Rede von Ulla Pingel

Europäischer Aktionstag: Auftaktkundgebung des DGB auf dem Breitscheidplatz am 3.4.2004 in Berlin

in (07.04.2004)

Europäischer AktionstagAuftaktkundgebung des DGB auf dem Breitscheidplatz am 3.4.2004 in Berlin

Vor zwei Jahren wurde uns versprochen, daß die Arbeitslosigkeit wie von Zauberhand halbiert werden soll durch die Schaffung von Personal Service Agenturen (PSA), Mini-Jobs und die Gründungen von Ich-AGs. Heute sind mehr Menschen erwerbslos als vor zwei Jahren. Durch die Mini-Jobs wurden eine halbe Million Arbeitsplätze im Einzelhandel vernichtet. Der Mini-Job wurde zum zweiten Job für Beschäftigte, die wenig verdienen. Existenzgründer und Ich-AGs landen in der Schuldenfalle. Die PSA waren ebenfalls ein Flop. Der Gipfel der Ignoranz gegenüber den Menschen, die verzweifelt einen Arbeitsplatz suchen, ist die Lüge, daß die Arbeitslosigkeit gesenkt werde durch eine schnellere Vermittlung der Job-Center.

Für über zwei Millionen Menschen und ihre Familien ist es eine soziale Katastrophe, daß die lohnorientierte Arbeitslosenhilfe abgeschafft wird und die Grundsicherung - das Arbeitslosengeld II - noch unter der Höhe der heutigen Sozialhilfe liegen soll. Eine Familie mit zwei Kindern im Alter von 10 und 13 Jahren erhält dann effektiv 80 Euro weniger als heute.

Mit dem ALG II wird das Armutsrisiko erhöht, die Ausgrenzung vom "normalen" Leben verschärft, und es vertieft sich die soziale Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Es wird gesamtgesellschaftlich betrachtet kein Entrinnen mehr aus dieser Armut geben.

Ein Mensch, der zwanzig Jahre gearbeitet hat und mit 42 Jahren erwerbslos wird, wird in Zukunft - obwohl er immer schön seine Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat - nach einem Jahr Arbeitslosengeld II erhalten, das heißt, er oder sie muß von 345 Euro leben. Darin enthalten ist eine Pauschale für Kleidung, Renovierung, Lernmittel usw.

Es erwartet ihn der totale Absturz ins Fürsorgerecht, d. h. die totale Durchleuchtung seiner finanziellen Mittel und die seiner Lebenspartner. Voraussetzung ist, daß er oder sie nichts gespart hat und bedürftig ist. Eine Frau, die mit ihrem Ehemann zusammenlebt, der noch einen Job hat und z. B. 1 000 Euro verdient, erhält nichts mehr. Sie hat auch keinen Anspruch mehr auf eine Weiterbildung oder eine ABM-Stelle, sie ist vollständig auf den Lebenspartner angewiesen. Das Gleiche trifft natürlich auch für Männer zu, die erwerbslos werden.

Ganze Familien werden in Sippenhaft genommen für die Tatsache, daß es in diesem Land nicht genug Arbeit gibt. Davon, daß Arbeitslose unter Druck gesetzt werden, ist noch kein neuer Job entstanden. Neben dem finanziellen Aspekt werden zukünftig Erwerbslose völlig ohne Rechte der Willkür ihres Betreuers/Fallmanagers ausgesetzt. Wir können gezwungen werden, über die Androhung der Leistungskürzung jede Arbeitsgelegenheit anzunehmen, damit ist kein sozialversicherungspflichtiger Job gemeint. Wir werden verdonnert zur billigen Pflichtarbeit mit einer minimalen Aufwandsentschädigung, einen Mini-Job anzunehmen und Jobs, die unterhalb vom Arbeitslosengeld II liegen. Jeder muß jeden Job annehmen, auch wenn niemals die Perspektive besteht aus dem Bezug von Arbeitslosengeld II herauszukommen.

Die Arbeitgeberverbände fordern schon seit längerem, daß die Sozialhilfe abgesenkt werden soll, um den Niedriglohnbereich auszuweiten. Diese Forderung wurde mit diesem Gesetz von der rot-grünen Regierung umgesetzt. Das Gesetz muß weg, es kann nicht sozialverträglich gestaltet werden, denn grundlegende Rechte von Erwerbslosen werden außer Kraft gesetzt, wie die Vertragsfreiheit (Eingliederungsvereinbarung) und der Datenschutz.

Auch das Arbeitsrecht wird für uns außer Kraft gesetzt durch den Zwang, eine "öffentliche Beschäftigung" ohne Arbeitsvertrag und Entlohnung annehmen zu müssen. Widerspruch gegen diesen gigantischen Sozialabbau wird als "reformunfähiges Beharren auf Einzelinteressen" gebrandmarkt. Das Einzelinteresse der Unternehmen an beabsichtigten Gewinnsteigerungen gilt in neoliberalen sozialdemokratischen und grünen Kreisen offenbar als "Steigerung des Gemeinwohls"!

In Berlin leben zur Zeit über 300 Millionen Menschen ohne Job, fast die Hälfte erhalten Arbeitslosenhilfe, 10 000 Berliner sind obdachlos. Diese Zahl wird rapide ansteigen. Ebenso die der Kinder, die in Armut leben. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe ist der schwerste und folgenreichste Einschnitt in das bundesdeutsche Sozial- und Rechtssystem!

Erwerbslose werden von der Bundesregierung und von der Opposition nur als Kostenfaktor betrachtet. Wir sind Menschen, die einen existenzsichernden Arbeitsplatz suchen und in Würde leben wollen, d. h. mit ausreichenden finanziellen Mitteln.

Wir sind heute aufgestanden, weil wir eine andere Politik wollen. Wir müssen aufrecht stehenbleiben und dafür kämpfen, daß diese unsozialen Gesetze der Agenda 2010 zurückgenommen werden.