BAG Sozialhilfeinitiativen - Presseerklärung

in (30.06.2003)

Statement für die Pressekonferenz am 30.06.2003Erika Biehn, Vorsitzende der BAG Sozialhilfeinitiativen e.V.; eine von zwei Moderatorinnen des Runden Tisches der Erwerbslosen- und ...

... Sozialhilfeorganisationen
Sehr geehrte Damen und Herren,
Als das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 1962 in Kraft trat, löste es das Fürsorgerecht ab und ermöglichte so den Rechtsanspruch auf eine Leistung, auf die jede Person, unabhängig von den Gründen, weshalb sie in Not geraten war, einen Anspruch erhielt. Die Geldleistung glich dem Fürsorgerecht: zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, aber zumindest muss niemand verhungern.
Somit ist seit 1962 ein Gesetz in Kraft, das die Men-schen in ihrer Armut sichert. Dieses ist vom Grundsatz her anzuerkennen. Doch in der Praxis wird die Intention des Gesetzes eher umgekehrt. Denn "Hilfesuchende werden nicht als KundInnen, sondern eher als Störfaktor behandelt."
Ursprünglich war das BSHG für eine kleine Gruppe gedacht, mittlerweile nehmen Millionen Menschen BSHG Leistungen, insbesondere Hilfe zum Lebensunterhalt in Anspruch. Ursprünglich sollte eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht werden. Wenngleich die Teilhabe auch noch im Gesetz steht (..."das der Würde des Menschen entspricht"), dies war in der Realität nie wirklich umgesetzt. Heute hinken die Regelsätze nach verschiedenen Berechnungen zwischen ca. 10 und 30 Prozent hinterher. Denn nicht nur in den letzten Jahren wurde der Regelsatz gedeckelt.

Gerade in den letzten Jahren wurde der Druck und die Anforderungen an SozialhilfebezieherInnen ständig erhöht, einen Arbeitsplatz zu suchen und anzunehmen, obwohl nicht genügend Arbeitsplätze vorhanden sind. Die Sanktionen bei Ablehnung von Arbeit wurden deutlich verschärft. Dabei spielen oft genug die Gründe für die Nichterwerbstätigkeit wie z.B. die Erziehung von Kindern unter drei Jahren keine Rolle. Die "Hilfen zur Arbeit" werden in der Praxis dadurch immer häufiger zur Abschreckung und zur Versagung von Sozialhilfe genutzt.

Notwendig wäre es, dass SozialhilfebezieherInnen tat-sächlich das erhalten, was im Gesetz vorgesehen ist. Eine andere Forderung von Menschen im Sozialhilfe-bezug ist ein menschenwürdiger Umgang mit ihnen. Viele beklagen sich, dass sie im Amt behandelt würden, als seien sie der "letzte Dreck".
Ende 2002 lebten 2,7 Millionen Menschen von der Hil-fe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz. Eine große Gruppe der HilfebezieherInnen sind Alleinerziehende, die aufgrund nicht ausreichender Kinderbetreuung auf Sozialhilfe angewiesen sind. Eine weitere Gruppe sind Kinder unter 18 Jahren. Noch eine weitere Gruppe sind ältere bzw. erwerbsgeminderte Menschen, deren Rente nicht ausreicht und die daher keinen Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung haben. Schon heute bezie-hen ca. 80.000 Menschen trotz Vollzeiterwerbstätigkeit Sozialhilfe. Diese Zahl wird weiter steigen bei den zurzeit propagierten Niedriglöhnen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiati-ven verfolg den gegenwärtigen sozialpolitischen Kurs und die zugehörige Debatte mit großer Sorge. Aus unserer Sicht werden die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Politik zu sehr von der Fokussierung auf scheinbar ökonomischen Sachzwänge verdrängt.
Der große Mangel an Arbeitsplätzen in der BRD ist überwiegend systemimmanent und wird auch bei einer konjunkturellen Erhöhung der Wirtschaftsleistung durch die eingeschlagene "Reformpolitik" nicht kurzfristig zu beheben sein.
Durch Druck auf Arbeitslose entstehen keine neuen Jobs, sondern lediglich Existenzängste und der Zwang für viele, für Löhne zu arbeiten, von denen sie nicht le-ben können. Mit der weiteren Privatisierung von Risi-ken und Ausgrenzung von Leistungen sowohl im Bereich des Arbeitsmarkts als auch im Gesundheitswesen werden mehr Menschen in die Armut gedrängt. Die geplanten Maßnahmen in den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung kumulieren bei den ärmeren Schichten der Bevölkerung, bei den unteren, z.T. auch mittleren Einkommen. Insbesondere Frauen zahlen die Rechnung.
Auch über Leistungskürzungen bei den Arbeitslosen werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Außerdem wird niemand behaupten können, Kürzungen bei der steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe könnten den Faktor Arbeit verbilligen - worum es ja angeblich gehen soll.
Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe trifft insbesonde-re Arbeitslose mit Kindern, die bislang eine durch-schnittlich um 10 Prozent erhöhte Arbeitslosenhilfe er-halten haben und Arbeitslose, die in Lebens- und Ehe-gemeinschaften leben.
Die Kinder der Arbeitslosen werden zu Sozialhilfeemp-fängern. Bundesweit werden etwa 500.000 Kinder und Jugendliche betroffen sein. Welche Auswirkungen die-se Veränderungen auf die Lebenslagen der Kinder und ihre Bildungsmöglichkeiten sowie auf die Gesundheit haben werden, kann man in Armutsberichten von Bund, Ländern und Kommunen nachlesen.

Es greift zu kurz, wenn man die vom Bundeskanzler vorgeschlagenen Maßnahmen nur als Instrument zur Einsparung staatlicher Ausgaben versteht. Ziel ist es, durch die Absenkung von Sozialleistungen, die Erleichterung eines Zuverdienstes, den Zwang zu Mini-Jobs und die Abschaffung des Berufsschutzes für Arbeitslose einen breiten Niedriglohnsektor zu schaffen. Hier könnten, so die Spekulation, viele Arbeitsplätze entstehen, weil ArbeitnehmerInnen angesichts gekürzter Leistungen bereit wären, zu deutlich niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Das verbirgt sich hinter dem Stichwort von der "Aktivierung" der Arbeitslosen. Es werden an erster Stelle die Frauen, aber auch die besonders benachteiligten Gruppen und ältere Menschen sein, die für den neuen Niedriglohn-Sektor vorgesehen sind. Ein Niedriglohn-Sektor mit Arbeitsverhältnissen, bei denen der Lohn so niedrig sein wird, dass die Beschäftigten auf mehrere oder auf ergänzendes Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Es werden existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse in mehrere Mini-Jobs zerlegt um so die Sozialversicherungspflicht zu umgehen. Zusätzlich verschärfend wirkt sich der Wegfall der 15-Stunden Höchstgrenze für geringfügige Beschäftigung aus. Mini ist zukünftig nur das Einkommen und die soziale Absicherung, der Job selbst kann durchaus Maxi sein .

Weiteres Ziel ist es, die Leiharbeit salonfähig zu ma-chen und damit lange erkämpfte Rechte von Arbeit-nehmerInnen abzubauen, was die Unternehmensver-bände schon lange fordern: Das gesamte Lohnniveau soll dauerhaft gedrückt und die Kosten für soziale Sicherung sollen drastisch heruntergefahren werden, damit Produktionskosten weiter sinken und Profitraten gesichert sind. Demgegenüber kann aus den Erfahrungen in den Neuen Bundesländern der Schluss ge-zogen werden, dass in Niedriglohnregionen nicht au-tomatisch Arbeitsplätze und blühende Landschaften entstehen

Nach der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe droht die Abschaffung der Sozialhilfe in ihrer heutigen Form. Sind erst einmal alle Erwerbsfähigen ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld I in der neue Leistung Arbeitslosengeld II untergebracht, verbleibt eine relativ kleine Gruppe von LeistungsbezieherInnen in der Sozialhilfe. Sie sind faktisch von der Definition her dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, erfüllen aber gleichzeitig nicht die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Grundsicherung in Alter und bei dauerhafter Erwerbs-minderung. Es ist zu befürchten, dass dieses Problem im Rahmen der 2004 anstehenden Sozialhilfereform eher nebensächlich behandelt und beiläufig durch eine halbherzige Regelung vom Tisch gewischt wird. Geht es bei dieser Reform doch um viel Grundlegenderes.
Eine armutsfeste Absicherung des Lebensrisikos Erwerbslosigkeit ist eine unverzichtbare Voraussetzung für ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit.
Der Anspruch, allen Menschen eine Existenz in Würde zu ermöglichen, und das Solidarprinzip, das je nach Leistungsfähigkeit des Einzelnen einen sozialen Aus-gleich gewährleistet, müssen erhalten bleiben.