Von der Sklaverei zur Masseneinkerkerung

Nicht eine, sondern mehrere "eigentümliche Institutionen" arbeiteten in der Geschichte der Vereinigten Staaten an der Definition, Einschließung und Kontrolle von Afroamerikanern. ...

... Die erste davon war von der Kolonialzeit bis zum Bürgerkrieg die chattel-Sklaverei1, die den Dreh- und Angelpunkt der Plantagenökonomie und die Ausgangsmatrix "rassischer" Trennung bildete (Stampp 1956; Berlin 1998). Die zweite war das Jim-Crow-System2 gesetzlich erzwungener Diskriminierung und Segregation von der Wiege bis zur Bahre, das die überwiegend agrarische Gesellschaft des Südens vom Ende der reconstruction bis zur Bürgerrechtsrevolution konservierte und erst ein volles Jahrhundert nach Aufhebung der Sklaverei überwunden wurde (Woodward 1957; Littwack 1999). Amerikas dritte Spezialvorrichtung für Kontrolle und Auschluss der Sklavennachkommen in den Industriemetropolen des Nordens war das Ghetto, das sich parallel zur Urbanisierung und Proletarisierung der Afroamerikaner von der Großen Migration zwischen 1914 und 1930 bis in die 1960er Jahre entwickelte, als es sich schließlich - wegen der simultanen Transformation von Wirtschaft und Staat sowie durch den wachsenden Protest der Schwarzen gegen ihren andauernden Ausschluss als Kaste, der seinen Höhepunkt mit den im Bericht der Kerner Kommission dokumentierten explosiven städtischen Aufständen erreichte - zum Teil als obsolet erwies (Spear 1968; Kerner Commission 1988). Die vierte Institution, so behaupte ich hier, ist der neue institutionelle Komplex aus den Resten des dunklen Ghettos und dem Gefängnisapparat, mit dem das Ghetto durch ein Verhältnis struktureller Symbiose und funktionalen Ersatzes verknüpft wurde. Dies bedeutet, dass Sklaverei und Masseninhaftierung genealogisch zusammenhängen und dass man letztere - hinsichtlich ihres Zeitpunktes, ihrer Zusammensetzung und ihres sanften Anfangs sowie hinsichtlich der stillen Ignoranz oder Akzeptanz ihrer schädlichen Wirkung auf die Betroffenen - nicht verstehen kann, ohne auf erstere als den geschichtlichen Anfangspunkt und das funktionale Analogon zurückzukommen.
Vor dem Hintergrund der gesamten historischen Entwicklung "rassischer" Herrschaft in den Vereinigten Staaten kann die krasse und wachsende Disproportionalität bei der Einkerkerung, die die Afroamerikaner seit drei Jahrzehnten trifft, verstanden werden als das Ergebnis der "außer-straflichen" Funktionen, die das Gefängnissystem im Kielwasser der Ghettokrise übernommen hat, und des fortbestehenden Stigmas, das die Sklavennachkommen qua Zugehörigkeit zu einer ihrer ethnischen Ehre (Max Webers "Massenehre") auf grundlegende Weise beraubten Gruppe belastet. Nicht die Kriminalität, sondern die Notwendigkeit, sowohl die bereits untergrabene Kastenspaltung als auch das im Entstehen begriffene Regime aus der Gesellschaft ausgegliederter Lohnarbeit zu stützen, für das die meisten Schwarzen mangels vermarktbaren kulturellen Kapitals bestimmt sind und dem die am stärksten Benachteiligten unter ihnen durch die Flucht in die illegale Straßenökonomie widerstehen, ist der Hauptimpuls hinter der erstaunlichen Ausdehnung des amerikanischen Strafstaats im postkeynesianischen Zeitalter und seiner de-facto-Politik "positiver Diskriminierung zusätzlich zur Einkerkerung" ("carceral affirmative action") von Afroamerikanern (Wacquant 1998; 1999, 71-94).
Die Vehikel der Arbeitsauspressung und Kastenspaltung
Amerikas ersten drei "eigentümlichen Institutionen", der Sklaverei, dem Jim-Crow-System und dem Ghetto, ist gemein, dass sie jeweils Instrumente sowohl für die Auspressung von Arbeit als auch für die soziale Ächtung einer ausgestoßenen Gruppe waren, die qua eines unauslöschlich ihr anhaftenden dreifachen Stigmas für anpassungsunfähig erachtet wird. Afroamerikaner kamen als Gefangene ins Land der Freiheit. Dementsprechend wurden sie in der selbst ernannten Wiege der Demokratie des Wahlrechts beraubt (was für die Bewohner der Südstaaten bis 1965 galt). Mangels erkennbarer nationaler Zugehörigkeit wurde ihre ethnische Ehre beschnitten, was bedeutet, dass sie, statt lediglich am unteren Ende der Rangordnung des Gruppenprestiges in der amerikanischen Gesellschaft zu stehen, von Anfang an von ihr ausgeschlossen wurden.3
1. Sklaverei (1619-1865): Sklaverei ist eine höchst formbare und vielseitige Institution, die für eine Reihe von Zwecken genutzt werden kann (Drescher/Engerman 1998). Auf dem amerikanischen Kontinent war das Eigentum an Personen aber vor allem auf die Bereitstellung und Kontrolle von Arbeitskraft abgestimmt. Ihre Einführung im 17. Jahrhundert in den US-Regionen von Chesapeake, Middle Atlantic und Low Country diente zur Rekrutierung und Regulierung unfreier Arbeitskräfte, die gewaltsam aus Afrika und den westindischen Inseln importiert worden waren, um in der Tabak-, Reis-, und gemischten Landwirtschaft eingesetzt zu werden. (Vertraglich verpflichtete Arbeiter aus Europa und indianische Eingeborene wurden wegen ihrer größeren Widerständigkeit und weil ihre Knechtschaft zukünftige Einwanderung behindert sowie das begrenzte Arbeitsangebot rasch erschöpft hätte, nicht versklavt.) Seit Ende des 18. Jahrhunderts war die Sklaverei in der Lage, sich selbst zu reproduzieren, und dehnte sich bis zur fruchtbaren Sichel des sich von South Carolina bis Louisiana erstreckenden inneren Südens aus, wo sie eine höchst profitable Arbeitsorganisation für die Baumwollproduktion und die Grundlage für eine Plantagengesellschaft bildete, die durch eine feudale Kultur, Politik und Psyche gekennzeichnet war (Wright 1978; Kolchin 1993).
Ein unvorhergesehenes Nebenprodukt der systematischen Versklavung und Entmenschlichung der Afrikaner und ihrer Nachkommen auf nordamerikanischem Boden war die Schaffung einer "rassischen" Kastenlinie, die trennte, was später mit "schwarz" und "weiß" etikettiert werden sollte. Wie Barbara Fields (1990) gezeigt hat, festigte sich die amerikanische Rassenideologie, die eine in der unflexiblen Anwendung der "Ein-Tropfen-Regel" und des hypodescent-Prinzips4 verankerte, biologische Spaltung unterstellte, um den offenkundigen Widerspruch zwischen menschlicher Unfreiheit und Demokratie aufzulösen. Der religiöse und pseudowissenschaftliche Glaube an "rassische" Differenz versöhnte die rohe Tatsache unfreier Arbeit mit der Doktrin naturrechtlich begründeter Freiheit, indem der Sklave auf lebendiges Eigentum reduziert wurde - was laut der heiligen Schrift der Verfassung drei Fünftel einer Person entspricht.
2. Jim Crow (Süden 1865 - 1965): "Rassische" Trennung war nicht die Bedingung, sondern die Konsequenz der US-Sklaverei; einmal eingerichtet, löste sie sich aber von ihrer ursprünglichen Funktion und erwarb gesellschaftliche Wirksamkeit sui generis. Die Emanzipation schuf daher ein doppeltes Dilemma für die weiße Südstaatengesellschaft: Wie kann die Arbeit ehemaliger Sklaven, ohne die die regionale Wirtschaft zusammenbrechen würde, von Neuem sichergestellt und der grundlegende Statusunterschied zwischen Weißen und "Farbigen" - also die nötige soziale und symbolische Distanz zur Verhinderung des Odiums der "Verschmelzung" mit einer als minderwertig, wurzellos und niederträchtig erachteten Gruppe - aufrechterhalten werden? Nach einem langen, bis in die 1890er Jahre dauernden Interregnum, während dessen die frühere weiße Hysterie zugunsten einer partiellen, wenn auch inkonsistenten Lockerung ethnorassischer Schließungen nachgelassen hatte und Schwarze wählen, öffentliche Ämter bekleiden und sich - insofern die durch die Sklaverei beförderte Intimität zwischen den Gruppen aufrechterhalten wurde, sogar bis zu einem gewissen Grade mit Weißen mischen durften - kam die Lösung in Form des Jim-Crow-Regimes. Es bestand aus einem Ensemble sozialer und rechtlicher Regeln, die die völlige Trennung der "Rassen" vorschrieben und die Lebenschancen von Afroamerikanern scharf begrenzten (Woodward 1955), während diese in einem Verhältnis überzogener Unterwerfung gebunden blieben, gestützt durch juristischen Zwang und terroristischer Gewalt von Weißen.
Dieses aus den Nordstaaten importierte und in den dortigen Städten erprobte Regime legte fest, dass Schwarze in gesonderten Zügen, Straßenbahnen und Wartehallen reisen, dass sie in den darktown5 Slums wohnen und (wenn überhaupt) in eigenen Schulen ausgebildet werden, dass sie ihre eigenen Dienstleistungseinrichtungen besuchen und ihre eigenen Toiletten und Trinkbrunnen benutzen, dass sie in separaten Kirchen beten, sich in separaten Clubs unterhalten und in Theatern in separaten "Negergalerien" sitzen, dass sie in getrennten Krankenhäusern medizinische Betreuung erhalten und zwar ausschließlich von "farbigem" Personal, und dass sie in separierten Zellen inhaftiert und auf separierten Friedhöfen begraben werden. Entscheidend war, dass sich bei der Verurteilung des "unsäglichen Verbrechens" interrassischer Heirat, "wilder Ehe" oder bloßer sexueller Zusammenkunft das Recht zu den Sitten gesellte, um so das "höchste Gesetz der Selbsterhaltung" der Rassen und den Mythos angeborener weißer Überlegenheit aufrechtzuerhalten. Das Plantagensystem blieb mit dem nach wie vor weißen Landbesitz und der Verallgemeinerung von sharecropping und Schulden-Peonage6 praktisch unberührt, während ehemalige Sklaven zur "abhängigen, eigentumslosen Bauernschaft [werden], formal frei, aber in der Schlinge von Armut, Ignoranz und der neuen Knechtschaft des Pachtverhältnisses gefangen" (Millen 1990, 126). Während sharecropping afroamerikanische Arbeiter an die Farm band, stellten starre Anstandsregeln sicher, dass Weiße und Schwarze nie auf Augenhöhe interagierten, nicht einmal auf der Laufbahn oder im Boxring; eine Verordnung von 1930 aus Birmingham, Alabama, erklärte es sogar für gesetzeswidrig, Schach oder Domino miteinander zu spielen.7 Immer wenn die "Farbenlinie" übertreten oder gar verschoben wurde, ergoss sich ein Sturzbach der Gewalt in Form periodischer Pogrome, Razzien des Ku Klux Klan und von Bürgerwehren, öffentlicher Prügelbestrafungen, Morde durch den Pöbel und Lynchmorde - jene rituellen Kastenmorde, die erfunden wurden, um "hochnäsige Neger" auf ihre zugewiesenen Plätze zu verweisen. All das wurde ermöglicht durch den schnellen und fast vollständigen Entzug des Wahlrechts für Schwarze sowie die Durchsetzung des "Negerrechts" durch Gerichte, die ihnen weniger effektiven Rechtsschutz gewährten als den Sklaven zu Teil geworden war, während sie noch Eigentum und Personen waren.
3. Ghetto (Norden, 1915-1968): Die nackte Brutalität der Kastenunterdrückung in den Südstaaten, der Niedergang der Baumwoll-Landwirtschaft auf Grund von Überschwemmungen und des Befalls durch den Baumwollkapselkäfer sowie die durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verursachte akute Arbeitskräfteknappheit in den Fabriken der Nordstaaten gaben den Anstoß dafür, dass Afroamerikaner massenhaft in die boomenden Industriezentren des Mittleren Westens und Nordostens abwanderten (über 1,5 Millionen zwischen 1910 und 1930, gefolgt von nochmals 3 Millionen zwischen 1940 und 1960). Aber als die Migranten aus dem Gebiet zwischen Mississippi und den Carolinas in Scharen in die Nordstaaten-Metropolen kamen, entdeckten sie nicht das gelobte Land von Gleichheit und voller Staatsbürgerschaft, sondern ein anderes System "rassischer" Schließung: das Ghetto, das, obwohl es weniger starr und Furcht einflößend war als der Ort, vom dem sie geflohen waren, nicht weniger umfassend und beschränkend war. Selbstverständlich ließen die größere Freiheit, öffentliche Räume zu nutzen und in normalen Einrichtungen zu konsumieren, das Verschwinden der demütigenden Schilder, die "Farbige" hierhin und "Weiße" dorthin wiesen, der neuerliche Zugang zu den Wahlurnen und zur Schutzfunktion der Gerichte, die Möglichkeit begrenzten wirtschaftlichen Vorankommens, die Entlassung aus persönlicher Dienstbarkeit und der Verlust der Furcht vor der allgegenwärtigen weißen Gewalt das Leben im städtischen Norden unvergleichbar erstrebenswerter erscheinen als die dauerhafte Leibeigenschaft im ländlichen Süden: Es war "besser ein Laternenpfosten in Chicago zu sein als der Präsident von Dixie", wie es Migranten gegenüber Richard Wright prägnant auf den Punkt brachten. Restriktive Verordnungen zwangen Afroamerikaner allerdings, sich in einem "schwarzen Gürtel" zu sammeln, der bald übervölkert, mit zu geringer Infrastruktur ausgestattet und von Verbrechen, Krankheit und Verfall gezeichnet war, während sie Barrieren auf dem Arbeitsmarkt auf die gefährlichsten, niedersten und unterbezahltesten Berufe in Industrie und Dienstleistungssektor verwiesen. "Soziale Gleichheit", verstanden als Möglichkeit, "Mitglied weißer Cliquen, Kirchen oder Vereine zu werden oder in ihre Familien einzuheiraten", wurde klar und deutlich verweigert (Drake/Cayton 1962, Bd. 1, 112-28).
Die Schwarzen hielten Einzug in die fordistisch-industrielle Ökonomie, für die sie eine lebenswichtige Quelle reichlich vorhandener und billiger Arbeitskraft darstellten, die willens war, sich ihren Boom- und Krisenzyklen zu unterwerfen. Aber sie blieben in einer prekären Position struktureller ökonomischer Marginalität und auf einen abgeschlossenen und abhängigen Mikrokosmos mit eigener interner Arbeitsteilung, sozialer Stratifizierung sowie Agenturen kollektiver Meinungsäußerung und symbolischer Repräsentation verwiesen: eine "Stadt in der Stadt" verankert in einem Komplex von schwarzen Kirchen und Presseorganen, Geschäfts- und Berufspraktiken, Bruderschaften und Gemeindeverbänden, der sowohl ein "Milieu für Negeramerikaner, in dem sie ihrem Leben einen Sinn geben konnten", als auch ein Bollwerk, "um das weiße Amerika vom ›sozialen Kontakt‹ mit Negern zu schützen" (Drake/Cayton 1962, Bd. 2, XIV), war. Andauernde Kastenfeindschaft von außerhalb und eine erneuerte ethnische Affinität innerhalb konvergierten und schufen das Ghetto als drittes Vehikel der Auspressung schwarzer Arbeitskraft zum materiellen und symbolischen Wohl der weißen Gesellschaft, während gleichzeitig die schwarzen Körper auf sichere Distanz gehalten wurden.
Die Ära des Ghettos als übermächtiger Mechanismus ethnorassischer Herrschaft wurde mit den städtischen Unruhen von 1917 bis 1919 (in East St. Louis, Chicago, Longview, Houston, etc.) eröffnet. Sie schloss mit einer Welle von Zusammenstößen, Plünderungen und Bränden, die hunderte amerikanischer Städte von Ost- bis Westküste erschütterten - angefangen mit dem Watts-Aufstand von 1965 bis hin zu den Wut-und-Trauer-Unruhen, die durch die Ermordung von Martin Luther King im Sommer 1968 ausgelöst wurden (Kerner Commission 1988). Dabei war das Ghetto Ende der 60er Jahre tatsächlich funktional überflüssig oder, genauer gesagt, zunehmend ungeeignet für die doppelte Aufgabe geworden, mit der Amerikas "eigentümliche Institutionen" historisch betraut waren. Hinsichtlich der Auspressung von Arbeit bedeutete die Verlagerung von einer städtisch-industriellen Ökonomie zu einer vorstädtischen Dienstleistungsökonomie und die damit einhergehende Dualisierung der Beschäftigtenstruktur zusammen mit der Zunahme der Arbeiterklassen-Einwanderung aus Mexiko, der Karibik und Asien, dass große Segmente der Beschäftigten, welche von den "schwarzen Gürteln" der Nordstaatenmetropolen aufgenommen worden waren, schlicht nicht mehr benötigt wurden. Hinsichtlich der ethnorassischen Schließung konnte die jahrzehntelange Mobilisierung von Afroamerikanern gegen die Kastenherrschaft in der günstigen politischen Konjunktur der durch den Vietnam-Krieg verursachten Krise und diverser sozialer Unruhen endlich den Bundesstaat erfolgreich dazu zwingen, die Rechtsmaschinerie des Kastenausschlusses zu demontieren. Ausgestattet mit geschützten Wahl- und Bürgerrechten wurden Schwarze schließlich volle Staatsbürger, die es nicht länger dulden würden, in die separate und minderwertige Welt des Ghettos abgeschoben zu sein.8
Während die Weißen die "Integration" zwar neidisch, aber vom Prinzip her akzeptierten, strebten sie in der Praxis jedoch danach, eine unüberbrückbare soziale und symbolische Kluft zu ihren Landsleuten afrikanischer Abstammung aufrechtzuerhalten. Sie verließen die öffentlichen Schulen, mieden den öffentlichen Raum und flohen millionenweise in die Vorstädte, um der Durchmischung zu entgehen und das Gespenst "sozialer Gleichheit" in der Stadt abzuwehren. Anschließend wandten sie sich gegen den Sozialstaat und diejenigen sozialen Programme, von denen der kollektive Aufstieg der Schwarzen am meisten abhing. Im Gegensatz dazu brachten sie enthusiastische Unterstützung für "law-and-order"-Maßnahmen auf, die versprachen, die städtische Unordnung, die wie selbstverständlich als "rassische" Bedrohung wahrgenommen wurde, streng zu ahnden (Edsall/Edsall 1991; Quadagno 1994; Beckett/Sasson 2000, 49-74). Solche Politiken verweisen auf eine weitere spezielle Institution zur Einschließung und Kontrolle wenn nicht der ganzen afroamerikanischen Community, so doch ihrer störendsten, verrufensten und gefährlichsten Mitglieder: auf das Gefängnis.
Das Ghetto als ethnorassisches Gefängnis, das Gefängnis als gerichtliches Ghetto
Um die tiefe Verwandtschaft zwischen Ghetto und Gefängnis fassen zu können9, aus der zu erklären ist, wie im letzten Vierteljahrhundert der strukturelle Niedergang und die funktionale Redundanz des einen zum Aufstieg und erstaunlichen Wachstum des anderen führten, ist es zunächst notwendig, das Ghetto genau zu beschreiben. Hier treffen wir auf die lästige Tatsache, dass es die Sozialwissenschaften versäumt haben, einen robusten analytischen Begriff des Ghettos zu entwickeln. Stattdessen gaben sie sich damit zufrieden, den im politischen und populären Diskurs der jeweiligen Epoche geläufigen Alltagsbegriff zu borgen. Dies hat ziemlich viel Verwirrung gestiftet, da das Ghetto nacheinander mit einem segregierten Bezirk, mit einem ethnischen Quartier, mit einem Territorium starker Armut oder Wohnungsnot und in jüngerer Zeit, parallel zum Aufstieg der mythenbasierten "underclass"-Politik sogar mit einer bloßen Ansammlung städtischer Pathologien und asozialen Verhaltens vermischt - und verwechselt - wurde.10
Eine historisch-vergleichende Soziologie über die den Juden vorbehaltenen Quartiere in den europäischen Städten der Renaissance und über Amerikas "Bronzeville" in der fordistischen Metropole des 20. Jahrhunderts zeigt, dass das Ghetto im Wesentlichen ein sozialräumliches Instrument ist, das es einer herrschenden Statusgruppe in städtischer Umgebung erlaubt, eine untergeordnete Gruppe gleichzeitig zu ächten und auszubeuten, indem diese mit negativem symbolischen Kapital ausgestattet wird, also mit der fleischgewordenen Eigenschaft, deren Kontakt kraft dessen, was Max Weber "negative, soziale Einschätzung der ›Ehre‹" (Weber 1922/1956, 683) genannt hat, als entwürdigend wahrgenommen wird. In anderen Worten: Es ist ein Verhältnis ethnorassischer Kontrolle und Schließung, das aus vier Elementen zusammengesetzt ist: 1) Stigma, 2) Zwang, 3) territoriale Einschließung und 4) institutionelle Einbettung. Die resultierende Formation ist ein deutlich abgegrenzter Raum, der eine ethnisch homogene Bevölkerung enthält, die sich gezwungen sieht, darin ein Set von miteinander verbundenen Institutionen zu entwickeln, die den organisatorischen Rahmen der umgebenden Gesellschaft, von der diese Gruppe ausgeschlossen ist, verdoppeln und das Gerüst für die Konstruktion ihres besonderen "Lebensstils" und ihrer besonderen sozialen Strategien liefern. Dieses parallele Netz von Institutionen bietet der untergeordneten Gruppe ein gewisses Maß an Schutz, Autonomie und Würde, allerdings um den Preis des Eingesperrtseins in einem Verhältnis struktureller Unterordnung und Abhängigkeit.
Kurzum, das Ghetto operiert als ethnorassisches Gefängnis: Es umschließt eine entehrte Kategorie und beschneidet in beträchtlichem Maße die Lebenschancen ihrer Mitglieder mit dem Effekt der "Monopolisierung ideeller und materieller Güter oder Chancen" (Weber 1922/1956, 686) durch die herrschende Statusgruppe, die in den Vororten wohnt. Erinnern wir uns zunächst, dass die Ghettos im frühmodernen Europa typischer Weise durch hohe Mauern mit einem oder mehreren Toren begrenzt waren, welche nachts abgeschlossen wurden und hinter welche sich Juden vor Sonnenuntergang bei Androhung harter Strafen zu begeben hatten (Wirth 1928, 32), und dass ihre Ummauerung der kontinuierlichen Überwachung externer Behörden unterlag. Nehmen wir dann die strukturellen und funktionalen Homologien mit dem als gerichtlichem Ghetto gefassten Gefängnis zur Kenntnis: Ein Untersuchungsgefängnis oder ein reguläres Gefängnis11 ist eigentlich ein vorbehaltener Raum, der dazu dient, eine auf legalem Weg verunglimpfte Bevölkerung zwangsweise einzuschließen und worin diese ihre unverkennbaren Institutionen, Kultur und befleckten Identitäten entwickelt. Es wird also aus denselben vier grundlegenden Bestandteilen und zu ähnlichen Zwecken geformt, die ein Ghetto ausmachen: Stigma, Zwang, physische Einschließung sowie organisatorischer Parallelismus und Isolation.
Ähnlich wie das Ghetto die Stadtbewohner wie ein "städtisches Kondom" - wie es Richard Sennett (1994, 237) in seiner Darstellung der "Angst vor der Berührung" im Venedig des 16. Jahrhunderts anschaulich ausdrückt - vor der Verschmutzung durch den Verkehr mit den befleckten, aber unvermeidbaren Körpern einer ausgestoßenen Gruppe schützt, reinigt das Gefängnis den sozialen Körper vom zeitweiligen Makel derjenigen Mitglieder, die Verbrechen begangen haben, also laut Durkheim derjenigen Individuen, die die sozialmoralische Integrität des Kollektivs verletzt haben, weil sie gegen "die starken und deutlichen Zustände des gemeinsamen Bewusstseins" (Durkheim 1893/1992, 206) verstoßen haben. Forscher über die "Insassen-Gesellschaft", angefangen von Donald Clemmer und Gresham Sykes bis hin zu James Jacobs und John Irwin, haben immer wieder darauf hingewiesen, dass die Eingekerkerten ihre eigenen Argot-Rollen, Austauschsysteme und normativen Standards entwickeln, ob als angepasste Erwiderung auf die "Qualen der Inhaftierung" oder durch den selektiven Import krimineller und Unterschichtswerte von außen - ähnlich wie die Ghettobewohner eine "separate Subkultur" ausgebildet oder intensiviert haben, um ihrer sozio-symbolischen Einmauerung entgegenzutreten (Drake/Cayton 1962, Bd. 2, XIII). Das sekundäre Ziel des Ghettos, die Ausbeutung der internierten Kategorie zu erleichtern, stand in "Besserungsanstalten", dem direkten historischen Vorläufer des modernen Gefängnisses, im Mittelpunkt und hat immer wieder eine zentrale Rolle für die Entwicklung und den Betrieb des letzteren gespielt (Spierenburg 1991).12 Schließlich ist sowohl das Gefängnis als auch das Ghetto eine behördliche Struktur mit inhärent zweifelhafter oder problematischer Legitimität, deren Erhalt durch den periodischen Rückgriff auf äußere Gewalt sichergestellt wird.
Als der "Rassen"- und Klassen-backlash gegen die demokratischen Fortschritte, die die sozialen Bewegungen des vorangegangenen Jahrzehnts erreicht hatten, in vollen Gang kam, kehrte das Gefängnis plötzlich in die vorderste Reihe der amerikanischen Gesellschaft zurück und bot sich als universelle und einfache Lösung für alle möglichen sozialen Probleme an. Das wichtigste dieser Probleme war der "Zusammenbruch" der sozialen Ordnung in der inner city13, ein wissenschaftlicher und politischer Euphemismus für die offensichtliche Unfähigkeit des "dunklen Ghettos", eine entehrte und überzählige Bevölkerung aufzunehmen, die fortan nicht nur als deviant und verschlagen, sondern im Licht der gewalttätigen städtischen Aufstände der 60er Jahre als ausgesprochen gefährlich eingestuft wurde. Während die Ghettomauern wackelten und einzustürzen drohten, wurden die Gefängnismauern entsprechend ausgedehnt, erhöht und befestigt. Die "Einschließung zur Herstellung von Differenz", die darauf zielte, Gruppen auseinander zu halten (die etymologische Bedeutung von segregare), gewann Vorrang gegenüber der "Einschließung zur Wahrung von Sicherheit" und der "Einschließung zur Herstellung und Wahrung von Autorität" - um die Unterscheidung zu benutzen, die von dem französischen Soziologen Claude Faugeron (1995) vorgeschlagen wurde. Nachdem das schwarze Ghetto durch den simultanen Abbau von Lohnarbeit und sozialem Schutz in ein Instrument der nackten Ausschließung umgebaut und durch die zunehmende Penetration des strafenden Armes des Staates weiter destabilisiert worden war, wurde jenes bald durch ein dreifaches Verhältnis funktionaler Äquivalenz, struktureller Homologie und kulturellen Synkretismus an das System von Untersuchungs- und regulärem Gefängnis rückgebunden, so dass beide nun ein einziges Kerkerkontinuum konstituieren, das eine redundante Bevölkerung jüngerer schwarzer Männer (und immer mehr Frauen) gefangen hält, die mit verheerenden persönlichen und sozialen Konsequenzen im geschlossenen Kreislauf zwischen ihren zwei Polen in einer Endlosschleife sozialer und rechtlicher Marginalität zirkulieren.14
Das Kerkersystem hatte zwar schon während eines früheren Übergangs zwischen zwei Regimen "rassischer" Herrschaft, nämlich zwischen der Sklaverei und Jim Crow in den Südstaaten, als Hilfsinstitution für die Erhaltung der Kasten und die Kontrolle der Arbeitskräfte fungiert. Nach der Emanzipation wurden die Gefängnisse in den Südstaaten über Nacht schwarz, als "Tausende ehemaliger Sklaven für Taten, die in der Vergangenheit allein vom Meister geahndet worden waren", und für die Weigerung, sich als Diener zu verhalten und die erniedrigenden Regeln "rassischer" Etikette zu befolgen, "verhaftet, abgeurteilt und schuldig gesprochen wurden" (Oshinsky 1996, 32). Als Antwort auf die wegen der "Negerverbrechen" ausbrechenden Moralpanik führten die ehemaligen konföderierten Staaten bald darauf die Innovation des "Sträflingsverleihs" ein, der den doppelten Vorteil besaß, wundersames Sondervermögen für den Staatssäckel generieren und überzählige unfreie Arbeitskräfte bereit stellen zu können, die die Felder bestellen, Deiche bauen, Eisenbahnschienen verlegen, die Sümpfe säubern und unter mörderischen Bedingungen in den Minen der Region graben würden.15 In der Tat spielte Gefängnisarbeit in Form des "Sträflingsverleihs" und dessen Erbe, die aneinander geketteten Strafgefangenen, während der progressiven Ära eine wichtige Rolle für den wirtschaftlichen Fortschritt des Neuen Südens, als dieser "die Modernisierung mit der Fortführung "rassischer" Herrschaft versöhnte" (Lichtenstein 1999, 195).
Was die "rassische" Vermittlungsleistung des heutigen Kerkersystems von der Sklaverei, Jim Crow und dem Ghetto der Jahrhundertmitte unterscheidet, ist, dass es keine positive ökonomische Mission zur Rekrutierung und Disziplinierung der Arbeitskräfte auszuführen hat: Es dient nur der Verwahrung der prekären und entproletarisierten Fraktionen der schwarzen Arbeiterklasse, sei es, dass sie wegen einer Kombination aus defizitärer Qualifizierung, Diskriminierung durch Arbeitgeber und Wettbewerb durch Einwanderer keine Beschäftigung finden können oder dass sie sich weigern, sich der Erniedrigung durch niedere Arbeiten in den peripheren Sektoren der Dienstleistungsökonomie - die die Ghettobewohner gemeinhin "Sklavenarbeit" nennen - zu beugen. Gegenwärtig gibt es aber sowohl wachsenden finanziellen und ideologischen Druck als auch neuerliches politisches Interesse, die Beschränkungen für Gefängnisarbeit zu lockern, um so (wieder) massenhaft ungelernte Arbeitskräfte in den Privatunternehmen amerikanischer Gefängnisse zu beschäftigen (Wacquant 1999, 82f): Die Mehrheit der Insassen zur Arbeit anzuhalten, sei ein Beitrag dazu, die "Kerkerrechnung" des Landes zu senken und die workfare-Verpflichtungen, die den freien Armen jetzt als Pflichten ihres Bürgerstatus auferlegt werden, wirksam auf die inhaftierten Armen auszudehnen.16 Das nächste Jahrzehnt wird zeigen, ob das Gefängnis ein Anhängsel ans "dunkle Ghetto" bleibt oder an dessen Stelle tritt und Amerikas vierte "eigentümliche Institution" wird.
Die Herstellung von "Rasse", der soziale Tod und der Aufstieg der "Gefängnisgesellschaft"
Die Sklaverei, das Jim-Crow-System und das Ghetto sind "Rassen"-produzierende Institutionen, d.h., dass sie nicht einfach eine ethnorassische Teilung bearbeiten, die irgendwie außerhalb und unabhängig von ihnen existieren würde. Vielmehr produziert (oder koproduziert) jede Institution diese Teilung (von neuem) aus ererbten Demarkationslinien sowie ungleicher Gruppenmacht und schreibt sie jeder Epoche als charakteristische Konstellation materieller und symbolischer Formen ein. Jede der Institutionen rassifiziert permanent die willkürliche Grenze, welche Afroamerikaner von allen andern in den Vereinigten Staaten absetzt, indem der historisch-kulturelle Ursprung dieser Grenze geleugnet und die Grenze statt dessen der fiktiven Notwendigkeit der Biologie zugeschrieben wird.
Die höchst eigentümliche Vorstellung von "Rasse", die Amerika erfunden hat und deren Rigidität und Konsequenz weltweit praktisch einzigartig sind, ist die direkte Folge des historischen Zusammentreffens von Sklaverei und Demokratie als Organisationsweisen des sozialen Lebens, nachdem die Sklaverei als Hauptform der Aushebung und Kontrolle von Arbeitskräften in einer unterbevölkerten Kolonie mit vorkapitalistischem Produktionssystem etabliert war. Das Jim-Crow-Regime hat die rassifizierte Grenze zwischen Sklave und Freiem umgearbeitet in eine rigide Kastentrennung zwischen "Weißen" und "Negern" - worunter alle Personen mit nachweisbar afrikanischen Vorfahren, egal wie minimal auch immer, gefasst wurden -, die jeden Winkel des sozialen Systems der Südstaaten nach dem Bürgerkrieg infizierte. Das Ghetto wiederum drückte diese Dichotomie der sozialräumlichen Formation und den institutionellen Schemata der industriellen Metropole auf - so sehr, dass die Begriffe "städtisch" und "schwarz" im Kielwasser der "städtischen Unruhen" der 60er Jahre, die in Wirklichkeit Aufstände gegen die sich überschneidende Kasten- und Klassenunterordnung waren, sowohl in der Politikformulierung als auch im Alltagsgebrauch fast synonym verwendet wurden. Und die "Krise" der Stadt stand schließlich für den fortbestehenden Widerspruch zwischen dem individualistischen und konkurrenzorientierten Tenor amerikanischen Lebens auf der einen Seite und dem dauerhaften Ausschluss der Afroamerikaner davon auf der anderen Seite.17
Am Beginn des neuen Jahrhunderts ist es Sache der vierten "eigentümlichen Institution", die aus dem Zusammenwirken von Kerkersystem und Hyperghetto entstanden ist, den sozialen Sinn und Stellenwert von "Rasse" entsprechend der Imperative der deregulierten Ökonomie und des post-keynesianischen Staates umzuformen. Zwar diente der Strafapparat schon lange als Komplize der ethnorassichen Herrschaft, indem er zur Stabilisierung eines in Frage gestellten Regimes oder zur Überbrückung der Kluft zwischen zwei aufeinander folgenden Regimen beigetragen hat. So dienten die "black codes" der reconstruction dazu, afroamerikanische Arbeitskräfte nach dem Niedergang der Sklaverei an Ort und Stelle zu halten, während die Kriminalisierung des Bürgerrechtsprotests in den Südstaaten in den 1950er Jahren darauf abzielte, den Todeskampf von Jim Crow hinaus zu zögern. Aber die Rolle der heutigen Kerkerinstitution ist eine andere, insofern als sie zum ersten Mal in der Geschichte der USA in den Rang der Hauptmaschine zur Herstellung von "Rassen" erhoben wurde.
Von den vielfältigen Effekten der Verbindung von Ghetto und Gefängnis zu einem erweiterten Kerkerkonglomerat ist der vielleicht folgenreichste das praktische Wiederaufleben und die offizielle Verfestigung der jahrhundertealten Verknüpfung von Schwarzsein mit Kriminalität und niederträchtiger Gewalt. Zusammen mit der Rückkehr Lombroso-mäßiger Mythologien vom kriminellen Atavismus und der weiten Verbreitung bestialischer Metaphern im journalistischen und politischen Feld (wo die Erwähnung von "Raubtieren", "Wolfsmeuten", "Tieren" und Ähnlichem alltäglich ist) liefert die massiv überproportionale Einkerkerung von Schwarzen eine wirkungsvolle common-sense Rechtfertigung für "den Einsatz von Farbe als Platzhalter für Gefährlichkeit" (Kennedy 1997, 136).
In den letzten Jahren autorisierten Gerichte die Polizei durchgehend, "Rasse" als "ein negatives Signal für ein erhöhtes Kriminalitätsrisiko" zu verwenden. Rechtswissenschaftler befürworteten dies hastig als "rationale Anpassung an die Demographie des Verbrechens", die durch die "Schwärzung" der Gefängnispopulation hervorgehoben und belegt wurde, obwohl eine solche Praxis vom Standpunkt der Verfassung zentrale Inkonsistenzen aufweist (Kennedy 1997, 143 u. 146). Im ganzen städtischen Strafrechtssystem wird die Formel "jung + schwarz + männlich" mittlerweile offen mit dem "wahrscheinlichen Fall" gleichgesetzt, der jedes Jahr die Verhaftung, Befragung, Durchsuchung und Haft von Millionen afroamerikanischer Männer rechtfertigt (Gaynes 1993).
In der Ära der auf "Rasse" ausgerichteten law-and-order-Politik und ihres sozio-logischen Gegenstücks "rassisch" asymmetrischer Masseninhaftierung ist das in der Öffentlichkeit herrschende Bild des Kriminellen nicht einfach das "eines Monstrums - ein Wesen, dessen Merkmale sich inhärent von unseren unterscheiden" (Melossi 2000, 311), sondern das eines schwarzen Monsters, da junge afroamerikanische Männer aus der inner city mittlerweile die explosive Mischung aus moralischer Entartung und Chaos personifizieren. Die Verschmelzung von Schwarzsein und Verbrechen in den kollektiven Repräsentationen und der Regierungspolitik - eine Gleichung, deren andere Seite die Verschmelzung von Schwarzsein und Sozialhilfe ist - reaktiviert also "Rasse" dadurch, dass dem Ausdruck anti-schwarzen Hasses in Form der öffentlichen Beschimpfung von Kriminellen und Häftlingen ein legitimes Ventil geschaffen wird. Der Schriftsteller John Edgar Wideman (1995, 504) macht darauf aufmerksam, dass
[e]s anständig ist, Kriminelle zu teeren und zu federn und dafür einzutreten, dass sie weggesperrt werden und der Schlüssel weggeworfen wird. Es ist nicht rassistisch gegen Verbrechen zu sein, obwohl der urtypische Kriminelle in den Medien und der öffentlichen Einbildung fast immer ›Willie‹ Hortons Gesichtszüge trägt. Schrittweise wurden ›städtisch‹ und ›Ghetto‹ zu Codewörtern schrecklicher Orte, wo nur Schwarze wohnen. Gefängnis wird rasant auf die gleiche isolierte Weise codiert.
Wenn es
in den Augen der Öffentlichkeit gleichbedeutend mit Kriminell-sein ist, ein farbiger Mann einer bestimmten ökonomischen Klasse und (eines bestimmten ökonomischen) Milieus zu sein, dann laufen die Verfahren des Strafsystems darauf hinaus, schwarz gemacht zu werden; ›Hinter-Gittern-sitzen‹ ist gleichzeitig ›Rasse-markieren‹ (Wideman 1995, 505).
An der Schnittstelle des deregulierten Niedriglohnarbeitsmarkts, des aufgemöbelten, für die Unterstützung von Gelegenheitsarbeiten vorgesehenen welfare-workfare-Apparats und den Überbleibseln des Ghettos ist das überzüchtete Kerkersystem der Vereinigten Staaten zu einem Hauptmotor eigenständiger symbolischer Produktion geworden, indem es eine zentrale Rolle für die post-keynesianische Regulierung von "Rasse" und Armut annimmt.18 Es ist nicht nur die herausragende Institution beim Anzeigen und Vollstrecken von Schwarzsein, ähnlich wie es die Sklaverei während der ersten drei Jahrhunderte der us-amerikanischen Geschichte war. Genau wie die Sklaverei den "sozialen Tod" importierter afrikanischer Gefangener und ihrer Nachkommen auf amerikanischem Boden (Patterson 1982) bewirkte, induziert die Masseneinkerkerung den zivilen Tod derer, die sie einfängt, indem sie sie aus dem Gesellschaftsvertrag hinaus stößt. Die Insassen von heute sind so das Ziel einer dreifachen Bewegung ausschließender Schließung:
1) Gefangenen wird der Zugang zu begehrtem kulturellem Kapital verwehrt. Just während Universitätszeugnisse zur Beschäftigungsvoraussetzung im (semi-)geschützten Sektor des Arbeitsmarktes werden, wurden Insassen von höherer Bildung ausgeschlossen, weil sie für Pell-Stipendien19 nicht mehr in Frage kommen - ein Ausschlussprozess, der 1988 bei Straftätern mit Drogendelikten angefangen hat, 1992 bei zum Tode oder zu lebenslanger Haft ohne Möglichkeit der vorzeitigen Entlassung bei guter Führung Verurteilten fortgeführt wurde und 1994 bei allen übrigen einzel- oder bundesstaatlichen Gefangenen sein Ende fand. Dieser Ausschluss wurde vom Kongress einzig und allein mit dem Ziel beschlossen, die symbolische Kluft zwischen Kriminellen und "gesetzestreuen Bürgern" zu akzentuieren, trotz überwältigender Belege, dass Bildungsprogramme im Gefängnis sowohl die Rückfallquote drastisch senken als auch zur Erhaltung der Kerkerordnung beitragen (Page 2001).
2) Gefangene werden systematisch von sozialer Umverteilung und öffentlicher Hilfe ausgeschlossen und das in einer Zeit, in der unsichere Beschäftigungsverhältnisse den Zugang zu solchen Programmen für die Bewohner der unteren Regionen des Sozialraums wichtiger denn je werden lassen. Gesetze verweigern jedem, der länger als 60 Tage in Haft war, Sozialhilfezahlungen, Hilfeleistungen für Militärveteranen und Lebensmittelgutscheine. Der Work Opportunity and Personal Responsibility Act von 1996 schließt außerdem die meisten Haftentlassenen aus der kostenlosen medizinischen Grundversorgung für Arme (medicaid), dem öffentlichen Wohnungssektor, dem Zugang zu Wohnberechtigungsscheinen (section 8 vouchers) und ähnlichen Formen der Hilfeleistung aus. Im Frühjahr 1998 brandmarkte Präsident Clinton die Tatsache, dass einige Gefangene (oder ihre Haushalte) wegen nachlässiger bürokratischer Durchsetzung dieser Verbote weiterhin öffentliche Zahlungen bekommen hätten, als untragbaren "Betrug und Missbrauch" gegenüber "arbeitenden Familien", die "nach den Regeln spielen". Stolz startete er eine "beispiellose lokale, einzel- und bundesstaatliche Kooperation sowie neue, innovative Anreizprogramme", die die neuesten "high-tech Instrumente zur Aussonderung jedes Insassen" nutzen, der immer noch Leistungen bezieht (Clinton 1998), einschließlich der Auszahlung von Prämien an diejenigen Landkreise, die beim Sozialministerium zügig Informationen zur Identifizierung von Untersuchungshäftlingen einreichten.
3) Sträflinge werden auf dem Weg des "Stimmrechtentzugs für Kriminelle" in einer Größenordnung und mit einer Schlagkraft wie in keinem anderen Land vorstellbar von politischer Beteiligung ausgeschlossen. Alle außer vier Mitgliedern der Staatenvereinigung verweigern den mental kompetenten Erwachsenen, die in Haftanstalten festgehalten werden, das Stimmrecht; 39 Staaten verbieten den auf Bewährung Verurteilten und 32 Staaten außerdem den Haftentlassenen die Ausübung ihrer politischen Rechte. In 14 Staaten werden ehemalige Straftäter sogar dann von Wahlen ausgeschlossen, wenn sie nicht mehr unter strafrechtlicher Aufsicht stehen - lebenslang in zehn dieser Staaten. Im Ergebnis haben fast vier Millionen Amerikaner die Möglichkeit, ihre Stimme abzugeben, zeitweise oder auf Dauer verloren, einschließlich 1,47 Millionen, die sich nicht hinter Gittern aufhalten, und noch einmal 1,39 Millionen, die ihre Strafe vollständig verbüßt haben (Fellner/Mauer 1998). Nur ein Viertel Jahrhundert nach Erhalt des vollen Wahlrechts wird landesweit ein schwarzer Mann von sieben durch den Wahlrechtsentzug qua Bestrafung aus der Wahlkabine ausgeschlossen und sieben Staaten verweigern mehr als einem Viertel ihrer schwarzen männlichen Bevölkerung dauerhaft das Wahlrecht.
Mit dieser dreifachen Ausschließung tragen das Gefängnis und allgemeiner das Strafrechtssystem zur laufenden Rekonstruktion der "imaginierten Gemeinschaft" der Amerikaner entlang der polaren Opposition zwischen hochgelobten "arbeitenden Familien" - implizit weiß, vorstädtisch und würdig - und der verachtenswerten underclass von Kriminellen, Faulenzern und Blutsaugern, einer doppelköpfigen asozialen Hydra personifiziert von der zügellosen jugendlichen "Sozialhilfemutter" auf der weiblichen Seite und dem gefährlichen "Bandenvergewaltiger" auf der männlichen Seite - per Definition dunkelhäutig, städtisch und unwürdig. Erstere werden als lebende Inkarnationen der echten amerikanischen Werte von Selbstkontrolle, aufgeschobener Gratifikationen und Unterwerfung des Lebens unter die Arbeit überzeichnet; letztere werden als abscheuliche Verkörperung der verachtenswerten Schändung dieser Werte, die für den Ausfluss einer im Eheleben und in der Arbeit verankerten Moralität gehalten werden, gescholten - als "dunkle Seite" des "amerikanischen Traumes" von Wohlstand und Chancen für alle. Und die Linie, die beide trennt, wird materiell und symbolisch zunehmend durch das Gefängnis gezogen.
Auf der anderen Seite dieser Linie befindet sich eine institutionelle Umgebung, die ihresgleichen sucht. Auf der Basis seiner gefeierten Analyse des alten Griechenland hat der klassische Historiker Moses Finley (1968) eine fruchtbare Unterscheidung zwischen "Gesellschaften mit Sklaven" und "echten Sklavengesellschaften" eingeführt. In ersterer ist die Sklaverei nur eine von mehreren Arten der Arbeitskräftekontrolle; die Trennung zwischen Sklave und Freiem ist weder undurchlässig noch zieht sie sich durch die ganze Gesellschaftsordnung. In letzterer ist die versklavte Arbeitskraft zentral sowohl für die ökonomische Produktion als auch für die Klassenstruktur und das Herr-Sklave-Verhältnis stellt das Muster bereit, wonach alle anderen sozialen Verhältnisse gebaut oder deformiert sind, so dass kein Winkel der Kultur, der Gesellschaft und des Selbst vom ihm unberührt gelassen werden. Die astronomische Überproportionalität von Schwarzen in Gebäuden der strafenden Einschließung und das zunehmend angespannte Ineinandergreifen von Hyperghetto und Kerkersystem legen nahe, dass Afroamerikaner wegen Amerikas Anwendung der Masseneinkerkerung als verquerer Sozialpolitik zum Zwecke der Disziplinierung der Armen und der Aufnahme der Entehrten heute nicht wie ihre weißen Landsleute in einer Gesellschaft mit Gefängnissen, sondern in der ersten echten Gefängnisgesellschaft der Geschichte leben.
Aus dem Amerikanischen von Erwin Riedmann
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1 ["Chattel" bedeutet bewegliches Eigentum - die Sklaven wurden als solches behandelt; Anm. d. Ü.]
2 Die Bezeichnung "Jim Crow" stammt aus einem Lied und einem Tanz gleichen Titels, das zuerst 1828 von Thomas Dartmouth Rice (1808-1860) aufgeführt wurde, einem populären fahrenden Schauspieler, der als Vater der minstrel-Darbietungen gilt, in denen ein schwarz geschminkter weißer Schauspieler den Tanz und Gesang afroamerikanischer Sklaven karikierte. Solche Darbietungen erfreuten sich sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in England großer Popularität und erreichten ihren Höhepunkt in dem Jahrzehnt, das zur Abschaffung der Sklaverei führen sollte.
3 "Unter den Gruppen, die gemeinhin als nicht assimilierbar angesehen werden, bildet das Negervolk bei weitem die größte. Anders als die Japaner und die Chinesen haben die Neger keine politisch organisierte Nation und keine akzeptierte eigenständige Kultur außerhalb Amerikas, auf die sie zurückgreifen können. Im Unterschied zum Orientalen haftet dem Neger die historische Erinnerung an Sklaverei und Minderwertigkeit an. Für sie ist es schwieriger, Vorurteile mit Vorurteilen zu erwidern und, wie vielleicht die Orientalen, sich selbst und ihre Geschichte als den weißen Amerikanern und ihren jüngsten kulturellen Leistungen überlegen anzusehen. Die Neger haben keine derart untermauerte Selbstachtung. Als untergeordnete Kaste, eine Kaste von Menschen, von denen angenommen wird, dass ihnen die kulturelle Vergangenheit fehlt und sie zu keiner kulturellen Zukunft fähig sind, sind sie hilflos eingesperrt" (Myrdal 1944, 54; Hervorhebung des Autors).
4 [Das Prinzip des hypodescent ordnet Kinder aus "gemischt-rassischen" Beziehungen automatisch der "Rasse" zu, der ein niedrigerer sozialer Status zugeschrieben wird; Anm. d. Ü.]

5 [Darktown, wörtlich "dunkle Stadt" oder "dunkler Stadtteil", bezeichnete nicht nur den segregierten Wohnort der dunkelfarbigen Bevölkerung, sondern auch deren unterstellte dunkle Machenschaften, Anm. d. Ü.]
6 [Sharecropping ist ein Teilpacht-System, bei dem die weißen Landbesitzer einen fixen Anteil von der Ernte der ansonsten formal freien schwarzen Landarbeiter beziehen, während Schulden-Peonage, ein Schuldendienst im wörtlichen Sinne, ein System bezeichnet, bei dem schwarze Landarbeiter ihre Schulden bei weißen Gläubigern abarbeiten müssen und solange an das Land des Gläubigers gebunden sind, Anm. d. Ü.]
7 In Mississippi ging die Gesetzgebung so weit, die Befürwortung sozialer Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen für ungesetzlich zu erklären. Ein Gesetz von 1920 belegte jeden, der "des Drucks, der Veröffentlichung oder der Verbreitung gedruckten, getippten oder geschriebenen Materials, das zur öffentlichen Akzeptanz von Argumenten oder Vorschlägen zugunsten der sozialen Gleichheit oder Mischehe aufruft oder dazu Informationen enthält, für schuldig befunden wurde" (zit. n. Millen 1990, 8f), mit einer Strafe von 500 Dollar und sechs Monaten Gefängnis.

8 Das war die Bedeutung der "Freedom Campaign" von Martin Luther King im Sommer 1966 in Chicago. Die Kampagne versuchte, die Techniken kollektiver Mobilisierung und zivilen Ungehorsams, die beim Angriff auf Jim Crow in den Südstaaten erfolgreich genutzt worden waren, im Ghetto anzuwenden, um "den langsamen, erstickenden Tod eines Lebens in einer Art Konzentrationslager" (M.L. King, zit. n. Oates 1982, 373), zu dem Schwarze in den Metropolen der Nordstaaten verurteilt waren, aufzudecken und dagegen zu protestieren. Die Kampagne "aus Chicago eine offene Stadt [zu] machen" wurde durch die Furcht erregende Kombination aus staatlicher Repression (angeführt von 4.000 Truppen der Nationalgarde), der Gewalt des weißen Mobs, ätzender medialer Denunziationskampagnen des Chicago Tribune und der Chicago Sun Times sowie wütenden Widerstands aus dem Rathaus, der Immobilienindustrie und den Gerichten schnell zunichte gemacht - alles mit der wissentlichen Duldung des Kongresses und des Weißen Hauses.

9 Man muss sich in Erinnerung rufen, dass die Kerkerpopulation ab Mitte der 70er Jahre nahezu zwei Jahrzehnte lang beständig gefallen ist, um 1975 den Tiefpunkt von 380000 Insassen zu erreichen. Führende Analytiker des Strafsystems, von David Rothman über Michel Foucault bis Alfred Blumstein, waren sich daher einig in ihrer Vorhersage der unmittelbar bevorstehenden Marginalisierung des Gefängnisses als Institution der sozialen Kontrolle oder im schlimmsten Falle der Langzeit-Stabilität der Haftstrafe auf einem historisch moderaten Niveau. Niemand sah die in den folgenden zwanzig Jahren bevorstehende Vervierfachung von Amerikas eingekerkerter Bevölkerung voraus. Dies wurde durch unkontrolliertes Wachstum erreicht, das die Zahl im Jahr 2000 über die Zwei-Millionen-Marke katapultiert hat, obwohl die Kriminalitätsrate über den gleichen Zeitraum stagnierte.
10 Für eine historische Rekapitulation der Bedeutung von "Ghetto" in der amerikanischen Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft siehe Wacquant (2000), der zur Diagnose gelangt, dass "Rasse" eigentümlicher Weise aus dem Ghetto-Begriff ausgetrieben wurde, obwohl dieser ausdrücklich zur Bezeichnung eines Mechanismus ethnorassischer Herrschaft entwickelt worden war. Das verknüpft ihn mit den sich wandelnden Interessen der staatlichen Eliten bezüglich des Nexus von Armut und Ethnizität in der Metropole.
11 [Jail, im Folgenden mit "Untersuchungsgefängnis" übersetzt, bezeichnet ein lokales, Kreis-, einzelstaatliches oder bundesstaatliches Gefängnis, in dem Untersuchungshäftlinge bis maximal ein Jahr verwahrt werden. Prison, im Folgenden mit "reguläres Gefängnis" übersetzt, bezeichnet ein einzel- oder bundesstaatliches Gefängnis, in dem abgeurteilte Gefangene ihre Strafe verbüßen. Der Aufenthalt im Untersuchungsgefängnis gilt auch unter Gefangenen als erträglicher als im regulären Gefängnis; Anm. d. Ü.]

12 In ihrer Darstellung des Londoner Bridewell, des Amsterdamer Tuchthuis und des Pariser Hôpital général schreiben Rusche/Kirchheimer: "Das Zuchthaus war im Wesentlichen eine Verbindung von Armenhaus, Arbeitshaus und Strafanstalt." (1939/1974, 63) Ihr Hauptziel war es, "die Arbeitskraft unwilliger Menschen sozial nutzbar zu machen", indem diese zur Arbeit unter strenger Aufsicht gezwungen wurden, in der Hoffnung, dass sie "sich dem Arbeitsmarkt freiwillig zur Verfügung stellen würden", wenn sie erst einmal entlassen sind.
13 [Inner city bezeichnet nicht die Innenstadt im hiesigen Sinn, die im Amerikanischen als downtown oder als central business district bezeichnet wird, sondern den häufig mehrheitlich von Schwarzen (und zunehmend von lateinamerikanischen Migranten) bewohnten Gürtel um die Innenstadt herum; Anm. d. Ü.]

14 Eine ausführlichere Diskussion dieser "tödlichen Symbiose" zwischen Ghetto und Gefängnis nach dem Ende der Bürgerrechtsära findet sich an anderer Stelle (Wacquant 2002).
15 Das ist nicht nur eine Redensart: Die jährliche Mortalitätsrate bei Häftlingen erreichte in den 1880er Jahren in Mississippi 16 Prozent, wo "nicht ein einziger verliehener Sträfling jemals lange genug lebte, eine Strafe von zehn oder mehr Jahren abzubüßen" (Oshinsky 1996, 46). Hunderte schwarzer Kinder, viele bis zu sechs Jahre jung, wurden zugunsten der Plantagenbesitzer, Geschäftsleute und Finanziers vom Staat verliehen und plagten sich unter Bedingungen, die sogar einige patrizische Südstaatler als beschämend und "einen Fleck auf unserem Menschsein" (ebd.) empfanden.

16 Expertenaussagen während der Diskussion des "Prison Industries Reform Act of 1998" vor dem Komitee für Justiz und Verbrechen des US-Repräsentantenhauses (beim Schreiben dieser Zeilen noch immer nicht verabschiedet) stellen explizit Verbindungen zwischen der Sozialhilfereform und der Notwendigkeit, private Gefängnisarbeit auszuweiten, her.

17 Zwei Indikatoren reichen aus, um auf die andauernde Ächtung von Afroamerikanern in der US-Gesellschaft aufmerksam zu machen. Sie sind die einzige "hypersegregierte" Gruppe, deren räumliche Isolierung von der Makroebene des Einzelstaates und des Landkreises bis zur Mikroebene der Gemeinde und der Nachbarschaft reicht und so Kontakte mit Weißen das ganze Jahrhundert über auf ein Minimum reduziert hat (Massey/Denton 1993; Massey/Hajnal 1995). Sie bleiben ungeachtet des jüngsten Wachstums so genannter multirassischer Familien zu einem Grad, der jeder anderen Gruppe unbekannt ist, von Exogamie ausgeschlossen. Weniger als drei Prozent schwarzer Frauen heiraten außerhalb (ihrer "rassischen" Kategorie) verglichen mit einer Mehrheit hispanischer und asiatischer Frauen (DaCosta 2000).
18 Das folgende Argument ist von Garlands neo-durkheimianischer Erläuterung der "Strafe als Set von Bedeutungspraxen" beeinflusst, die allgemein "dazu beitragen, Subjektivitäten, Autoritätsformen und soziale Verhältnisse herzustellen" (1991, 219).
19 [Pell-Stipendien sind Stipendien zur Finanzierung eines Studiums; Anm. d. Ü.]

Aus: Das Argument 252