv definiert wird. Die Fiskalpolitik, die eine wichtige Rolle bei der Ankurbelung der Wirtschaft spielen könnte und müsste, steht in der EU unter dem Diktat des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und des darin festgelegten Zwangs zur Kürzung staatlicher Ausgaben. Dieser Zwang wird durch die neoliberale Politik der Steuersenkungen noch verschärft und wirkt kontraktiv. Diese Politik untergräbt überdies den sozialen Zusammenhalt in der EU und hat bereits dazu geführt, dass die Unterschiede bei den Pro-Kopf-Einkommen zwischen den europäischen Regionen nicht kleiner, sondern sogar größer geworden sind. Es gehört zu den Paradoxien dieser Konstellation, dass die Vereinheitlichung der Geld- und Finanzpolitik in der EU sogar die monetäre Konvergenz zwischen den Mitgliedsländern zerstört hat: Fünf Mitgliedsländer der Währungsunion haben im Jahre 2002 die Kriterien nicht mehr erfüllt, die für eine Aufnahme in die Währungsunion aufgestellt worden waren. Die wirtschaftspolitische Orientierung der EU erreicht nicht einmal das erklärte Ziel der Haushaltskonsolidierung, sondern führt zu höheren Schulden und Zinsverpflichtungen, die ihrerseits wieder neue Ausgabenkürzungen begründen. Nur die Aussicht auf einen Krieg scheint einige Regierungen in den letzten Wochen bewogen zu haben, eine Lockerung der Sparpolitik ohne Rücksicht auf das Defizitkriterium ins Auge zu fassen. Dies ist nun freilich ein makabrer Zynismus: Statt Staatsschulden zur Finanzierung produktiver Investitionen, höherer Beschäftigung und eines höheren Wohlstandes zu verwenden, werden sie nur dann akzeptiert, wenn sie den Krieg und damit die Zerstörung von Menschenleben und von wirtschaftlichem Wohlstand finanzieren.

Deutschland spielt in diesem Zusammenhang eine durchaus unerfreuliche Sonderrolle. Das größte und ökonomisch stärkste Mitgliedsland der EU zeichnete sich im vergangenen Jahr durch eine besonders schwache wirtschaftliche Entwicklung aus: Mit 0,2 % war die deutsche Wachstumsrate die zweitniedrigste in der EU. Dass in Deutschland gleichzeitig die niedrigste Inflation in der EU herrschte - während Irland als Land mit der höchsten Wachstumsrate (4,5 %) zugleich die höchste Inflationsrate (4,7 %) aufwies -, deutet darauf hin, dass der behauptete positive Zusammenhang von Preisstabilität und Wachstum falsch ist. Deutschland war das einzige Mitgliedsland der EU, in dem der private Konsum im vergangenen Jahr gesunken ist. Dies ist vor allem auf die geringen Zuwächse bei den Löhnen und Gehältern zurückzuführen. Zwar konnte im vergangenen Jahr erstmals seit längerer Zeit der verteilungsneutrale Lohnspielraum in den Tarifverhandlungen ausgeschöpft werden. Die langen Jahre der Umverteilung zu Lasten der Löhne und Gehälter wirken jedoch weiter und drücken auf den Verbrauch. Zudem hat die größere Unsicherheit über die Zukunft dazu geführt, dass - ebenfalls erstmals seit vielen Jahren - die private Sparquote wieder gestiegen ist. Da die niedrigere private Verbrauchsnachfrage nicht durch zusätzliche Staatsausgaben ausgeglichen wurde, sank die binnenwirtschaftliche Endnachfrage, und in der Folge gingen auch die Investitionen deutlich zurück (-6,5 %), stärker als in den übrigen Mitgliedsländern zusammen (-1,2 %). Nur der Anstieg des Außenbeitrages um fast 30 Mrd. EUR auf fast 92 Mrd. EUR verhinderte, dass der Rückgang der Binnennachfrage um 1,4 % zu einem Sinken des Bruttoinlandsproduktes insgesamt führte. Eine derartige Kompensation dürfte aber mittelfristig immer schwieriger werden. Ohne eine deutliche - durch stärkere Lohnsteigerungen und eine expansivere Wirtschaftspolitik vorangetriebene - Belebung der Inlandsnachfrage wird sich die Stagnation in Deutschland verfestigen und auch die wirtschaftliche Entwicklung in der EU nachhaltig negativ beeinflussen. Die für eine derartige Wende zum Besseren erforderliche gründliche Kursänderung der Wirtschaftspolitik zeichnet sich jedoch zur Zeit nicht ab.

3. Finanzpolitik zwischen Chaos und Trickserei

Steuersenkungen - insbesondere für Unternehmen und reiche Privathaushalte - sowie Ausgabenkürzungen haben bereits vor Ausbruch der Konjunkturkrise 2001 zu einer Schwächung der Inlandsnachfrage geführt und damit die Exportabhängigkeit der Nachfrage in Deutschland erhöht. Folgerichtig hat die Rezession, die von den USA ausgegangen ist, über rückläufige Exporte voll auf die Konjunktur in Deutschland durchgeschlagen, ohne dass dieser negative Nachfrageschock durch höhere private oder staatliche Ausgaben ausgeglichen wurde. Wenn die Bundesregierung ihren Sparkurs in der Finanzpolitik auch unter Krisenbedingungen beibehält, wird es zum Ende des ohnehin schwachen Aufschwungs und zu einer erneuten Rezession kommen.

Die Wirtschaftspolitik hat im Jahr 2002 nicht einmal ihr selbst erklärtes Ziel erreicht, die öffentlichen Haushalte auszugleichen. Statt dessen nahm die Nettoneuverschuldung zu und überschritt mit 3,7 % des Bruttoinlandsproduktes die 3-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Da diese Kreditaufnahme die öffentlichen Investitionen weit übersteigt, war Finanzminister Eichel schließlich gezwungen, nach Art. 115 GG eine ,,Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" zu erklären. Diese Entwicklung ist im wesentlichen eine Folge stabilisierungspolitischer Unterlassungen und verteilungspolitisch unangebrachter Steuergeschenke an Unternehmen und vermögende Privathaushalte.

Die unzureichende Entwicklung der privaten Binnennachfrage sowie die Unsicherheit über die weitere Entwicklung des Exports haben zu einer ökonomischen Stagnation geführt, die ohne starke Nachfrageimpulse des Staates kaum zu überwinden sein wird und sogar in eine deflationäre Situation führen kann. Angesichts einer Auslastung der industriellen Kapazitäten von 82 % in 2002 - das war noch weniger als im Rezessionsjahr 2001 - ist eine Zunahme der privaten Investitionen erst zu erwarten, wenn die bestehenden Produktionsanlagen durch eine politisch zu schaffende Zusatznachfrage in normalem Umfang ausgelastet werden.

Die Art und Weise, wie die Bundesregierung mit dieser Wirtschaftslage umgeht, kann nur erstaunen. Die Prognosen eines sehr schwachen Wachstums von Seiten des Sachverständigenrates und verschiedener Forschungsinstitute wurden zunächst ignoriert. Diese Weigerung, die gegenwärtige Stagnation anzuerkennen, hat dramatische Folgen: Es werden dann nämlich Steuereinnahmen erwartet und in den Haushalt eingestellt, die aufgrund des tatsächlich geringeren Wirtschaftswachstums nicht zustande kommen können. So wurden Deckungslücken im Haushalt vorprogrammiert, die kurzfristig nur durch höhere Kreditaufnahme zu schließen sind und darüber hinaus zur Begründung für spätere Ausgabenkürzungen dienen. Auf diese Weise fördert auch die ungerechtfertigt optimistische Prognosetätigkeit der Regierung die Negativspirale von Ausgabenkürzungen, Wachstumsrückgang, Steuermindereinnahmen und hieraus resultierender Verschuldung.

Auch die Steuerpolitik hat in erheblichem Maße zu der katastrophalen Lage der öffentlichen Haushalte beigetragen. Die massiven Klagen der Unternehmerverbände und des größten Teils der Medien über eine zu hohe Steuerbelastung, die privaten Haushalten und Unternehmen Kaufkraft entziehe und darüber hinaus Arbeits- bzw. Investitionsanreize zerstöre und damit die ,,gefühlte" Steuerbelastung in die Höhe treibe, steht in offensichtlichem Gegensatz zur Tatsache einer besonders niedrigen Steuerbelastung in Deutschland. Selbst die OECD hat erst kürzlich festgestellt, dass die Steuerquote in Deutschland 2001 mit 21,7 % sogar geringer als im Steuerparadies Luxemburg lag, wo der entsprechende Wert 30,8 % betragen hat.

Die Einkommensteuer wurde in Deutschland während der vergangenen Jahre mehrfach gesenkt; weitere Entlastungen sind bereits beschlossen. Dabei werden die oberen Einkommensgruppen erheblich stärker als einkommensschwache Haushalte begünstigt. Damit widerspricht die rot-grüne Steuerpolitik nicht nur ihrem bei Amtsantritt proklamierten Ziel, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Sie trägt auch zur Stagnation der Konsumnachfrage bei. Dass ärmere Haushalte wenig konsumieren, liegt ja nicht daran, dass sie sich alle ihre Konsumwünsche bereits erfüllt hätten, sondern daran, dass ihre verfügbaren Einkommen zu gering sind.

Noch größer als bei den privaten Haushalten ist der Widerspruch zwischen ,,gefühlter" oder besser ,,öffentlichkeitswirksam beklagter" und tatsächlicher Steuerbelastung im privaten Unternehmenssektor und hier insbesondere bei der Körperschaftsteuer. Als Folge steuerlicher Begünstigungen haben Kapitalgesellschaften 2001 netto 426 Mio. EUR vom Staat erhalten. Statt zum gesamten Steueraufkommen beizutragen, haben sie dieses also verringert. Angesichts des seit Jahren steigenden Anteils der Lohn- und Einkommensteuern an den gesamten Steuern kann festgestellt werden, dass Löhne und Gehälter in erheblichem Maße zur Subventionierung der Kapitalgesellschaften herangezogen werden. Zwar wurden 2002 wieder 2,9 Mrd. EUR an Körperschaftsteuern eingenommen, dieser Betrag bleibt jedoch weit hinter den Einnahmen zurück, die vor der rot-grünen Reform der Körperschaftsteuer erzielt worden sind.

Die finanzpolitische Realität wird also nicht durch steigende Steuerlasten, sondern durch massive Steuerausfälle geprägt. Sie sind das Ergebnis direkter Steuersenkungen und geringer Einkommenssteigerungen, für die ihrerseits eine falsche Wirtschaftspolitik verantwortlich ist.

Wie bereits erwähnt, sind die öffentlichen Ausgaben in den vergangenen Jahren langsamer gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Die Finanzmisere der öffentlichen Haushalte kann deshalb nicht auf das großzügige Ausgabengebaren von Stadtkämmerern und Finanzministern zurückgeführt werden. Vielmehr hat der Staat ein Einnahmenproblem, das durch jahrelange Steuerentlastungen sowie die gegenwärtige Konjunkturschwäche verursacht ist.

Dass diejenigen, die von diesen Entlastungen profitiert haben, Steuererhöhungen mit dem Hinweis ablehnen, dadurch würde die private Nachfrage weiter verringert, dient ausschließlich der ideologischen Verteidigung privilegierter Einkommens- und Vermögenspositionen. Mit den ökonomischen Zusammenhängen zwischen Steuererhebung und Staatsausgaben einerseits sowie der privaten Nachfrage andererseits kann dieses Argument nicht begründet werden. Eine Verringerung der privaten Nachfrage als Folge höherer Steuern ist nur bei den Beziehern niedriger Einkommen zu erwarten, denn diese verwenden (fast) ihr gesamtes Einkommen zur Finanzierung ihres Konsums.

Demgegenüber wird die Forderung nach steuerlicher Entlastung hoher Einkommen und Vermögen mit dem Argument begründet, hierdurch würde ein Anreiz zu erhöhter Ersparnis gegeben. In deren Folge könnten dann zusätzliche Investitionen finanziert werden. Die sinkende Investitionstätigkeit, die in den letzten zwei Jahren zu beobachten war, kann allerdings nicht durch einen Mangel an Ersparnissen und damit unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten erklärt werden; die Sparquote der privaten Haushalte ist im selben Zeitraum gestiegen. Vielmehr hat die gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche voll auf die Investitionen durchgeschlagen. Die dramatischen Rückgänge der Kreditnachfrage, die jüngst zu verzeichnen waren, zeigen deutlich, dass bestehende Finanzierungsspielräume als Folge gesamtwirtschaftlichen Nachfragemangels nicht ausgeschöpft worden sind. Also kann von der Notwendigkeit, über Steuersenkungen Ersparnis und Investitionen anzuregen, keine Rede sein. Unsinnig sind deshalb auch die Forderungen, die nächste Stufe der Einkommensteuerreform vorzuziehen, die wiederum reiche gegenüber einkommensschwachen Haushalten begünstigt.

An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die geplante Abgeltungssteuer für Zinseinnahmen - die auch gern als Beleg einer allgemein zunehmenden Steuerlast angeführt wird - die oberen Einkommen massiv entlastet. Haushalten, deren Einkommensteuersatz unter dem Zinssteuersatz von 25 Prozent liegt, droht demgegenüber die Gefahr, ihre Zinseinkommen künftig mit diesem höheren Satz versteuern zu müssen. Umgekehrt werden die Zinseinkünfte reicherer Haushalte steuerlich entlastet, da diese nicht mehr mit dem höheren Einkommensteuersatz, sondern mit dem einkommensunabhängigen niedrigen Satz der Abgeltungssteuer belegt werden.

Die Bundesregierung hatte nach Antritt ihrer zweiten Amtszeit den begrüßenswerten Versuch begonnen, die Steuerflucht einzudämmen und Unternehmensgewinne und Kapitaleinkommen in höherem Maße an der Finanzierung der öffentlichen Haushalte zu beteiligen. Unter dem Trommelfeuer der Lobbyisten, der Opposition und auch aus den eigenen Reihen hat sie jedoch einen Rückzieher nach dem anderen gemacht. Bei den Plänen zur Einführung einer - gegenüber den ursprünglichen Absichten stark herabgesetzten - Mindestbesteuerung, zur Einführung von Kontrollmitteilungen für Kapitaleinkommen und zur Abschaffung einiger Steuervergünstigungen für Unternehmen ist von den ursprünglichen Ansätzen kaum etwas übrig geblieben. Und nicht einmal dieser Rest ist gesichert. Denn gegen den Abbau von Steuervergünstigungen wird von den Unternehmerverbänden und den meisten Medien argumentiert, dass dies konjunkturschädlich sei. Demgegenüber ist darauf zu verweisen, dass zum einen dieser Abbau von Vergünstigungen weitaus geringer ausfällt als die bisherigen und zu erwartenden Entlastungen durch die verschiedenen Reformen der Einkommen- und der Körperschaftsteuern. Zum anderen hat ein erheblich höheres Niveau der steuerlichen Belastung Unternehmen in früheren Zeiten nicht von Investitionen und zusätzlicher Produktion abgehalten, sofern die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in ausreichendem Maße expandierte. Schließlich sollte der unter dem Namen Haavelmo-Theorem bekannte Sachverhalt nicht außer acht gelassen werden, dass es in erster Linie darauf ankommt, was mit den zusätzlichen Staatseinnahmen geschieht: Da sie für zusätzliche Ausgaben verwendet werden, ist der hiervon ausgehende Ankurbelungseffekt größer als die von Steuererhöhungen ausgehende Bremswirkung.

4. Arbeitsmarktpolitik: Mehr Druck ohne mehr Arbeitsplätze

Bei Ausbruch der Krise 2001 gab es jahresdurchschnittlich 3,8 Millionen registrierte Arbeitslose in Deutschland. Ein Jahr später waren es bereits 4,1 Millionen und im Januar dieses Jahres 4,6 Millionen. In dieser Situation konzentriert sich die Bundesregierung auf angebliche ,,Reformen" des Arbeitsmarktes sowie der Arbeitslosenversicherung. Dabei vertritt sie die Auffassung, die gegenwärtige Arbeitslosigkeit sei nicht durch eine unzureichende Nachfrage verursacht. Vielmehr gebe es unüberwindliche bürokratische Hemmnisse, die Unternehmen an der Einstellung neuer Arbeitskräfte hinderten; zudem sei es für viele Arbeitslose attraktiver, Sozialleistungen zu kassieren und diese ggf. über Schwarzarbeit aufzubessern. Um diese Übel zu beseitigen, sollen eine effizientere Arbeitsvermittlung geschaffen, Bürokratie abgebaut und Anreize zur Arbeitsaufnahme erhöht werden. Vorschläge hierzu wurden von der mehrheitlich mit Unternehmensvertretern besetzten Hartz-Kommission ausgearbeitet. Deren Umsetzung hatte die Bundesregierung zunächst zum Kern ihrer beschäftigungspolitischen Aktivitäten erklärt. Mittlerweile zeichnet sich jedoch ab, dass weit über die Kommissions-Vorschläge hinausgehende Verschlechterungen der sozialen und arbeitsrechtlichen Sicherung geplant werden. Insbesondere soll der Kündigungsschutz gelockert werden.

Die Arbeitsvermittlung soll durch die frühzeitige Meldung von geplanten Entlassungen sowie neuen Stellen an die Arbeitsverwaltung beschleunigt werden. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, allerdings berücksichtigen entsprechende Maßnahmen zentrale Funktionsmerkmale der Arbeitsmärkte in Deutschland nicht. So wird unterstellt, die Besetzung neuer Stellen scheitere häufig daran, dass einerseits Unternehmen keine geeigneten BewerberInnen fänden und andererseits Arbeitssuchende von offenen Stellen, die ihrer Qualifikation entsprechen, nichts wüssten. Dies mag im Einzelfall zwar stimmen, dass es insgesamt aber nicht zutrifft, belegt die Tatsache, dass die Zahl der Arbeitsverhältnisse, die jedes Jahr neu eingegangen oder beendet werden, weitaus größer ist als jene der jahresdurchschnittlich registrierten Arbeitslosen. Dies widerlegt auch die verbreitete Annahme, die Arbeitsmärkte in Deutschland seien als Folge übermäßiger Regulierungen vollkommen ,,erstarrt".

Die hohe Zahl beendeter und neu abgeschlossener Arbeitsverträge - der ,,Umsatz" am Arbeitsmarkt - ändert freilich nichts daran, dass in Deutschland gegenwärtig 7,5 Millionen Arbeitsplätze fehlen. Diese Arbeitsplatzlücke setzt sich aus registrierten Arbeitslosen, TeilnehmerInnen an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sowie der stillen Reserve zusammen. Letztere umfasst Personen, die nicht aktiv eine Beschäftigung suchen, dies aber tun würden, wenn sie sich Chancen auf einen Arbeitsplatz ausrechnen würden. Diese Arbeitsplatzlücke kann nicht dadurch geschlossen werden, dass Arbeitsvermittlungen lediglich beschleunigt werden. Notwendig ist hierfür vielmehr eine Erhöhung der Arbeitsnachfrage und/oder eine Einschränkung des Arbeitsangebotes.

Tatsächlich zielen einige Vorschläge der Hartz-Kommission sowie erste Schritte zu deren gesetzlicher Umsetzung auf die gesamtwirtschaftlichen Größen Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot. Der Abbau sozialer und arbeitsrechtlicher Schutzrechte - die öffentlich zumeist als ,,sklerotische" Folge übermäßigen Gewerkschaftseinflusses denunziert werden - soll die Kostenbelastung privater Unternehmen verringern und über die Verbilligung der Ware Arbeitskraft zu Neueinstellungen führen. Unzureichende Güternachfrage, die eine profitable Beschäftigung zusätzlicher Arbeitskräfte auch dann nicht erlaubt, wenn diese billig angeboten werden, kommt in den Überlegungen von Hartz & Co nicht vor.

Als wichtige Kostenfaktoren gelten jetzt auch der Kündigungsschutz sowie unzureichende Möglichkeiten zur Beschäftigung von LeiharbeitnehmerInnen. Innerhalb einer Weltsicht, die überhöhte Arbeitskosten als Ursache unzureichender Nachfrage nach Arbeitskraft sieht, ist dies durchaus konsequent. Schließlich sinken die realen Lohnstückkosten, die sich aus der Division von Reallohn und Arbeitsproduktivität ergeben, seit vielen Jahren. Gründe hierfür sind erstens die hohe Arbeitslosigkeit, welche die Macht der Gewerkschaften beim Aushandeln der Löhne schwächt, zweitens aber auch die inzwischen von vielen Gewerkschaftern verinnerlichte Ansicht, eine energische Lohnpolitik vernichte Arbeitsplätze.

Den ersten Maßnahmen zur Deregulierung der Arbeitsmärkte durch das Hartz-Konzept droht jetzt ein fundamentaler Angriff auf das sozial regulierende Tarifvertragsrecht zu folgen. Die CDU/CSU fordert, dass an die Stelle des Flächentarifvertrags eine betriebsnahe Tarifpolitik treten soll. Über Löhne und Arbeitsbedingungen sollen jeweils auf Betriebsebene die Betriebsräte und Geschäftsführungen entscheiden. Dazu wird durch die Opposition gefordert, das Günstigkeitsprinzip sowie die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen in bestimmten Branchen einzuschränken. Dazu gehört die Abschaffung der im Betriebsverfassungsgesetz festgelegten Regelung, dass in tarifgebundenen Unternehmen mindestens die tarifvertragliche Entlohnung eingehalten wird. Dieser Abbau des Tarifvertragsrechts ist ökonomisch wie sozial kontraproduktiv. Er dient der Durchsetzung eines Lohnabbaus, indem der Druck auf die abhängig Beschäftigten durch den Bedeutungsverlust des Flächentarifvertrags verstärkt würde. Hierdurch würde auch die Position der Gewerkschaften geschwächt. Diesen Forderungen folgt die Bundesregierung bisher explizit nicht.

Dass gegenwärtig neben den so genannten ,,Lohnnebenkosten" die ,,Kosten der Arbeitsmarktregulierung" in das Kreuzfeuer der Kritik geraten sind, ist sicher nicht darauf zurückzuführen, dass nunmehr auch Regierung und Unternehmensverbände begriffen haben, dass die Sozialversicherungsbeiträge in den Lohnstückkosten bereits enthalten sind und insofern gar keinen eigenständigen Kostenfaktor darstellen. Vielmehr hat weder die bereits vollzogene Teilprivatisierung der Rente die Beiträge vermindert, noch werden vorgesehene Leistungskürzungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung zu wesentlichen Beitragssenkungen führen. Da es aber offenbar sehr schwer fällt, sich von der ,,Die Kosten sind zu hoch"-Theorie zu trennen, wurde mit Kündigungsschutz und fehlenden Leiharbeitsmöglichkeiten ein neuer zu bekämpfender Kostenfaktor gefunden.

Um diesem Missstand abzuhelfen, werden den örtlichen Arbeitsverwaltungen aktuell sogenannte ,,PersonalServiceAgenturen" (PSA) angegliedert. Dort können sich Unternehmen registrierte Arbeitslose gegen Zahlung des Arbeitslosengeldes ausleihen und innerhalb einer sechswöchigen Probezeit beschäftigen, ohne dass hieraus irgendwelche Ansprüche des Beschäftigten gegenüber dem Unternehmen entstünden. Danach ist eine Weiterbeschäftigung möglich, für die derzeit ein Tarifvertrag ausgehandelt wird. Es ist bereits absehbar, dass der Lohnsatz dieser PSA-vermittelten LeiharbeitnehmerInnen zumindest für einige Zeit unter dem entsprechenden Lohn liegen wird, der für gleiche Arbeit sonst in dem betreffenden Unternehmen gezahlt wird.

Durch diese Maßnahmen wird aus Arbeitslosen, die in der überwiegenden Mehrheit unbefristete Arbeitsplätze suchen, ein riesiger ,,Pool" an Leiharbeitskräften gemacht. Aus Sicht der Unternehmen ist dies attraktiv, weil es sie von der Pflicht befreit, den geltenden Lohn - der üblicherweise den Lebenshaltungskosten der Beschäftigten entspricht - unabhängig von kurzfristigen Schwankungen der jeweiligen Auftragslage zu zahlen und damit Personen zu beschäftigen, deren Arbeitspotenzial zeitweise nicht zur Gänze ausgeschöpft wird. Dieses unausgelastete Arbeitskräftepotenzial verursacht zwar Kosten, trägt aber nicht zu Wertschöpfung und Umsatz bei. Solche kurzfristigen Schwankungen im ,,Auslastungsgrad" der Arbeitskraft sowie die hiermit verbundenen Gewinnrückgänge können vermieden werden, wenn ohne größere Aufwendungen für Auswahl und Qualifikation Leiharbeitskräfte angeheuert werden können. In der Zeit der Nichtbeschäftigung werden diese nicht vom Unternehmen, sondern aus der Solidargemeinschaft der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten finanziert. Sollte die Einführung der PSA in größerem Umfang zur Ausweitung von Leiharbeitsverhältnissen führen, so wäre hiermit gleichzeitig eine weitere Rationalisierung der Arbeitsorganisation verbunden, ohne dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Vielmehr werden sich für die zunehmende Zahl von LeiharbeitnehmerInnen sowohl die Einkommen als auch die rechtliche und soziale Absicherung gegenüber regulären Arbeitsplätzen drastisch verschlechtern.

Um die Möglichkeiten der Leiharbeit zu erweitern, wird gegenwärtig eine Lockerung des Kündigungsschutzes diskutiert. Davon wären dann über jene 50.000 Personen hinaus, die nach gegenwärtigen Planungen in diesem Jahr über PSA vermittelt werden sollen, alle abhängig Beschäftigen in Deutschland betroffen.

Leiharbeit sowie die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse werden häufig damit gerechtfertigt, dass Unternehmen vor der dauerhaften Einstellung Arbeitsloser zurückschrecken würden, weil sie deren Qualifikationen und soziale Kompetenzen nicht richtig einschätzen könnten. Eine befristete Einstellung biete dagegen die Möglichkeit, die Fähigkeiten zuvor arbeitsloser Personen auszuprobieren. Einmal im Betrieb würden viele der zunächst befristet Beschäftigten dort auch verbleiben - als Folge eines ominösen ,,Klebeeffektes". Realistischer scheint dagegen ein ,,Drehtüreffekt", durch den vormals dauerhaft Beschäftige als LeiharbeitnehmerInnen wieder Zugang zu ihren alten Arbeitsplätzen bekommen, allerdings zu erheblich schlechteren Bedingungen. Darüber hinaus wird behauptet, Unternehmen stellten Arbeitskräfte nicht ein, wenn sie damit rechnen müssten, diese im Falle rückläufiger Produktion nicht wieder entlassen zu können. Eine fadenscheinige Argumentation, denn tatsächlich sind auch nach gegenwärtiger Rechtslage befristete Einstellungen erlaubt sowie Kündigungen aus wirtschaftlichen Gründen jederzeit möglich.

Neben der Erhöhung der Arbeitsnachfrage, welche die Regierung von einer Ausweitung der Leiharbeit und der Lockerung des Kündigungsschutz erwartet, aber sicher nicht erreichen wird, sind auch Maßnahmen zur Beeinflussung des Arbeitsangebotes vorgesehen. Aber auch dies wird nicht zum Abbau der Arbeitslosigkeit führen.

So soll Arbeitslosen, die ihr Einkommen gegenwärtig durch Schwarzarbeit aufbessern, durch die steuerliche Begünstigung von Kleinstgewerben ein Anreiz zur Legalisierung ihrer Tätigkeit gegeben werden. Von der Schaffung sogenannter ,,Ich-AG" erwartet die Hartz-Kommission ein Wachstum von Umsatz und Einkommen in einer Höhe, die es erlaubt, den Bezug von Lohnersatzleistungen zu streichen. Allerdings sind für einen Zeitraum von drei Jahren Zuschüsse aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung vorgesehen.

Außerdem unterstellen die von der Hartz-Kommission unterbreiteten Vorschläge bezüglich des Arbeitsangebotes unzureichende Anreize zur Arbeitsaufnahme. Viele Arbeitslose ließen sich demnach nur registrieren, um in den Genuss von Arbeitslosengeld bzw. -hilfe zu kommen. Um dieses ,,simulierte" in ein ,,effektives" Arbeitsangebot zu verwandeln, müsse - wieder einmal - das Niveau der Lohnersatzleistungen gesenkt werden. Die früher vorgenommenen Anpassungen an die allgemeine Lohnentwicklung sind bereits gestrichen worden. Kurzfristig sehr viel schwerer wiegen wird allerdings die geplante formelle Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Dass sich das Niveau der Arbeitslosenhilfe an jenes der Sozialhilfe nahezu angleicht, ist erklärtes Ziel dieser Maßnahme.

Konkret sehen die Vorstellungen der Hartz-Kommission zur Neuordnung der Transferleistungen für Arbeitslose drei Stufen vor: Das sog. Arbeitslosengeld I (ALG; ähnlich dem bisherigen Arbeitslosengeld ohne Inflationsausgleich), das Arbeitslosengeld II (ALG II; eine Kombination aus früherer Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe) sowie das so genannte Sozialgeld (SozG; eine Art pauschalierter Sozialhilfe). Das ALG II soll eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung mit Bedürftigkeitsprüfung sein, die für alle erwerbsfähigen Arbeitslosen infrage kommt, also auch für frühere SozialhilfeempfängerInnen, soweit die Arbeitslosen nicht das ALG I mit den höheren Leistungen beziehen und soweit sie als geprüft erwerbsfähig eingestuft worden sind. Das niedrigere SozG, für das weiterhin die Kommunen zuständig sein sollen, steht jenen zu, die sich als nicht erwerbsfähig erwiesen haben.

Was nun erwerbsfähig bzw. nicht erwerbsfähig heißt, verrät die Hartz-Kommission nicht. Sie erklärt nur, dass die Prüfung und Feststellung der Erwerbsfähigkeit durch den Fallmanager des JobCenters (Arbeitsamt-neu) im Zusammenwirken mit dem ärztlichen Dienst erfolgen soll. An der Frage, wer als erwerbsfähig zertifiziert bzw. als nicht erwerbsfähig ausgesondert wird, hängt nicht nur die Kostenträgerschaft von mehreren Milliarden Euro für die Transferleistung, sondern auch das individuelle Schicksal der Betroffenen, die je nach Einstufung eine mehr oder weniger ausreichende Hilfe zum Lebensunterhalt bekommen sollen. Abgesehen davon, dass das Kriterium ,,Erwerbsfähigkeit" unabhängig von Arbeitsmarktlagen objektivierbar bzw. zuverlässig messbar sein müsste, birgt dieses Sortierverfahren auch ein sozialethisches Problem: In Zukunft soll offensichtlich das, was der Mensch zum Leben braucht bzw. was ihm zum Leben zugebilligt wird, maßgeblich von seiner Verwendbarkeit in der ,,Arbeitsgesellschaft" abhängen. Dies stellt eine bemerkenswerte Neuinterpretation des Sozialstaatspostulats durch die Hartz-Kommission dar.

Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat demgegenüber ein Konzept für eine ,,Sozialstaatlich orientierte Aktive Arbeitsmarktpolitik" formuliert (vgl. SONDERMEMORANDUM 2002; www.memo. uni-bremen.de), das sowohl Grundprinzipien einer Neuausrichtung als auch aktuellen Politikbedarf thematisiert. An dieser Stelle konzentrieren wir uns angesichts der aktuellen Diskussionen auf einen Punkt, der eine Orientierung für die laufenden Entwicklungen in der Arbeitsmarktpolitik bietet: eine sozialverträgliche Ausgestaltung der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe.

Die lang andauernde Massenarbeitslosigkeit in Deutschland ist kein lokales, sondern ein gesamtwirtschaftliches und gesellschaftliches Problem. Deshalb ist es auch nicht einzusehen, warum die Kommunen bislang einen Großteil der Lasten der Arbeitslosigkeit über die Sozialhilfe aufzufangen haben. Auch ist dies für die Betroffenen mit nicht nachvollziehbaren Doppelzuständigkeiten für Leistungen und Beschäftigungsförderung zwischen Arbeitsämtern und Sozialämtern verbunden. Demzufolge ist eine eindeutige Zuständigkeit der Bundesanstalt für Arbeit zukünftig für alle Arbeitslosen vorzusehen, und zwar sowohl bei den Transferleistungen als auch bei den erforderlichen Maßnahmen zur aktiven Arbeitsmarktpolitik. Diese Vereinheitlichung der Zuständigkeit ist allerdings an folgenden Essentials auszurichten:

- Die soziale Sicherung der bisher und zukünftig auf Arbeitslosenhilfe angewiesenen Erwerbslosen muss nach dem bislang geltenden System erfolgen, d.h. sich am zuvor erzielten Verdienst mit den entsprechenden Quotierungen (53 % bzw. 57 %) ausrichten.

- Die jährlichen Kürzungen der Arbeitslosenhilfe um 3 % sind zurückzunehmen. Statt dessen sind regelmäßige Anpassungen der Lohnersatzleistungen in Höhe des Inflationsausgleichs vorzunehmen, wobei die Anrechnung von Vermögen und Partnereinkommen sowie die Abführungen an die Sozialversicherungen auf den gesetzlichen Stand vor 2003 zurückzuführen sind.

- In das neue Transferleistungssystem ist ein Grundsicherungsmodul zur Vermeidung von Sozialhilfeabhängigkeit bei Arbeitslosigkeit einzuziehen. Es soll allen Bedürftigen einen Lebensunterhalt deutlich über dem Niveau garantieren, das durch die bisherigen Regelsätzen im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) ermöglicht wird. Kostenträger dieser Leistung ist der Bund, der die Finanzierung aus Steuermitteln zu erbringen hat.

- Die Höhe der Grundsicherung ist so zu bestimmen, dass der allgemeine und soziokulturelle Lebensunterhalt für die Betroffenen - erforderlichenfalls auch für die Familie (Bedarfsgemeinschaft) - sowie zusätzlich die Beschäftigungsfähigkeit (Mobilität etc.) gewährleistet werden können, um Reintegrationsprozesse in den Arbeitsmarkt nicht zu blockieren. Grundsätzlich ist die Höhe dieser Leistung in Zukunft anhand eines Warenkorbmodells wissenschaftlich nachvollziehbar zu ermitteln, wobei übergangsweise zur aktuellen Umsetzung eine Orientierung an den Regelsätzen der Sozialhilfe zuzüglich entsprechender Pauschalzuschläge (ca. 15 % Zuschlag auf die gegenwärtigen Regelsätze der Sozialhilfe für die reguläre Grundsicherung) und spezifischer Mehrbedarfszuschläge (ca. 25 % Zuschlag für die Grundsicherung im ALG II) erfolgen kann.

- Die Parallelität und Konkurrenz arbeitsmarktpolitischer Förderstrukturen müssen in Zukunft durch eine verbindliche Kooperation zwischen den kommunalen und den Arbeitsmarktakteuren ersetzt werden. So sind die lokalen Kompetenzen der Kommunen einerseits und die instrumentellen Kompetenzen der Arbeitsverwaltung andererseits in regionalen Einheiten für Arbeit und Strukturentwicklung zu verbinden. Dies könnte endlich einer orts-, bürger- und wirtschaftsnahen Verzahnung von Arbeitsmarkt-, Sozial- und Strukturpolitik zum Durchbruch verhelfen, was aber auch eine verbindliche Verpflichtung der Kommunen zur sozialorientierten Beschäftigungsförderung (z.B. gem. § 18 BSHG) erforderlich macht.

5. Alternativen für Frieden, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit

Die aktuelle Zuspitzung weltpolitischer Interessengegensätze bis hin zum Krieg mag durch die Eigenlogik politischer Machtansprüche sowie ideologische Fundamentalismen unterschiedlicher Art vorangetrieben sein. Ihre entscheidende Ursache dürfte sie aber in einer Form der weltwirtschaftlichen Entwicklung haben, die beständig zu sozialen Spaltungen und wirtschaftlicher Unsicherheit führt.

So werden ganze Regionen gewaltsam von Fortschritten der Reichtumsproduktion ausgeschlossen und auf die Rolle von Rohstofflieferanten für die industrialisierten Zentren der Welt festgelegt; nötigenfalls mit militärischer Gewalt. Darüber hinaus führt die Konkurrenz zwischen den Handelsblöcken der reichen Industrieländer immer wieder zu Finanz- und Wirtschaftskrisen in allen Teilen der Welt. Schließlich erzeugen Maßnahmen zur Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit innerhalb aller Länder - hierin unterscheiden sich die armen nicht von den reichen Ländern - Arbeitslosigkeit und sozialen Zerfall. Damit entstehen Bedrohungsängste, auf deren Boden islamischer, aber auch christlicher und neoliberaler Fundamentalismus sowie die hiermit jeweils begründete Aggressionspolitik gedeihen können. Um solche Entwicklungen künftig zu vermeiden, ist eine Politik erforderlich, die allen Menschen Zugang zu ausreichenden Einkommen sowie ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit garantiert. Darüber hinaus müssen die krassen Ungleichheiten in der Höhe der Einkommen und bei den Entscheidungsbefugnissen über die Verwendung der gesellschaftlichen Produktivkräfte abgebaut werden.

In armen wie auch in reichen Ländern ist die Wirtschaftspolitik seit langem fast durchgängig von Privatisierungen, einseitiger Inflationsbekämpfung sowie der Kürzung öffentlicher Ausgaben einerseits und der Absenkung sozialer Standards andererseits geprägt. Um soziale Ungleichheiten zu verringern und Beschäftigung zu schaffen, ist demgegenüber eine politische Steuerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage vorzunehmen. Überproduktion sowie hieraus resultierende Arbeitslosigkeit stellen sich zwar als nicht-beabsichtigte Folgen privater Akkumulationsstrategien immer wieder ein, sie sind aber kein Naturereignis, sondern können politisch bekämpft werden.

Mit Blick auf die Entwicklung in Deutschland besteht das vordringliche Ziel alternativer Wirtschaftsentwicklung darin, das Abgleiten der Konjunktur in Deflation und Depression zu vermeiden, weil damit eine weitere dramatische Zunahme der Arbeitslosigkeit verbunden wäre. Darüber hinaus würde es jenen Kräften starken Auftrieb geben, die an einer weiteren Zerstörung der ohnehin massiv unter Druck stehenden sozialen Sicherungssysteme interessiert sind. Um dies zu verhindern, muss dem Mangel an privater Nachfrage dringend durch eine drastische Ausweitung der öffentlichen Ausgaben begegnet werden.

Öffentliches Investitionsprogramm

Zur Abwendung der gegenwärtigen Deflationsgefahr sowie zum Abbau infrastruktureller Defizite ist die umgehende Ausweitung öffentlicher Investitionen erforderlich. Sie sollten zunächst in erheblichem Maße durch öffentliche Neuverschuldung, mittelfristig aber über höhere Steuern finanziert werden. Ohne eine kräftige Steigerung der öffentlichen Investitionen lässt sich die Massenarbeitslosigkeit in absehbarer Zeit nicht spürbar verringern. Sie müssen auch deshalb langfristig erhöht werden, um die Versorgung mit öffentlichen Gütern und den Übergang zu einer ökologisch verträglichen Produktionsweise zu gewährleisten.

Konkret schlägt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik deshalb ein öffentliches Investitionsprogramm vor, das über einen Zeitraum von zehn Jahren jeweils 75 Mrd. EUR jährlich umfassen soll. Dieses Investitionsprogramm kann - ohne negative Konjunktureffekte - über Steuermehreinnahmen sowie auch über eine Ausweitung der öffentlichen Kreditaufnahme finanziert werden. Nach Berechnungen der Arbeitsgruppe kann der Fiskus jährlich bis zu 129 Mrd. EUR an zusätzlichen Steuern einnehmen. Erforderlich hierfür sind die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die Abschaffung des Ehegattensplitting, die Erhebung einer Börsenumsatz-, einer Spekulations- und einer Wertschöpfungsteuer sowie die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung. Mit Blick auf die aktuelle Konjunkturlage sollte das langfristige Investitionsprogramm für zwei Jahre durch kreditfinanzierte Zusatzausgaben in Höhe von jeweils 25 Mrd. EUR ergänzt werden.

Investitionsprogramm für mehr Beschäftigung

Sonderprogramm Aufbau Ost

Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur der Länder und Kommunen in Ostdeutschland

15,0 Mrd. EUR

Zielgerichtete Investitionsförderung für ostdeutsche Unternehmen

2,5 Mrd. EUR

Stadtentwicklungsförderung (einschließlich Rückbau) in Ostdeutschland

2,5 Mrd. EUR

Bildungs- und Kulturprogramm

Bildungsprogramm einschließlich Hochschulen

12,5 Mrd. EUR

Kultursonderprogramm

2,5 Mrd. EUR

Ökologisches Investitionsprogramm

Eisenbahninfrastruktur

10,0 Mrd. EUR

ÖPNV

7,5 Mrd. EUR

Regionale Bahnverkehre

5,0 Mrd. EUR

Modernisierung Wasserver- und -entsorgung

5,0 Mrd. EUR

Energieeinsparung Gebäude

10,0 Mrd. EUR

Kraftwerke/Energieforschung

1,25 Mrd. EUR

Regionalhilfen/private Wirtschaft/Produktdesign

1,25 Mrd. EUR

Insgesamt

75,0 Mrd. EUR

Die Kommunen sind durch die Steuersenkungen sowie die Sparpolitik des Bundes derzeit am stärksten von der Krise der öffentlichen Finanzen betroffen. Um akute Haushaltskrisen zu vermeiden und die Versorgung mit öffentlichen Gütern sicherzustellen, sollte der Bund ihnen sofort mindestens 10 Mrd. EUR zur Haushaltskonsolidierung zur Verfügung stellen. Darüber hinaus sollten 15 Mrd. EUR des öffentlichen Investitionsprogramms auf kommunaler Ebene ausgegeben werden. Damit sollen sowohl im Bereich der Pflege und der Entwicklung der Infrastruktur als auch bei der kommunalen Daseinsvorsorge zusätzliche Projekte umgesetzt und Arbeitslose beschäftigt werden. Beispielhafte Felder für solche Projekte sind die Schul- und Kindergartensanierung, die Dorferneuerung, die Sanierung von Spiel- und Sportstätten, die Pflege öffentlicher Grünflächen, Naturschutzmaßnahmen oder die Einrichtung von Stadtteiltreffs und Begegnungsstätten. Insbesondere in strukturschwachen Regionen können durch treffgenaue und effiziente Beschäftigungsförderung gesellschaftlich sinnvolle Arbeit vor Ort erschlossen bzw. dringende öffentliche Aufgaben erledigt werden. Nachhaltige Arbeitsmarktpolitik verfolgt den Auftrag, zuvor Ausgegrenzte in das Gemeinwesen wieder einzubinden, und bewirkt so Synergien für die Einzelnen und die Gemeinschaft.

Öffentliche Beschäftigung

Über öffentliche Investitionen kann nicht nur die Konjunktur stabilisiert, sondern auch langfristig die Beschäftigung erhöht werden. Es scheint aber völlig ausgeschlossen und ist auch nicht wünschenswert, dass die Arbeitslosigkeit alleine über ein höheres Wirtschaftswachstum abgebaut wird. Zusätzlich zu den öffentlichen Investitionen, die neben der Beschäftigung insbesondere den Übergang zu ökologisch tragfähigen Produktionsmethoden fördern, ist die Ausweitung öffentlich geförderter Beschäftigung erforderlich. Dies gilt nicht nur, weil hierdurch Arbeitsplätze geschaffen werden können. Zugleich gibt es viele Dienstleistungen, insbesondere im sozialen und kulturellen Bereich, die sich nur reiche Haushalte leisten können, wenn sie auf privaten Märkten angeboten werden. Das Bedürfnis nach und der Bedarf an solchen Diensten ist allerdings in allen Bevölkerungsschichten vorhanden und kann durch eine Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung auch befriedigt werden.

Der Stellenabbau im öffentlichen Dienst, der seit Jahren im Namen der Haushaltskonsolidierung betrieben wird, hat bereits heute zu einer Verschlechterung des Angebotes an öffentlichen Gütern allgemein, aber gerade auch bei den sozialen und kulturellen Dienstleistungen geführt. Dieser Stellenabbau muss nicht nur gestoppt, sondern umgekehrt werden. Schließlich sei auch auf die Möglichkeiten öffentlicher Beschäftigungsförderung außerhalb des öffentlichen Dienstes verwiesen, beispielsweise in gemeinwohlorientierten Unternehmen, Vereinen und Genossenschaften. Dies kann insbesondere für Langzeitarbeitslose, Ältere und Personen mit Vermittlungshemmnissen sinnvoll sein, die häufig weder im öffentlichen Dienst noch in der Privatwirtschaft die Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Zur Finanzierung öffentlicher Beschäftigung sollten aus den zusätzlichen Steuereinnahmen, die durch eine alternative Steuerpolitik zu erzielen sind, jährlich 30 Mrd. EUR verwendet werden.

Arbeitsmarktpolitik

Die Planungen der Bundesregierung laufen auf die komplette Abschaffung wichtiger Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik - Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen - hinaus. Kürzungen in erheblichem Umfang sind in diesem Bereich bereits vorgenommen worden. Wenngleich die aktive Arbeitsmarktpolitik vielfach nicht - wie ursprünglich erhofft - den Übergang von der Arbeitslosigkeit in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis ermöglicht, so sprechen dennoch gewichtige Argumente für deren Fortführung und Ausweitung. Erstens eröffnen sie Arbeitslosen die Möglichkeit, erworbene Qualifikationen im Arbeitsprozess zu erhalten und neuen technologischen Entwicklungen anzupassen. Zweitens verhindern sie die Vereinzelung, die Arbeitslose im Falle des ausschließlichen Bezuges passiver Lohnersatzleistungen häufig erfahren. Und drittens tragen die in ABM und Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM) erstellten Leistungen zu einer Erhöhung des Angebotes öffentlicher Güter bei. Anstelle der Abschaffung der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Umsetzung der Hartz-Pläne fordert die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik jährliche arbeitsmarktpolitische Zusatzausgaben in Höhe von 20 Mrd. EUR.

Arbeitszeitverkürzung

In Wirtschaftskrisen versuchen Unternehmen regelmäßig, längere Arbeitszeiten durchzusetzen. Die konjunkturbedingt ohnedies steigende Arbeitslosigkeit kann dadurch noch weiter ansteigen, weil ein gesunkenes Arbeitsvolumen auf weniger Köpfe verteilt wird. Doch nicht nur mit Blick auf die Konjunktur, sondern auch unter Berücksichtigung des langfristigen Anstiegs der Arbeitsproduktivität ist das Gegenteil erforderlich. Ohne Arbeitszeitverkürzungen wird es nicht möglich sein, allen Personen, die eine bezahlte Arbeit suchen, die Beteiligung am Arbeitsleben zu ermöglichen. Unter bestimmten Umständen können Lohnsubventionen sinnvoll sein, um Arbeitszeitverkürzungen ohne Einkommensverluste zu ermöglichen. Hierfür schlagen wir jährliche Ausgaben von 4 Mrd. EUR vor.

Entgegen den Arbeitszeitwünschen der Beschäftigten ist gegenwärtig eine extrem ungleiche Verteilung der individuellen Arbeitszeiten festzustellen. Während viele Beschäftigte erheblich länger arbeiten müssen, als sie möchten, finden viele andere, obwohl sie einen Vollzeitarbeitsplatz suchen, nur eine Teilzeitbeschäftigung. Neben einer Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit ist deshalb auch deren gleichmäßigere Verteilung zwischen den Beschäftigten nötig.

Zur Finanzierung alternativer Wirtschaftspolitik

Seit langem schon, aber erst recht unter den gegenwärtigen Bedingungen einer extrem schwachen Konjunkturentwicklung gelten Steuersenkungen als wirtschaftspolitisches Grundprinzip. Demgegenüber vertreten wir die Ansicht, dass mittelfristig ein höheres Steuerniveau notwendig ist. Nur so lassen sich die politischen Maßnahmen finanzieren, die unerlässlich sind, um dauerhaft mehr Beschäftigung zu schaffen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erforderliche soziale Sicherheit zu garantieren und die Versorgung der Gesellschaft mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten. Dieses höhere Steuerniveau kann dadurch erreicht werden, dass jene Einkommen und Vermögen stärker zur Finanzierung der gesellschaftlichen Aufgaben herangezogen werden, die bislang überhaupt nicht oder nur geringfügig belastet werden bzw. in den letzten Jahren zum Teil massiv entlastet worden sind. Aus diesem Grund wenden wir uns u.a. gegen die geplante Senkung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer. Es wurde von uns bereits mehrfach gezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, die Steuereinnahmen zu erhöhen, ohne hierdurch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weiter zu schwächen. Im Gegenteil können gezielte Steuererhöhungen zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben beitragen, die zu einer Zunahme der Gesamtnachfrage führen. Der nachfolgende beschäftigungsorientierte Haushalt zeigt, welche Steuermehreinnahmen von einer entsprechenden Politik erwartet werden können.

Alternativer beschäftigungsorientierter Haushalt

Einnahmen

Ausgaben

Vermögensteuer

14 Mrd. EUR

Öffentliche Investitionen

75 Mrd. EUR

Erbschaftsteuer

4 Mrd. EUR

Öffentliche Beschäftigung

30 Mrd. EUR

Abschaffung Ehegattensplitting

22 Mrd. EUR

Aktive Arbeitsmarktpolitik

20 Mrd. EUR

Börsenumsatzsteuer

9 Mrd. EUR

Arbeitszeitverkürzung

4 Mrd. EUR

Spekulationssteuer

17 Mrd. EUR

Wertschöpfungsteuer

13 Mrd. EUR

Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung

50 Mrd. EUR

Summe

129 Mrd. EUR

Summe

129 Mrd. EUR

Texte auf unserer Internetseite:

Arbeit, Umwelt, Gerechtigkeit - Beschäftigungspolitik statt Sparbesessenheit,
Sondermemorandum, September 1999

Vermögensbesteuerung für mehr Gerechtigkeit und mehr Beschäftigung,
Sondermemorandum, Dezember 1999

Gegen erfundene Sachzwänge: Für den Erhalt der solidarischen Rentenversicherung,
Sondermemorandum, September 2000

Beschäftigungspolitik statt Marktvertrauen - Alternativen gegen Abschwung und Sozialabbau,
Sondermemorandum, September 2001

Gesundheitspolitik: Solidarität statt Privatisierung und Marktorientierung,
Sondermemorandum, Juni 2002

Gegen weiteren Kahlschlag bei der Arbeitsförderung - Hartz-Konzepte lösen Misere auf dem Arbeitsmarkt nicht: Sozialstaatliche Alternativen für mehr Beschäftigung, Sondermemorandum, November 2002

Kontaktanschrift: Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Postfach 33 04 47, 28334 Bremen

email: memorandum@t-online.de; internet: www.memo.uni-bremen.de