Sozialpolitisches Godesberg oder Bankrotterklärung?

Die politische Klasse eint die Überzeugung, dass die Richtung der Politik stimmt. Was Schröder ein erneutes Mal "Eins zu Eins" umsetzen will, möchten Merkel und Stoiber nur schneller und ...

... konsequenter durchgesetzt sehen. Die Kontroverse reduziert sich darauf, was Schröder "Feinjustierung" nennt und die anderen als "Einknicken" gedeutet wissen wollen. Ein durch und durch geschichtsvergessener Club präsentiert sich da.
In einer "miesen Wirtschaftslage" das "Geld ausgerechnet bei den Arbeitslosen" holen zu wollen, charakterisierte der heutige Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement einmal als "Perversion des Denkens".[1] Doch wer an ein solches Urteil erinnert, wird als Traditionalist abgestempelt. "Vorwärts und Vergessen" lautet heute die Losung der 140 Jahre alten Partei.

Der frühere SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz feiert die Agenda als endliche Anerkennung einer neuen Theorie des Wohlfahrtsstaates und damit als Fundament einer neuen Strategie. Die Sozialdemokratie verharre nicht länger in einer strukturkonservativen Mentalität. Das Ziel "Vollbeschäftigung" müsse im digitalen Kapitalismus zur Funktionärsphrase verkommen. Ralf Dahrendorf zitierend behauptet er: "Die Wissensgesellschaft erweist sich als eine Gesellschaft des bewussten Ausschlusses vieler aus der modernen Arbeitswelt... Wir werden auf Dauer mit einer neuartig zusammengesetzten Unterklasse leben müssen, die wissensintensive Jobs entweder nicht bekommt, oder wegen der stark verdichteten Arbeit nicht will. Das Patentrezept 'Mehr Wachstum = Weniger Arbeitslosigkeit' geht in einer wissens- und kapitalintensiven Gesellschaft nicht auf."[2]

Für sich genommen laufen die wesentlichen Maßnahmen der Agenda 2010 - Zusammenlegung und Kürzung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, private Finanzierung des Krankengeldes, Erhöhung der Eigenbeteiligung bei den Krankheitskosten etc. - noch nicht auf die vollständige Zerstörung, wohl aber auf einen weiteren massiven Abbau des Sozialstaates hinaus. Entscheidend ist: Dieses sozialpolitische "Bad Godesberg" verändert die programmatische Grundlage der SPD grundlegend. Zur Begründung erklärt Bundeskanzler Schröder: "Die wesentlichen Institute unseres Sozialstaates - Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung - basieren auf der lange Zeit gültigen Annahme, dass der übergroße Teil unseres Wohlstandes in einer nationalen Industriegesellschaft erwirtschaftet wird, die aus sich heraus annähernde Vollbeschäftigung in geregelten Normalarbeitsverhältnissen gewährleistet. Diese Annahme können wir im Zeitalter der Globalisierung, des freien Verkehrs von Wissen und Kapital sowie drastischer Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Bevölkerungsstruktur nicht mehr voraussetzen."[3] Globalisierung sei keine Option, die wir annehmen oder ablehnen könnten. Sie bestimme unser Alltagsleben bis in jeden Winkel. Folglich müsse sich eine moderne Sozialdemokratie von den bisherigen Vorstellungen über ein soziales Gemeinwesen trennen. Soziale Gerechtigkeit heißt künftig: Es wird eine große Unterklasse geben; auch die sozialen, kulturellen Seiten eines Gemeinwesens werden künftig durch Unternehmen und Marktprozesse bestimmt.

Der SPD-Vorsitzende weiß die Mehrheit seiner Partei hinter sich. Eine gründliche Debatte wie noch zu Zeiten von Bad Godesberg (1959), als die Anerkennung der sozialen Marktwirtschaft und die Verabschiedung von jeglicher Sozialismuskonzeption anstand, gibt es nicht mehr. Der Sonderparteitag und die vorangegangenen Regionalkonferenzen waren letztlich nur ein Zugeständnis an die verbliebenen "traditionalistischen Träumer", keine Foren für eine um Klärung und Perspektiven bemühte Debatte.

Mehrheiten haben es an sich, relativ zu sein. In seiner in Umfragen auf 28% abgesackten Partei hat der Kanzler zwei Drittel der verbliebenen GenossInnen hinter sich. Befragt man jedoch die WählerInnen, die im September letzten Jahres noch einmal für die SPD gestimmt hatten, "glaubt eine Mehrheit von 54%, dass die Agenda 2010 in die falsche Richtung weist."[4] Nur eine Minorität der Bevölkerung schenkt den Versprechungen der Bundesregierung Glauben. "Dass von der Agenda 2010 sichtbare positive Effekte auf den Arbeitsmarkt ausgehen könnten, vermutet nur jeder Zehnte (11%)... An eine Belebung der Konjunktur glaubt im Zusammenhang mit der Agenda 2010 nur jeder Fünfte (20%)... Bezweifelt wird sogar, dass die geplanten weitreichenden Einschnitte zur Stabilisierung der sozialen Sicherung beitragen. Nur etwa jeder Vierte (24%) geht davon aus" (ebd.).

Frohlocken mögen die Unionsparteien über das wachsende Heer sozialdemokratischer NichtwählerInnen; aber auch die Erwartung in eine Unionsregierung schwindet, Kompetenzverluste muss auch die Opposition hinnehmen. Der Befund von Infratest dimap ist eindeutig: "Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Parteien geht zurück."

Wer vertritt künftig die 87% der Bevölkerung, die sich von der so einigen politischen Klasse keine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt erwarten, wer die 76%, die den Versprechungen in eine Belebung der Konjunktur keinen Glauben mehr schenken, wer die Zwei-Drittel-Bevölkerungsmehrheit, die befürchtet, dass soziale Unsicherheit weiter zunimmt? Um es klar zu sagen: Würde die Mehrheit der Gewerkschaften, würden diverse soziale Bewegungen und die Dissidenten in der SPD nicht - jeweils auf ihre Weise - gegen den Radikalumbau von Sozialstaat und Arbeitsmarkt mobilisieren, würde die Republik in kurzer Frist recht hilflos vor der Herausforderung einer kräftigen rechtspopulistischen Bewegung stehen.

Die Hetzkampagne der Merz und Westerwelle gegen die Gewerkschaften hat ein klares Ziel: Sie wittern Morgenluft, den Einfluss der nach wie vor größten Interessenvertretungsorganisation, die gegen die Deregulierung und Entzivilisierung des Kapitalismus mobilisieren kann, zu brechen. Aber mit der Durchlöcherung des Kündigungsschutzes, der Förderung von Niedriglohnsektoren, der inszenierten Spaltung von Beschäftigten und Arbeitslosen und der fortschreitenden Privatisierung von sozialer Sicherheit ist die Mehrheit der Schrumpf-SPD zwar nicht rhetorisch, aber strukturell auf dem gleichen Pfad. Der "Dritte Weg" der doppelten Inklusion - der Reichen, indem man sie besteuert, der Armen, indem man sie in die Arbeitsgesellschaft integriert - wurde verlassen. Nun folgt man dem Beispiel Tony Blairs und verändert die Rolle der Gewerkschaften in Gesellschaft und Partei radikal. Schröders Beharren, als Kanzler dem Gemeinwohl verpflichtet zu sein, zielt genau darauf, alle anderen zu selbstsüchtigen Vertretungsinstanzen von Partialinteressen zu degradieren. Ärztelobby, DGB, ADAC - wo ist da der Unterschied?

Es ist davon auszugehen, dass Schröder in machtpolitischen Fragen weiß, was er tut und warum er es tut. Der Bruch mit der eigenen Geschichte, den die SPD-Führung inszeniert, ist kein Betriebsunfall, kein in der Hitze des Gefechts begangener Irrtum, sondern strategisches Kalkül. Es ist ein radikaler Strategiewechsel in einer wirtschaftlichen Konstellation, die keineswegs durch den vermeintlichen "Sachzwang Globalisierung" vorgegeben ist, sondern durch die offenkundige Krise der neoliberalen Politik der Globalisierung geprägt ist. Oder in der Zusammenfassung der Neuen Zürcher Zeitung: "Es ist kaum mehr zu bezweifeln, dass die gegenwärtige schwere Finanz- und Sozialkrise mehr ist als eine der zyklischen Baissen, von denen moderne Volkswirtschaften und Gesellschaften immer wieder betroffen werden. Sie hat das ganze Spektrum des öffentlichen und privaten Lebens erfasst; kein Bereich wird mehr verschont... Gerade in Deutschland hat sich der Eindruck verbreitet, dass das Leben nach den jüngsten wirtschaftlichen und sozialen Erfahrungen nie mehr so sein werde wie zuvor."[5]

Die Agenda 2010 markiert keine Zielperspektive oder einen Punkt, den die modernisierte SPD gerne ansteuern würde. Sie bezeichnet einen Bruch mit der bisherigen Programmatik und verweist auf eine weitere Abwärtsspirale - also Bankrotterklärung. Was vorliegt, ist nur das erste Paket, im Herbst folgt mit der Feststellung eines noch gravierenderen Haushaltsnotstands das zweite. Und weitere werden folgen. Gewerkschaften und politische Linke lehnen diese Politik ab, weil sie nicht nur einen massiven Bruch von Wahlversprechen bedeutet, sondern weniger Beschäftigung, weniger soziale Gerechtigkeit, dafür mehr soziale Spaltung und Ausgrenzung zur Folge hat.

Nach dem Sonderparteitag nimmt der Druck auf Gewerkschaften und Sozialinitiativen zu, den "Dialog mit der SPD" wieder aufzunehmen. Dazu wird zum einen das Uralt-Argument des kleineren Übels bemüht - Jenseits von Schröder gäbe es nur die Alternative Merkel/Stoiber - und zum anderen eine Einladung zur Programmdebatte ausgesprochen, in der soziale Symmetrie neu durchbuchstabiert werden soll. Das eine ist eine Sackgasse, das andere Wolkenkuckucksheim. Die Alternative heißt Aufklärung, ökonomische und gesellschaftspolitische Alphabetisierung, Gegenöffentlichkeit.

Die sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Geschichte endet auch nicht nach dem 1. Juni 2003. Nach den Sommer-Avancen kommt der Eichelsche Herbst der neuen Zumutungen. Im Sommer (politisch) vorzubeugen, ist die beste Garantie, um im Winter nicht einzugehen.


Anmerkungen:

[1] Im Spiegel Nr. 38/1981; damals äußerte er sich als SPD-Pressesprecher zu Plänen der CDU/CSU-Opposition.
[2] Die Zeit, Nr. 20, vom 8.5.2003.
[3] Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Nr. 5/2003, S. 4.
[4] Infratest dimap: Deutschlandtrends, April 2003, Frankfurter Rundschau (FR) vom 2.5.2003.
[5] Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 17.5.2003.

aus: Sozialismus Heft Nr. 6 (Juni 2003), 30. Jahrgang, Heft 267