In den Vorgaben des Neoliberalismus

Die sogenannten Kompromisse zur Steuerpolitik werden nicht weit tragen. Die Rentenkürzungen stehen schon. Die Arbeitslosenunterstützung wird zur Sozialhilfe gemacht. Der Arztbesuch kostet Eintritt..

Herrlichen Zeiten werden wir entgegengeführt. Schaut man genauer hin, was die "Vordenker" des Kapitals so meinen, stellt man rasch fest: Dies alles ist erst der Anfang. Der "Druck" soll weiter erhöht werden: Sozialhilfe weiter reduzieren, noch mehr Leistungen abschaffen. In Berlin werden gerade wieder die Fahrpreise erhöht.
Daß das alles bisher so geht, hat vor allem zwei Gründe. Der eine ist die geistige Dominanz des Neoliberalismus. "Es gibt keine Alternative", ist ein Satz, den schon Frau Thatcher ständig im Munde führte. Es ist auch der Standardsatz von Gerhard Schröder. Der Mann in der S-Bahn murmelt nach dem Lesen der Bild-Zeitung zu seiner Frau, daß australische Steinkohle eben billiger sei, und man solle doch die ganze Kohleförderung in Deutschland einfach abschaffen. Daß derlei Preise manipuliert sind, hat man ihm nicht mitgeteilt.
In Polen zum Beispiel wurde die Bahn aufgefordert, subventionsfrei zu fahren, und so kostet der Transport einer Tonne Steinkohle aus Oberschlesien allein schon bis Szczecin so viel, wie eine Tonne per Schiff aus Australien. Der Berliner Wirtschaftssenator redet ebenso, wenn es um das Berliner Wasser geht: Es gäbe "keine Alternative" zu den Preiserhöhungen. Denken in den Vorgaben des Neoliberalismus.
Und damit sind wir bei dem zweiten Grund: der Schwäche der Gegenkräfte. Der Druck, den die Kapitaleigner von oben machen (lassen), müßte Gegendruck von unten zur Folge haben. Die Akteure aber verzetteln sich, kommen nicht zu ernsthaftem politischen Handeln. Alle wissen, daß die Europawahl 2004 nicht zuletzt in Deutschland für die Linken wichtig ist. Die PDS hatte eigentlich erkannt, daß hier ein Zeichen deutlich über der Fünf-Prozent-Marke gesetzt werden sollte. Das Gespräch mit anderen linken Kräften, das auf der Tagesordnung stehen sollte, wurde aber wohl nicht nachhaltig geführt. Man hätte ja zum Beispiel, wie bereits vor Monaten verschiedentlich diskutiert worden war, das Projekt offener "Linker Listen" der PDS, das Anfang der 1990er Jahre Erfolge hatte, wieder verfolgen können. Das wäre schon deshalb sinnvoll gewesen, um die anhaltende strukturelle und politische Schwäche der PDS im Westen zu kompensieren und dort ernsthaft Wahlkampf machen zu können.
Eine solche Verständigung wurde aber offensichtlich unterlassen. Statt dessen hat die DKP jetzt mitgeteilt, sie wolle mit Linken Listen antreten. Jemand in Berlin meinte, die bekämen ohnehin höchstens sechzigtausend Stimmen. Na und? Das könnten doch am Ende jene sechzigtausend Stimmen sein, die der PDS fehlen. Vielleicht sollten sie ja doch mal miteinander reden.
Die vielgerühmten sozialen Bewegungen geben derzeit auch kein besseres Bild ab. Die einen schlagen sich stolz vor die Brust, wie herrlich sie die - gewiß erfolgreiche und wichtige - Demonstration gegen Sozialabbau am 1. November in Berlin organisiert haben. Aus der Tatsache, daß die Gewerkschaftsführungen sich damals zurückgehalten hatten, folgern sie, daß auch künftig sie die Großorganisatoren sein sollten. Inzwischen aber ist etliches geschehen. Frank Bsirske von ver.di und Horst Schmitthenner von der IG Metall waren auf das Treffen der deutschen Teilnehmer am Pariser Sozialforum gekommen und hatten dort öffentlich gesagt, sie würden dafür sorgen, daß die deutschen Gewerkschaften sich an einem künftigen zentralen Aktionstag beteiligen. Inzwischen hat der Europäische Gewerkschaftsbund, nicht ohne Zutun der deutschen Gewerkschaften, beschlossen, daß am 2. und 3. April die europaweiten Aktionstage gegen Sozialabbau sein sollen. Auf dem Treffen der sozialen Bewegungen in Paris war das zentrale Datum bewußt offen gelassen worden. Jetzt aber ist es da.
Doch statt sich zu freuen, daß die "neuen" sozialen Bewegungen und die "alten" Gewerkschaften gemeinsam mobilisieren, um dem Kapital am Ende doch Grenzen zu setzen, wird gemurmelt, man wolle mit den Gewerkschaftsführern "auf gleicher Augenhöhe" reden. Worüber eigentlich, wenn nicht gemeinsam mobilisiert wird?
Auf europäischer Ebene eine analoges Bild. Auf der ersten Europäischen Versammlung, die zur Vorbereitung eines nächsten Europäischen Sozialforums zum 13. und 14. Dezember nach London einberufen worden war, weigerten sich die linken italienischen Gewerkschaften, bei einer Beschlußfassung der sozialen Bewegungen über den europäischen Aktionstag Bezug auf den Europäischen Gewerkschaftsbund zu nehmen. Mit Mühe kam ein Beschluß zustande, ebenfalls den 2. und 3. April als zentralen Termin zu setzen. Damit kann man zur gleichen Zeit gemeinsam mobilisieren, oder aber auch getrennt. In der Linken nichts Neues? Oder 2004 doch?

in: Des Blättchens 7. Jahrgang (VII) Berlin, 5. Januar 2003, Heft 1