Rede von Dorothee Fetzer

Europäischer Aktionstag: Abschlusskundgebung des DGB 3.4.2004 Berlin

Europäischer AktionstagAbschlusskundgebung des DGB 3.4.2004 Berlin

Ich habe die Stammkundennummer 214A629670 und begrüße alle anderen Stammnummern, Kundennummern, Aktenzeichenbesitzer und -besitzerinnen , sowie alle anderen Kolleginnen und Kollegen, die sich hier versammelt haben, um gegen die herrschende Politik und für die Interessen der Beschäftigten, der Erwerbslosen und ihrer Familien zu demonstrieren.
Grund genug gibt es allemal, denn die "Neujustierung des Sozialstaats" bedeutet einen politischen Systemwechsel - nämlich endgültig weg von dem schon durch die Kohl-Regierung arg geschundenen Sozialstaat mit seinen solidarisch und paritätisch finanzierten Leistungen. Die neue Politik führt zunächst zu einem Sozialhilfestaat, in dem Armut das Existenzniveau für viele Beschäftigte, Erwerbslose, Kranke, Alte und Kinder bilden wird. In weiterer Zukunft werden wir dann in einer Gesellschaft leben, bei der es bei längerer Arbeitslosigkeit keinerlei Unterstützung durch gesellschaftliche Sicherungssysteme geben wird. Wie in den USA dürfen wir dann bestenfalls auf Almosen aus privater Wohlfahrt hoffen.
Ein entscheidender Schritt in diese Richtung ist die von Bundestag und Bundesrat beschlossene Abschaffung der Arbeitslosenhilfe. Heute sind etwa 2 Millionen Erwerbslose auf diese Sozialleistung angewiesen. Ab Januar 2005 soll es dann das sogenannte Arbeitslosengeld II geben. Da aber die Anforderungen, um es zu bekommen, so hoch sind, werden nur etwa zwei Drittel der heutigen Arbeitslosenhilfebezieher dieses Arbeitslosengeld II erhalten. 800 000 Menschen werden leer ausgehen. Sie müssen sich irgendwie durchschlagen oder müssen sich von ihrer Familie aushalten lassen.
Sie müssen sich die Hacken nach irgendeiner Arbeitsmöglichkeit ablaufen , und seien die Arbeitsbedingungen noch so schlecht oder noch so schwarz.
Arbeitslosengeld II ist aber auch eine unwürdige Zumutung für diejenigen, die es erhalten. Denn sie werden in Arbeitsverhältnisse an der Grenze der Sittenwidrigkeit gezwungen. Das ist die alleinige Grenze nach unten. Ausbildung, Qualifikation, Tarif oder Existenzsicherung spielen keine Rolle. Es muß jede Arbeit angenommen werden, sonst wird ihnen das Geld zum Leben verweigert.
Für einen Euro die Stunde sollen Strassen und Parks gepflegt oder Kinder und Jugendliche beaufsichtigt werden. Es mehren sich die Stimmen, dass Langzeitarbeitslose in kommunalen Arbeitsgelegenheiten den Zivildienst ersetzen sollen. In diesem Rahmen sollen sie z.B. Kranke pflegen oder Schwerbehinderten assistieren. Die öffentliche Dienste werden dadurch zur Arbeitspflicht für Langzeitarbeitslose!
Die Arbeitsämter versuchen schon jetzt im Vorgriff auf den Fall der Zumutbarkeitsbeschränkungen, Arbeitslosenhilfebezieher/-innen in jeden Job zu drängen: z.B. in Clubs, Karaokebars, Erotikversandhandel oder in Vertreterjobs. Die Arbeitsamtbeschäftigten sind angewiesen, jede nur mögliche und unmögliche Sperrzeit zu verhängen. Hitlisten werden eingerichtet, mit dem Ziel sichtbar zu machen, wer in welcher Zeit wie viele Sperrzeiten verhängt, denn nach wie vor gilt das Motto der schnellen und passgenauen Vermittlung in keine Arbeit.

Desaströse Lebenssituationen entwickeln sich in den letzten zwei Jahren:
- Männer vom Bau und auf Montage campieren in Containerdörfern oder in Wohnwagen,
- vom Arbeitsamt in andere Städte Verwiesene wohnen zur Untermiete auf einer Matratze, weil Mietwohnungen unerschwinglich sind,
- Frauen gehen auf dem Strich, weil das Haushaltsgeld nicht ausreicht.
2005 wird diese Entwicklung noch getoppt, denn dann werden viele ihre Wohnungen verlieren und unter Brücken leben müssen.
Das Arbeitslosengeld II wird nämlich die Sozialhilfe qualitativ und quantitativ unterschreiten. Dabei hat die Bundesregierung im Jahr 2000 selbst noch in ihrem Armutsbericht festgestellt, dass man von Sozialhilfe nicht leben kann. Nun sollen Langzeitarbeitslose und ihre Familien gezwungen werden, unter diesem Niveau ihr Leben zu fristen. 345 bzw. 331 Euro neben der Miete stehen einem alleinstehenden Erwerbslosen im Monat zum Leben zu. Davon muß immer mehr bestritten werden. So ist z.B. seit Januar die Befreiungsklausel für die Zuzahlungen im Gesundheitsbereich für Arbeitslosen- und Sozialhilfebezieher/-innen ersatzlos gestrichen worden. Im öffentlichen Nahverkehr werden Sozial- und Arbeitslosentickets abgeschafft. Das alles muss künftig von diesen 345 bzw. 331 Euro bezahlt werden. Ab nächstem Jahr steht kein Geld mehr zum Qualifikationserhalt, für Mobilität oder für Beschäftigungssuche zur Verfügung. Ganz zu Schweigen von Reisen oder kultureller Betätigung.
Existenzbedrohend wird die Berücksichtigung der Miete sein. Denn die tatsächliche Wohnsituation soll nur für eine kurze Zeit relevant sein. Dann werden nur noch angemessene Wohnverhältnisse akzeptiert. Was darunter zu verstehen ist, wird zur Zeit im Finanzministerium diskutiert. Danach sollen für Alleinstehende 30 qm und 216 Euro als angemessen gelten. Da es solche Wohnungen nicht gibt, werden fast alle Erwerbslose in zu großen und zu teuren Wohnungen leben. Nach dem Gesetz fordert das Amt zum Umzug auf und nach einem halben Jahr wird dann nur noch der angemessene Mietanteil ausgezahlt. Mietschulden sind damit zwangsläufig und wer seine Miete nicht zahlen kann, wird fristlos gekündigt und zwangsgeräumt. Die Folge davon ist Obdachlosigkeit und ein Leben unter Brücken. In diesem Winter sind nach Presseberichten in Großbritannien, wo die Erneuerung des Sozialstaats schon vollendet ist, mehr als 40 000 Menschen gestorben, weil sie das Geld für Heizung nicht aufbringen konnten oder mangel- und unterernährt waren.

Viele Erwerbslose, Sozialhilfebeziehende und Einkommenslose sind zu sozialem und politischen Widerstand bereit. Wir unterstützen den Vorstoß von Frank Bsirske zu einem gesetzlichen Mindestlohn. Denn wer das Existenzminimum senkt, hat die Löhne im Visier. Beschäftigte und Erwerbslose haben deshalb die gleichen Interessen. Dazu gehört aber auch die ausreichende und garantierte Existenzsicherung während Erwerbslosigkeit. Denn die Existenz der Erwerbslosen ist akut bedroht.
Die Agenda 2010 und die Hartz - Gesetze müssen rückgängig gemacht werden, denn sie bedeuten für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Lebenszustände von 1910.

Unsere politischen Ansätze und Forderungen sind deshalb

- Jeder Mensch hat das Recht auf ein ausreichendes, garantiertes Mindesteinkommen ohne diskriminierende Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang.

- Jede/r Erwerbstätige hat einen Anspruch auf einen gesetzlichen Mindestlohn, der zum Leben reicht. Diese Rechte müssen für alle gelten, die ihren Lebensmittelpunkt in der Europäischen Union bzw. in der BRD haben.

- Statt Arbeitszeitverlängerung ist eine Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich sowie Neuverteilung von Arbeit und Einkommen unerläßlich.

- Die Unternehmen und Vermögenden müssen stärker zur Finanzierung der sozialen Sicherung und zur Schaffung gesellschaftlich sinnvoller Arbeitsplätze im Sozial-, Kultur- und Umweltbereich herangezogen werden.

Für unseren Lebensstandard und den unserer Eltern und Kinder sind wir alle verantwortlich. Lasst uns gemeinsam politischen Widerstand gegen die Politik der faktischen großen Koalition im Bund entwickeln und verstärken. Lasst uns gemeinsam in Bündnissen und Initiativen vor Ort weitere Aktionen verabreden und durchführen. Denn:
Eine andere Welt ist möglich und machbar!