Empire? Kollektiver Imperialismus? SMK?

Anmerkungen zur Imperialismusdiskussion

1. Sie haben mit Ihrem Beitrag "Geschichte der Imperialismustheorie (bis 1945)", der im Supplement der Zeitschrift Sozialismus unlängst erschienen ist, einen Stein ins Rollen gebracht. ...

... Warum besteht erst jetzt das Bedürfnis, die Imperialismustheorie neu aufzurollen?
Die Diskussion um die Gültigkeit der (Leninschen) Imperialismustheorie hat eigentlich bereits 1989/90 mit dem Scheitern des "Realsozialismus" begonnen, als die gesamte marxistische Gesellschaftstheorie auf den Prüfstand der Geschichte gestellt wurde. Dabei richtete sich die Kritik vor allem gegen die Verknüpfung der Imperialismusanalyse mit einem Geschichtsdeterminismus, der den Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus und den staatsmonopolistischen Kapitalismus als die "unmittelbare Vorstufe des Sozialismus" charakterisierte. Es steht fest, dass die Leninsche Imperialismustheorie bestimmte Fehler und auch eindeutige Irrtümer enthielt, die durch die dogmatischen Interpretationen späterer Vertreter der Imperialismustheorie noch verstärkt wurden. Dessen ungeachtet muss man sich entschieden gegen eine pauschale Ablehnung der Imperialismusanalyse Lenins wenden. Es bleibt m.E. unbestritten, dass nicht nur die Grundaussage dieser Theorie, nämlich der Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus, ihre Gültigkeit bewahrt hat, sondern dass auch die darauf aufbauende Analyse des neuen Stadiums des Kapitalismus zum weit überwiegenden Teil durch die weitere Entwicklung des Kapitalismus bestätigt wurde.
Es ist nur natürlich, dass die Diskussion über den Imperialismus gegenwärtig, angesichts der Kriegsereignisse der letzten Jahre, der aggressiven Politik der USA und der blindwütigen Akte des internationalen Terrorismus, angefacht wird. Die Frage nach schlüssigen Konzepten und theoretischen Modellen zur Analyse des heutigen Imperialismus und nach Mitteln und Wegen zu dessen Bekämpfung gewinnt auf neue Weise an Bedeutung. Eine gewisse Rolle kann dabei auch die Diskussion um das Buch "Empire" von Hardt/Negri spielen, da es sich zu einem großen Teil mit imperialistischer Politik und Krieg in der Gegenwart beschäftigt.
2. Welche Bedeutung hat für Sie das Buch "Empire" von Michael Hardt und Antonio Negri? Haben die zwei Autoren eine Imperialismus-Diskussion in der Linken herausgefordert?
Das Buch enthält wertvolle Diskussionsanregungen und auch interessante Sichtweisen auf den heutigen Kapitalismus, die für die weitere Diskussion fruchtbar gemacht werden sollten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass das Konzept der Autoren für den Nachweis eines neuen Stadiums des Kapitalismus, des "Empire", sehr fragmentarisch bleibt und in sich widersprüchlich ist. Zudem leidet die Verständlichkeit der Darlegungen darunter, dass zentrale Begriffe des Konzepts - angefangen vom Begriff "Empire" - nicht klar bestimmt werden.
Die zentrale These des Buches lautet, dass wir es gegenwärtig mit dem Übergang vom Imperialismus zu einem neuen Stadium des Kapitalismus, zum "Empire", zu tun haben. Michael Hardt äußert sich zu dem Anliegen des Buches folgendermaßen: "Gerade den Begriff ‚Imperialismus‘ wollten wir kritisieren. Imperialismus setzt immer Nationalstaaten voraus, die nach der Weltmacht greifen. Im Empire ist das nicht mehr so - es gibt eine souveräne, netzartig organisierte Macht." (Michael Hardt, Freitag, Nr. 20, Berlin, 10.5.2002) Politische und ökonomische Macht habe keinen nationalstaatlichen Ort mehr, sie sei örtlich entgrenzt. Die Kontrollgewalt des Empire beruhe auf einer weltweit durchgesetzten Herrschaftslogik ohne örtliches Machtzentrum, die sich statt dessen in einem hochgradig dezentralisierten Apparat nationaler und supra-nationaler Organe und Körperschaften manifestiere. Das Empire könne man daher auch als "Nicht-Ort" beschreiben. Und Antonio Negri: "Was verstand man unter Imperialismus? Es war die Möglichkeit, ein Modell der Ausbeutung auf die internationale Ebene auszuweiten. Da das heute so vorbei ist oder besser, größtenteils vorbei ist, oder noch besser, tendenziell so gut wie vorbei ist - , kann man nicht mehr vom US-Imperialismus sprechen" (Antonio Negri, Jungle World, Dezember 2001, Berlin). So passt es in das Konzept vom Empire als überwundenem Imperialismus, dass die USA im Hinblick auf den Golfkrieg "als Weltpolizist ... nicht im Interesse des Imperialismus, sondern im Interesse des Empire" (handeln) und "dass die USA die einzige Macht waren, die für internationale Gerechtigkeit sorgen konnte, und zwar nicht aus eigenen Interessen heraus, sondern im Namen des globalen Rechts" (Hardt/Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Campus Verlag, 2002, S. 192) Der Vietnamkrieg wäre "als letzter Moment der imperialistischen Tendenz" zu betrachten (S. 190); heute seien die USA der "Friedenspolizist", von allen internationalen aber auch humanitären Organisationen gebeten, "die zentrale Rolle in einer neuen Weltordnung zu übernehmen" (S. 193).
Sicher lässt sich von diesen Zitaten nicht ein Urteil über das ganze Buch ableiten. Aber sie vermitteln doch einen gewissen Eindruck von der Widersprüchlichkeit des "Empire-Konzepts", und sie zeigen auch ein beträchtliches Maß an Abgehobenheit von den realen politischen Prozessen der Gegenwart. Es ist überhaupt zu vermerken, dass die Autoren sich bei keiner Grundaussage ihres Konzepts veranlasst sehen, empirische Fakten oder Daten beizubringen. Ich halte das Buch daher für keinen gelungenen Versuch, einen theoretischen Neuansatz für die Analyse des heutigen Kapitalismus zu formulieren. Ich finde sogar, dass es eher Verwirrung stiften kann, wenn es - wie einige eifrige Anhänger verkünden - als Beispiel einer modernen marxistischen Analyse gelten soll.
In ihrer Arbeit nehmen die Autoren auch eingehend Bezug auf die Imperialismustheorie Lenins, allerdings auf eine Art, die diese Theorie einseitig interpretiert und damit in den Dienst des Empire-Konzepts stellen soll. Insofern wäre das Buch auch ein Anlaß, sich mit dem wirklichen Gehalt der Leninschen Theorie zu beschäftigen.
3. Joachim Bischoff hat zuletzt auf der Konferenz des Marxistischen Forums der PDS "100 Jahre John A. Hobson ‚Der Imperialismus‘" kritisiert, die Verkürzung der Imperialismustheorie auf die ökonomische Dimension habe zu Defiziten in der politischen Theorie und zu einer "Krise des Marxismus" geführt. Können Sie das bestätigen? Oder ist es nicht gerade jetzt an der Zeit, auf die ökonomische Dimension der traditionellen marxistischen Imperialismustheorie aufmerksam zu machen?
Joachim Bischoff ist schon immer ein entschiedener Kritiker der Leninschen Theorie des Imperialismus gewesen. Insbesondere bestreitet er den Übergang zum Monopolkapitalismus als eine neue Stufe in der Entwicklung des Kapitalismus und die Herausbildung staatsmonopolistischer Formen. Er ist ein Verfechter des Fordismus-Konzepts und neigt in vielen Punkten der Regulationstheorie zu. In dieser Hinsicht liege ich mit ihm schon seit mehreren Jahrzehnten im Streite, während wir in vielen anderen Grundfragen als Marxisten durchaus übereinstimmen.
Bei dem unter der obigen Frage angesprochenen Zusammenhang zwischen Ökonomie und Politik verhält es sich etwas differenzierter. Wie aus meinen Antworten zu den folgenden Fragen dieses Interviews zu entnehmen ist, kritisiere auch ich seit längerem die in Lenins Konzept enthaltene zu direkte Ableitung imperialistischer Politik aus der monopolkapitalistischen ökonomischen Basis, und ich konstatiere ebenfalls ein Defizit in der Ausarbeitung einer marxistischen politischen Theorie. Insofern gibt es Übereinstimmung zwischen uns.
Zugleich aber kann ich Bischoffs einseitige Schlussfolgerungen hieraus nicht teilen. So behauptete er in der Debatte auf der Tagung des Marxistischen Forums, die Leninsche Imperialismustheorie und deren spätere Verfechter hätten als theoretischen Ansatz die Position Rosa Luxemburgs vom "Imperialismus als spezifische Methode der Akkumulation" vertreten (Marxistisches Forum, Heft 40/41, Berlin, Juli 2002, S. 17). Rosa Luxemburg war bekanntlich der Auffassung, daß der Akkumulationsprozeß des Kapitalismus in seiner hochentwickelten Phase nur durch die Ausbeutung noch nicht kapitalistischer Gebiete gesichert werden könne. Daher sei der Imperialismus "der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus". In diesen Formulierungen Rosa Luxemburgs ist ein direkter Zusammenhang zwischen dem Funktionieren des kapitalistischen Akkumulationsprozesses sowie Imperialismus, Rüstung und Krieg hergestellt. Diese Auffassung hat Lenin nicht geteilt, und auch die späteren Vertreter der Leninschen Imperialismustheorie hingen dieser Auffassung nicht an, im Gegenteil, sie wurde von ihnen kritisiert. Es trifft daher nicht zu, wenn Bischoff die folgende Behauptung aufstellt: "Charakteristisch für die jahrzehntelang dominierende Debatte um die Stadien- und Entwicklungsphasen der kapitalistischen Produktionsweise wurde die von Luxemburg formulierte Richtschnur" (Joachim Bischoff, Vom Imperialismus zur Weltunordnung ‚Empire‘, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 10/2002, Hamburg, S. 4). Ich kann Bischoff auch nicht zustimmen, wenn er meint, dass die Defizite bei der Ausarbeitung einer marxistischen politischen Theorie zur Krise des Marxismus geführt hätten. Die Ursachen hierfür liegen viel tiefer - eine davon war sicherlich der dogmatische Geschichtsdeterminismus von der Unvermeidlichkeit des Sieges des Sozialismus.
Bischoff verfällt in seiner weiteren Argumentation in das andere Extrem, indem er ökonomische Ursachen für imperialistische Expansion und Krieg quasi für zweitrangig oder gar unwesentlich hält. So heißt es bei ihm: "Selbstverständlich hatte die Aufteilung des Globus unter den Bedingungen der verschärften Konkurrenz der kapitalistischen Hauptländer immer auch irgendwo eine wirtschaftliche Dimension" (ebd. S. 5-6). Dieses "immer auch irgendwo" scheint mir doch eine wesentliche Untertreibung der Rolle ökonomischer Faktoren bei imperialistischer Aggression und Krieg zu sein, wenn man nur an den Golfkrieg und die gegenwärtigen Aggressionspläne der USA im Nahen Osten denkt. Im übrigen geht es bei dem Verhältnis von Ökonomie und Politik im heutigen Kapitalismus ja nicht nur um die Fragen äußerer Expansion und Kriege, sondern generell um die Bedingungen und gestaltenden Kräfte der Politik in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Und da muss angemerkt werden, dass gerade die SMK-Theorie wichtige Beiträge zum Verhältnis von Ökonomie und Politik im heutigen Kapitalismus - zumindest zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat - geleistet hat. Im Ergebnis gründlicher empirischer Forschung gelangte sie zu differenzierten Einschätzungen über die Eigenständigkeit politischer Prozesse sowie über die "relative Selbständigkeit" des Staates und über verschiedene Entwicklungsvarianten des SMK, die ganz und gar nicht dem Dogma einer direkten Ableitung der Politik aus der Ökonomie entsprachen.
Die bisherigen Defizite bei der Ausarbeitung einer marxistischen politischen Theorie können m.E. nicht in erster Linie dadurch überwunden werden, dass die Ökonomie als grundlegend bestimmendes Verhältnis in Frage gestellt wird, sondern es geht darum, die "vermittelnden Glieder" im Wechselverhältnis von Ökonomie und Politik zu untersuchen und die Eigenständigkeit politischer Prozesse in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu erkennen. Das beginnt wohl bei dem Verhältnis von ökonomischer und politischer Macht, vor allem zwischen Großkapital und Staat. Es war als erster Rudolf Hilferding, der bei seiner Arbeit über das Finanzkapital vor beinahe 100 Jahren nachwies, wie das Aufkommen von Monopolen und Finanzkapital neuartige Beziehungen zwischen Ökonomie und Politik hervorbringt: "Ökonomische Macht bedeutet zugleich politische Macht. Die Herrschaft über die Wirtschaft gibt zugleich die Verfügung über die Machtmittel der Staatsgewalt. Je stärker die Konzentration in der wirtschaftlichen Sphäre, desto unumschränkter die Beherrschung des Staates." (Rudolf Hilferding, Das Finanzkapital, Berlin 1955, S. 561). Mir scheint es notwendig, an diese Einschätzung zu erinnern.
4. Sie bemühen sich um eine "theoretische Durchdringung" des Imperialismus-Begriffes. Wie sind Politik und Ökonomie hier ins Verhältnis zu setzen?
In seinem historischen Ursprung bezeichnet der Begriff "Imperialismus" expansive politische Bestrebungen eines Weltreiches oder Kaiserreiches (imperium). Einen neuen Inhalt bekam dieser politische Begriff mit den Tendenzen nach einem Kolonialreich und verstärkten Rüstungen, die zum Ende des 19. Jahrhunderts bei allen kapitalistischen Mächten auftraten. England mit seinem Streben nach einem britischen Empire gab dieser neuen Politik den Namen. Historiker bezeichnen die Periode von 1875-1914 als "imperiales Zeitalter".
Lenin knüpfte bei der Ausarbeitung seiner Imperialismustheorie an die Imperialismusdebatte zur Jahrhundertwende an und wies in seinen Schriften vor dem ersten Weltkrieg häufig auf die "imperialistische Politik der Großmächte" oder "die Politik des Imperialismus" hin. Mit der Ausarbeitung seiner Hauptschrift zum Imperialismus zu Beginn des Krieges änderte er seine Position. Der Begriff "Imperialismus" diente ihm jetzt zur Gesamtkennzeichnung des Kapitalismus in seinem neuen Stadium, dem Monopolkapitalismus. Er bezog ihn auf die neue ökonomische Entwicklungsstufe des Kapitalismus, vor allem auf die Herausbildung der Monopole und des Finanzkapitals, und er schloss die internationale Expansion der Monopole, den Kapitalexport wie auch die koloniale Eroberungspolitik, den Kampf der kapitalistischen Mächte um die Neuaufteilung der Welt und die Unvermeidlichkeit imperialistischer Kriege in ihn ein. Das bedeutete, dass die neue Stufe in der Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation, der Übergang zum Monopolkapitalismus begrifflich mit den verschiedenen Aspekten imperialistischer Politik unter dem Gesamtbegriff "Imperialismus" zusammengefasst wurde. "Monopolkapitalismus = Imperialismus" (Lenin).
Daher schlussfolgerte Lenin vielfach in direkter Ableitung aus den objektiven Veränderungen in den ökonomischen Prozessen die Veränderungen in der Politik, in den Klassenbeziehungen. "Der freien Konkurrenz entspricht die Demokratie. Dem Monopol entspricht die politische Reaktion". "Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie", "geschlossener Übergang aller besitzenden Klassen auf die Seite des Imperialismus" und ähnliche Einschätzungen verdeutlichen diese Position Lenins. Es gibt bei ihm keine gesonderte Benennung oder gar Ausarbeitung einer imperialistischen Politik und letztlich auch kaum Spielraum für die Eigenständigkeit politischer Entwicklungsprozesse, die Differenzierung in der Politik einzelner Gruppen des Kapitals oder Schichten der herrschenden Klassen und die Bekämpfung des Imperialismus innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Bei der Behandlung des Imperialismus ist für Lenin die Politik vielfach ein direkter "Ausfluß" der Ökonomie.
Die ungenügende oder gar fehlende begriffliche Unterscheidung zwischen der neuen Stufe in der Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation, dem Übergang zum Monopol und imperialistischer Politik ist kein bloßer definitorischer Streit. Es darf nicht vergessen werden, dass eine rigorose Parteidogmatik jahrzehntelang die Thesen Lenins als sakrosankt erklärte und dadurch falsche und einseitige Orientierungen für die Forschung gab. Der Schaden wirkt sich noch heute aus, vor allem in einer völlig ungenügenden theoretischen Durchdringung und Ausarbeitung des Verhältnisses von Ökonomie und Politik und in einer nur sehr lückenhaften Ausarbeitung einer marxistischen politischen Theorie als wesentlicher Bestandteil der Kapitalismusforschung. Es wurde dabei auch unterschlagen, dass es in der historischen Imperialismusdiskussion bis zum Ersten Weltkrieg gewichtige Gegenargumente zu einem pauschalen Imperialismusbegriff gegeben hatte. Hilferding und auch Kautsky wandten sich dagegen, die neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus mit dem Begriff "Imperialismus" zu kennzeichnen. "Ära des Finanzkapitals" oder "neue Wirtschaftsphase" waren ihre Bezeichnungen in Abgrenzung zum Begriff "Imperialismus" als eine "besondere Art der Politik". Lenin hat als einziger den Begriff "Imperialismus" allumfassend und unterschiedslos zur Kennzeichnung des neuen Stadiums der kapitalistischen Entwicklung, der ökonomischen Basis wie auch der Politik des Kapitalismus in diesem Stadium gebraucht. Auch für Bucharin war der Begriff "Imperialismus" ein Begriff der Politik: "Der Finanzkapitalismus ist die geschichtlich umgrenzte Epoche der jüngsten Entwicklung des Kapitalismus, und der Imperialismus ist die Politik des Finanzkapitalismus in dieser Epoche".
Es besteht daher nach meiner Auffassung Klärungsbedarf bei der Bestimmung des Begriffes "Imperialismus". Zum einen geht es darum, die neue Entwicklungsstufe der ökonomischen Gesellschaftsformation präzis zu benennen. Dem Wesen einer formationstheoretischen Einordnung der neuen Etappe des Kapitalismus entspricht die Bezeichnung "Monopolkapitalismus" viel eher als der aus der Politik entlehnte Begriff "Imperialismus".
Dies wäre letztlich auch eine konsequente Anwendung der Leninschen Feststellung, dass die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol das ökonomische Wesen des Imperialismus wie auch den entscheidenden Grundzug der neuen Etappe des Kapitalismus ausmacht. Eine solche Kennzeichnung des Kapitalismus als "Monopolkapitalismus" wäre bis heute gültig, denn die Entwicklung zum staatsmonopolistischen Kapitalismus und dessen neue internationale Ausprägung seit dem Übergang zu den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind Entwicklungsstufen auf dieser monopolkapitalistischen Grundlage.
Eine weitere Frage wäre die begriffliche Unterscheidung zwischen der neuen Stufe in der Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation und einer bestimmten Politik. Es macht durchaus Sinn, den Begriff "Imperialismus" - seiner eigentlichen Herkunft und Bestimmung entsprechend - der Kennzeichnung einer bestimmten Machtpolitik der Staaten, einer Politik der Expansion, der Aggression, der Gewalt, Unterdrückung und Kolonialisierung vorzubehalten. Dementsprechend wären kapitalistische Mächte, die eine solche Politik betreiben auch weiterhin als imperialistisch bzw. - nationalstaatlich verfasst - als ein bestimmter "Imperialismus" ( US-amerikanischer Imperialismus, britischer Imperialismus usw.) zu bezeichnen. Zugleich würde auch eine differenziertere und damit wirksamere Verwendung des Begriffes "Imperialismus" möglich - genauso wie eine klarere Orientierung auf den Kampf zur Zurückdrängung einer solchen Politik.
5. Welchen Stellenwert räumen Sie nach wie vor der Imperialismusanalyse Lenins und Bucharins, sowie der daran anknüpfenden Theorie des SMK ein?
Nach wie vor besitzt m.E. die Imperialismusanalyse Lenins und Bucharins einen hohen Stellenwert. Dabei geht es weniger darum, die Grundthesen der Leninschen Imperialismustheorie, wie Monopolisierung, Kapitalexport, Finanzkapital u.a. mit aktuellen Fakten zu versehen und damit die Gültigkeit dieser Theorie nachzuweisen, sondern vor allem darum, das Leninsche Konzept als methodologisches Rüstzeug, Instrumentarium für die konkrete Analyse des heutigen Kapitalismus zu begreifen. Ich meine damit in erster Linie die Analyse und theoretische Verarbeitung gegenwärtiger Formen der Monopolisierung und finanzkapitalistischen Herrschaft, die heute nur noch in ihrer internationalen Verflechtung erfasst werden können. Dabei ist für mich die SMK-Theorie nach wie vor der am besten geeignete Ansatz. Zu diesem Schluss bin ich auch nach eingehender Beschäftigung mit dem "Fordismus-Konzept" und der "Regulationstheorie" gelangt. Die SMK-Theorie bietet den umfassendsten theoretischen Zugang zu den ökonomischen und politischen Prozessen der heutigen kapitalistischen Gesellschaft. Sie muss nur den in der Vergangenheit begangenen Fehler vermeiden, mit den staatsmonopolistischen Zusammenhängen die gesamte Gesellschaft erklären zu wollen. Mit den Ansätzen einer Untersuchung staatsmonopolistischer Internationalisierung in ihren regionalen, zwischenstaatlichen und internationalen Formen ist m.E. ein modernes Konzept vorhanden, die Rolle der transnationalen Monopole sowie die staatlichen Aktivitäten in ihren Zielsetzungen und widersprüchlichen Beziehungen zu erfassen.
6. Oft wird ja behauptet, Lenin habe gerade mal eine "literarische Zusammenfassung" einer abgeschlossenen Debatte über den Imperialismus und nach Hobson und Hilferding nichts neues mehr geliefert.
Lenin konnte sich bei der Ausarbeitung seiner Imperialismustheorie in der Tat auf die Ergebnisse einer mehr als zwei Jahrzehnte andauernden Imperialismusdebatte stützen. Neben Hobson und Hilferding leisteten Kautsky, Cunow und weitere Vertreter der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie wertvolle Beiträge. Erst eine spätere parteioffizielle Propaganda hat Lenin zu Unrecht faktisch zum alleinigen Schöpfer einer marxistischen Imperialismustheorie erklärt und dabei auch den Beitrag Bucharins unterschlagen. Es ist jedoch eine völlige Verkennung der theoretischen Leistung Lenins seinen Beitrag zur Ausarbeitung der Imperialismustheorie als bloße "literarische Zusammenfassung" der vorangegangenen Diskussion zu kennzeichnen.
Lenins Schriften enthalten den umfassendsten theoretischen Ansatz zur ökonomischen Analyse des Imperialismus. Er arbeitete heraus, dass es sich um eine neue Etappe in der Entwicklung des Kapitalismus handelte, die vor allem durch den Übergang vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum monopolistischen Kapitalismus gekennzeichnet war. Er richtete damit sein Hauptaugenmerk auf die neue Qualität in der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, des Kapitalverhältnisses. Damit knüpfte er an den Marxschen theoretischen Ansatz von der historischen Entfaltung der inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und dem Zwang zur Anpassung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse an die Erfordernisse der Produktivkraftentwicklung an. Dies ist ein wesentliches Moment für die Einheitlichkeit in der Methodologie der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Lenins Theorie verkörpert damit auch die Kontinuität in der marxistischen Theorieentwicklung. Die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus einschließlich ihrer Analyse staatsmonopolistischer Internationalisierung konnte hieran anknüpfen. Außerdem enthält Lenins Imperialismustheorie weitere - über die Monopoltheorie hinausgehende - theoretische Fragestellungen, die gerade heute für die Analyse der Internationalisierungsprozesse genutzt werden sollten, z.B. die Rolle der Ungleichmäßigkeit in der ökonomischen und politischen Entwicklung der kapitalistischen Länder.
7. Verfolgen Sie die Debatten in der DKP? Was ist von der These des "kollektiven Imperialismus" zu halten?
Ich habe die Debatte in der Zeitung "UZ" zum Begriff "kollektiver Imperialismus" mit Interesse zur Kenntnis genommen. Leo Mayer und Fred Schmid verstehen hierunter eine "imperialistische Allianz zur Sicherung der heutigen und künftigen Weltordnung eines global organisierten Ausbeutungssystems, die weitgehend den Charakter eines ‚kollektiven Imperialismus‘ aufweist. Das bedeutet nicht, dass es innerhalb dieses kollektiven Imperialismus keine Widersprüche, Interessenkonflikte und rivalisierende Strategien gibt - die gab es auch zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, doch wie damals sind das gemeinsame Ziel und die gemeinsame Bedrohung das überlagernde Moment, stehen die gleichgerichteten Interessen im Vordergrund." (UZ, 16. November 2001). Es seien vor allem drei neue Herausforderungen für den westlichen Metropolenkapitalismus, die ein gemeinsames, kollektives Interesse der imperialistischen Staaten bedingten: die Garantierung grenzenloser Bewegungsfreiheit für das transnationale Kapital, Absicherung des globalen Produktions- und Verwertungsnetzes und die Abwehr rückwirkender Bedrohungen sowie unbegrenzter Ressourcenzugriff und ungehinderte Ressourcenvernutzung. "Trotz aller Widersprüche, Konflikte und Rivalitäten zwischen den führenden imperialistischen Mächten verläuft die Hauptkonfliktlinie nicht zwischen diesen. Sie verläuft zwischen dem transnationalen Monopolkapital mit seinen Machtapparaten der imperialistischen Metropolen und dem Rest der Welt" (UZ, 8. Februar 2002). In der Diskussion wurden mehrere Einwände gegen den Begriff "kollektiver Imperialismus" vorgebracht. Die Autoren sind mit ihm auch nicht so recht glücklich und scheinen eher einer Bezeichnung "globaler Kapitalismus" oder "transnationaler Kapitalismus" zuzuneigen.
Ich kann mit den meisten Argumenten der Verfasser mitgehen, sehe jedoch ein wichtiges methodologisches Problem: Mir scheint, dass der Begriff "kollektiver Imperialismus" nicht besonders geeignet ist, sowohl die heutigen zwischenimperialistischen Beziehungen als auch gleichzeitig den sozialökonomischen Charakter des gegenwärtigen Kapitalismus ausreichend genau zu kennzeichnen. Die "Kollektivität" in den zwischenimperialistischen Beziehungen leitet sich bei den beiden Verfassern vornehmlich aus Gemeinsamkeiten in der Strategie und Politik des westlichen Metropolenkapitalismus gegenüber "dem Rest der Welt" ab. Dabei kommt m.E. zu kurz, dass sich die heutigen Beziehungen zwischen den Industrieländern auf eine neue Stufe der internationalen Arbeitsteilung gründen, die sich in einer wachsenden wechselseitigen Kapitalverflechtung ausdrückt. Diese ökonomische Interdependenz hat in den letzten Jahrzehnten zur Herausbildung eines festen "Sockels der wechselseitigen ökonomischen Abhängigkeit" geführt, der sich mit dem Voranschreiten der Internationalisierung weiter erhöht. Hinzu kommen neue Formen der Verflechtung von Monopolen und Staat auf internationaler Ebene, die mit einer Regulierung ökonomischer Prozesse verbunden sind. Gemeinsamkeiten und "Kollektivität" zwischen den Metropolenländern haben also feste objektive Grundlagen. Die Prozesse der wachsenden ökonomischen Verflechtung sind zugleich ein Feld scharfer Auseinandersetzungen und Rivalitäten und bringen neue Widersprüche und Konflikte hervor.
Schließlich wirken starke äußere Faktoren, die auf eine gemeinsame Interessenregulierung der Länder des Metropolenkapitalismus drängen: bis zum Ende der 80er Jahre die Existenz des Sozialismus, sowie das zunehmende Gewicht globaler Probleme, die weitere Ausbeutung der Dritten Welt. Auch sie sind zugleich Felder der Auseinandersetzungen und der Rivalität zwischen den kapitalistischen Hauptländern.
Der Kapitalismus bedurfte daher eines Mechanismus zur Austragung und Regelung der zwischenimperialistischen Widersprüche, Rivalitäten und Konflikte, in dessen Rahmen sich auch weiterhin der Stärkere durchsetzen konnte, aber zugleich auch der Erhalt des kapitalistischen Systems und die Weiterentwicklung der gegenseitigen ökonomischen und politischen Beziehungen gewährleistet waren. Die Gestaltung der zwischenimperialistischen Beziehungen unter diesen neuen Bedingungen charakterisierten Lutz Maier und ich in unserem Buch "Internationaler Kapitalismus" (Berlin 1987) als "regulierte Rivalität". In Abhängigkeit von den jeweiligen Kräfteverhältnissen zwischen den kapitalistischen Hauptländern entwickelt sich die Auseinandersetzung um den Typ dieser Regulierung der zwischenimperialistischen Beziehungen. Dabei kann man zumindest zwei Typen der regulierten Rivalität unterscheiden: den hegemonistischen Typ, bei dem die Formen der Beziehungen zwischen den kapitalistischen Staaten vollständig oder weitgehend von dem Führungsanspruch der stärksten imperialistischen Macht, den USA, geprägt werden und den kollektiven (oder konsortialen) Typ, bei dem eine mehr kollektiv organisierte Interessenregulierung zwischen den führenden kapitalistischen Staaten maßgeblich ist, die einem eigenständigem Einfluß der EU, Japans und anderer kapitalistischer Mächte bzw. Machtgruppierungen auf die internationalen Beziehungen mehr Raum lässt. Dies gilt auch und gerade für die Gestaltung der "äußeren" Beziehungen des Metropolenkapitalismus, zu den Entwicklungsländern oder zu "anderen Mächten" wie Russland, China und Indien, die bei dem Vorherrschen des "hegemonistischen Typs, d.h. bei einer bestimmenden Rolle der USA, anders verlaufen wird, als beim "kollektiven" Typ. Beide Typen wirken ständig als Tendenz, und je nach Lage der Kräfteverhältnisse überwiegt mal der eine oder der andere; gegenwärtig tendiert die Entwicklung wieder stärker in Richtung des hegemonistischen Typs. Das Attribut "kollektiv" im Zusammenhang mit dem heutigen Kapitalismus ist mir also keineswegs fremd. Ich gebrauche es aber eben nur zur Kennzeichnung eines bestimmten Typs der zwischenimperialistischen Beziehungen, nicht als generelle Kennzeichnung.
Die Beziehungen des Metropolenkapitalismus gegenüber "Dritten", vor allem dem Großteil der Entwicklungsländer, haben einen anderen Charakter. Relativ unabhängig vom Stand der zwischenimperialistischen Beziehungen bilden die Staaten des Metropolenkapitalismus eine gemeinsame Front zur "Aufrechterhaltung einer globalen Markt- und Profitdiktatur" (Renato Ruggiero) der transnationalen Monopole. Hier hat sich - anders als er es voraussehen konnte - Kautskys These von der Möglichkeit der Herausbildung eines "Ultraimperialismus" voll bestätigt. Wenn man heute die Beziehungen zwischen dem Metropolenkapitalismus und den Entwicklungsländern betrachtet, so kann man mit Kautsky durchaus von "einer gemeinsamen Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital" sprechen.
Bei Leo Mayer und Fred Schmid soll der Begriff "kollektiver Imperialismus" im umfassenden Sinn zur Kennzeichnung des Kapitalismus auf seiner heutigen Entwicklungsstufe dienen. Meine Ausführungen sollten zeigen, dass eine solche Kennzeichnung m.E. dem vielgestaltigen und widersprüchlichen Charakter des heutigen internationalen Kapitalismus nicht voll gerecht wird, selbst wenn wir sie nur auf die zwischenimperialistischen Beziehungen anwenden. Noch weniger taugt er dazu, die heutige sozialökonomische Entwicklungsstufe des Kapitalismus/Imperialismus historisch einzuordnen. Hierfür müssen wir die Entwicklung des Monopolkapitalismus, die weitere Anpassung der Produktionsverhältnisse an die Erfordernisse der Produktivkräfte unter den Bedingungen der Globalisierung untersuchen und zum Maßstab seiner Kennzeichnung machen: die weiter voranschreitende private Monopolisierung (transnationale Monopole) und die neuen Prozesse staatsmonopolistischer Internationalisierung. Diese Prozesse prägen den sozialökonomischen Charakter des heutigen Kapitalismus/Imperialismus, der eher mit den Begriffen "Staatsmonopolistische Internationalisierung" oder auch "Transnationaler Kapitalismus" zu kennzeichnen wäre.
* Der vorliegende Artikel beruht auf einem Interview, das in der Unitat WU (Wien) im Januar 2003 erschienen ist.