Deutscher Kolonialismus und Vergangenheitspolitik

Editorial

Vor hundert Jahren, am 12. Januar 1904, begann der Aufstand der Herero gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Südwestafrika. Bereits zwanzig Jahre zuvor, am 15. November 1884, ...

... hatten die europäischen Kolonialmächte bei der Berliner Afrika-Konferenz auf Einladung von Reichskanzler Bismarck einen erheblichen Teil der kolonisierten Gebiete unter sich aufgeteilt.
Solche Jahrestage bieten sich für vergangenheitspolitische Initiativen mit Bezug auf den Deutschen Kolonialismus geradezu an. Schließlich lässt daraus besonders leicht moralischer Mehrwert schlagen. Der Generalanzeiger konnte daher am 14.1.2004 in seiner Ausgabe für Ostfriesland/Emsland/Oldenburg berichten: "Die Grünen haben in einem Schreiben an Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne) und an Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) die Umbenennung der Von-Lettow-Vorbeck-Kaserne in Leer gefordert. Die Kaserne dürfe nicht weiter nach einem Mann benannt sein, der als ‚Held von Deutsch-OstafrikaÂ’ für den Tod von über einer Million Afrikanern während des Ersten Weltkrieges mitverantwortlich sei, meint Mechthild Tammena, Kreisvorstand der Leeraner Grünen. Die Bundeswehr in Leer baut zurzeit das ‚Kommando Schnelle Einsatzkräfte SanitätsdienstÂ’ (KSES) auf. Dieser Truppenteil wird seine Einsätze in der ganzen Welt haben. Die Umgestaltung der Truppe sollte ein ‚willkommener Anlass sein, die Kaserne umzubenennenÂ’, meinen die Grünen. Der jetzige Name passe nicht zum Einsatzauftrag der Bundeswehr, sondern stelle sich dem entgegen, so Mechthild Tammena."

Mit ihrer Forderung bringen die ostfriesischen Grünen die traurigen Realitäten deutscher Erinnerungs- und Vergangenheitspolitik bezüglich des Kolonialismus recht gut auf den Punkt. Wenn überhaupt, dann werden die deutschen Kolonialverbrechen zu einem sehr späten Zeitpunkt thematisiert - dass die Kaserne erst jetzt umbenannt werden soll, zeugt vor allem von der langjährigen Ignoranz gegenüber dem Kolonialverbrecher Lettow-Vorbeck. Typisch für deutsche Vergangenheitspolitik ist auch die Fokussierung auf einzelne prominente Täter. Dabei mordeten im Deutschen Kolonialismus nicht nur einige wenige Elitesoldaten auf Anordnung einiger besonders schlimmer Befehlshaber wie Lettow-Vorbeck. Die Kolonialkriege in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika wurden vielmehr unter Beteiligung ganz normaler Soldaten und Siedler sowie mit mehrheitlichem Einverständnis der seinerzeitigen Öffentlichkeit geführt. Und nicht zuletzt ist die Dreistigkeit bezeichnend, mit der die Leeraner Grünen die Geschichte des Deutschen Kolonialismus nicht im geringsten zu Anlass nehmen, den "Einsatzauftrag" der Bundeswehr "in der ganzen Welt" kritisch zu hinterfragen.
Symbolische Umbenennungsaktionen sind genau das, was die liberale Öffentlichkeit (von der konservativen ganz zu schweigen) gerade noch an "Aufarbeitung" des Deutschen Kolonialismus zu ertragen bereit ist. Die Anerkennung der deutschen Schuld, inklusive materieller Wiedergutmachung zugunsten der Nachkommen und Nachfolgestaaten der Opfer, ist hingegen tabu. Als Außenminister Fischer im Oktober 2003 nach Namibia eingeladen war, äußerte er zwar sein persönliches "Bedauern" über die Kolonialverbrechen der Deutschen, vermied aber tunlichst jede "entschädigungsrelevante" Entschuldigung. Und als Bundeskanzler Schröder im Januar 2004 zum ersten Mal in seiner Amtszeit zu einer großen Afrikareise aufbrach, besuchte er kein einziges der Länder, in dem die Deutschen früher geherrscht, ausgebeutet und gemordet hatten.

Angesichts der Realitäten des Deutschen Kolonialismus ist Vergangenheits- und Erinnerungspolitik, die sich mit ihm befasst, nicht allein Aufgabe spezialisierter HistorikerInnen, sondern hoch aktuell. Denn seine Spuren wirken in der Gegenwart fort, auch wenn er aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wird. Der Kolonialismus hat das politische Denken und die kulturelle Identität der Deutschen in hohem Maße beeinflusst. Kolonialwaren, Kolonialliteratur oder Straßen- und Kasernennamen sind dabei nur die augenfälligsten Überbleibsel der Kolonialzeit. Weitaus bedeutsamer für das kollektive Bewusstsein ist die duale kolonialistische Sichtweise (weiß versus schwarz, zivilisiert versus unzivilisiert usw.), die bis heute in oftmals erstaunlich wenig modifizierter Form fortlebt. Die deutsche Gesellschaft ist daher nicht anders als die britische, französische oder spanische eine postkoloniale Gesellschaft.
Im ersten Teil unseres auf zwei iz3w-Ausgaben angelegten Themenschwerpunktes über Deutschen Kolonialismus und Vergangenheitspolitik beschäftigen wir uns vor allem mit dem Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika. Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwieweit eine direkte Spur vom Deutschen Kolonialismus zur Rassen- und Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus führt. Während unsere Autoren Reinhart Kößler und Henning Melber es für gerechtfertigt halten, von einer "Kontinuität in der Praxis des Völkermordes" zu sprechen, steht Birthe Kundrus dieser Kontinuitätsthese eher skeptisch gegenüber. Zu unterschiedlich seien Kolonialrassismus und Vernichtungsantisemitismus gewesen. Eines aber dürfte unstrittig sein: Die Debatte über die kolonialen Vorläufer der historisch singulären Vernichtungspolitik im NS darf nicht dazu führen, die Verbrechen der Deutschen zu relativieren oder gegeneinander auszuspielen.

die redaktion

aus iz3w 275 (März 2004) "Nicht vergeben, nicht vergessen - Deutscher Kolonialismus I"