Der Lern-Prozess

Das Frankfurter Auschwitz-Verfahren und die Linke

Herr Präsidentman soll in diesem Prozessauch nicht die Millionen vergessendie für unser Land ihr Leben ließenund man soll nicht vergessenwas nach dem Krieg geschahund was immer noch ...

... gegen uns vorgenommen wird Wir alle das möchte ich nochmals betonen haben nichts als unsere Schuldigkeit getan selbst wenn es uns oft schwer fiel und wenn wir daran verzweifeln wollten Heute da unsere Nation sich wieder zu einer führenden Stellung emporgearbeitet hat sollten wir uns mit anderen Dingen befassen als mit Vorwürfen die längst als verjährt angesehen werden müssten Laute Zustimmung von Seiten der Angeklagten Mit diesem Schlusswort des "Angeklagten 1" endet "Die Ermittlung", das "Oratorium in 11 Gesängen", in dem Peter Weiss - "ohne jede Zutat aus eigener Erfindung" - den Verlauf des Frankfurter Auschwitz-Prozesses verarbeitet hat. Die Ansicht, dass man sich, statt die Massenmörder vor Gericht zu stellen, "mit anderen Dingen befassen" sollte, war in der westdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahre weit verbreitet. Deshalb war der Auschwitz-Prozess nicht nur eine juristische Angelegenheit, sondern vor allem eine geschichtspolitische Tat gegen das gewollte Vergessen. Micha Brumlik, Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, spricht sogar von einem "Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik". Durch diesen Prozess, schreibt Brumlik, "der - mitten im Kalten Krieg - nicht zuletzt durch eine Zusammenarbeit mit dem kommunistisch regierten Polen möglich wurde, bekam das Böse plötzlich Namen und Gesicht, Alter und Adresse. (...) Was die westdeutsche Gesellschaft verdrängte, was ihre Politik nicht vermochte und wozu die Geschichtswissenschaft damals weder willens noch fähig war, nämlich den von Deutschen begangenen industriellen Massenmord konkret aufzuklären, das übernahm die Justiz." (Frankfurter Rundschau, 27.9.2002)

Antifaschismus galt in der BRD als "zersetzend"

Sie übernahm es keineswegs freiwillig, sondern erst nach erheblichen Auseinandersetzungen, in denen massive Widerstände des Apparats zu überwinden waren. Das Verdienst gebührt allen voran dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der als Jude und überzeugter Republikaner von den Nazis ins Exil gezwungen worden war. Bauer wollte einen aufklärerischen Prozess: "Selbst auf die Gefahr hin, dass der Staatsanwaltschaft die Veranstaltung eines Schauprozesses vorgeworfen werden könnte, soll die Verhandlung ein großes Bild des Gesamtgeschehens der angewandten Politik geben." Das gelang nur teilweise. Denn Bauers Vorhaben, den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden als ein einziges organisiertes Verbrechen abzuurteilen und die Mittäter entsprechend zur Rechenschaft zu ziehen, ließ sich nicht durchsetzen. Vielmehr mussten, wie in einem normalen Strafverfahren, den 22 Angeklagten ihre Taten einzeln nachgewiesen werden. Immerhin konnte die von dem Vorsitzenden Richter Hans Hofmeyer betriebene Trennung des "großen Prozesses" in viele Einzelverfahren verhindert werden. Ebenso gelang es Fritz Bauer, die Zulassung von Zeithistorikern als Gutachter zu erreichen. Ein Erfolg war auch, dass der Nebenklagevertreter Henry Ormond einen Ortstermin in Auschwitz durchsetzte - gegen den Widerstand der Bundesregierung und der hessischen Landesregierung, für die die Reise eines bundesdeutschen Gerichts in die Volksrepublik Polen ein unerwünschtes Politikum darstellte. Die historische Bedeutung des Prozesses erschließt sich offensichtlich erst in der Rückschau. Fritz Bauer zeigte sich nach dessen Abschluss noch enttäuscht, weil die von ihm beabsichtigte "Umwertung der Werte" in der bundesdeutschen Gesellschaft ausgeblieben war. Fast 40 Jahre später zieht Werner Renz, Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts, ein positiveres Fazit: "Die Bedeutung des Auschwitz-Prozesses liegt nicht zuletzt in der Erkenntnis begründet, dass unbeirrbarer Aufklärungswille und emphatisches Gerechtigkeitsverlangen gegen alle Widerstände in der Justiz und alle Schuldabwehr in der Gesellschaft obsiegten. Auch wenn im Ganzen gesehen die Mehrheit der Holocaust-Täter ungeschoren davonkam, das von Deutschen begangene Menschheitsverbrechen ist auch mit Hilfe von NS-Verfahren essenzieller Teil unseres historischen Gedächtnisses geworden." (FR, 19.12.2003) So kann man es sehen. ZeitzeugInnen weisen immer wieder darauf hin, dass die öffentliche Debatte über die deutschen Verbrechen erst mit dem Auschwitz-Prozess begann. Groß war seine Wirkung insbesondere auf die außerparlamentarische Linke. Für die Jüngeren waren die vor Gericht verhandelten Gräuel das stärkste Argument für den Bruch mit der Generation der Eltern und Großeltern ("Trau keinem über 30"). Gleichzeitig ermutigte das Verfahren die kleine, aber aktive antifaschistische Minderheit, die bis dahin gegen größte Widerstände die Nazi-Verbrechen zum Thema gemacht hatte. Da war zum einen die als "kommunistische Tarnorganisation" von Staats wegen verfolgte Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Ihre Ende der 1950er Jahre begonnene Kampagne gegen Hans Globke und Theodor Oberländer, die als ehemals führende Propagandisten der NS-"Rassen"- und "Volkstums"politik nunmehr der Adenauer-Regierung angehörten, führte schließlich zum Erfolg: Vertriebenenminister Oberländer musste 1960 zurücktreten, Staatssekretär Globke, der Verfasser des offiziellen "Kommentars zur Deutschen Rassengesetzgebung", erst 1963.

Die "Schuld des Verschweigens" (C. Geissler)

Nach dem KPD-Verbot von 1956 wurde der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) immer mehr zur Speerspitze der Opposition im CDU-Staat. Die Auseinandersetzung mit wieder in Amt und Würden gelangten Altnazis, vor allem an den Hochschulen, war jetzt Standardthema. Im Sommer 1959 beschloss der SDS, die von Reinhard Strecker organisierte "Aktion gegen nationalsozialistische Juristen, die heute in der Bundesrepublik Ämter bekleiden", zu unterstützen. Die Wanderausstellung "Ungesühnte Nazijustiz" wurde von der Öffentlichkeit mit Misstrauen aufgenommen, ebenso die Strafanzeige des SDS gegen 43 schwer belastete Richter, mit der gegen die geplante Verjährung von NS-Verbrechen protestiert werden sollte. Der Bundesvorstand der SPD stellte sich ausdrücklich gegen die Kampagne und schloss drei Karlsruher SDS-Mitglieder, die für die Ausstellung verantwortlich waren, aus der Partei aus. Während die BRD um die Jahreswende 1959/60 eine bis dahin beispiellose antisemitische Welle erlebte, u.a. mit Hakenkreuzschmierereien an Synagogen, auf jüdischen Friedhöfen und an Mahnmalen, stand aus Sicht der SPD-Führung der Feind links. Die antifaschistischen Kampagnen des SDS waren, neben dessen Kritik am Godesberger Programm, ein wesentlicher Grund für den Bruch der SPD mit ihrer Studierendenorganisation. Diejenigen, die das öffentliche Beschweigen der braunen Jahre störten, galten als Handlanger östlicher "Zersetzungskampagnen"; insbesondere wenn sie, wie im Fall der Ausstellung gegen die Nazirichter, Dokumente aus der DDR verwendeten. Mit dem Auschwitz-Prozess änderte sich das keineswegs über Nacht. Aber durch die breite Berichterstattung war die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das unfassbarste Verbrechen des NS-Staates, zum Gegenstand öffentlicher Diskussion geworden - und damit auch die Frage: Wie konnte das geschehen? Dieser Frage war auch die Linke bis dahin weitgehend ausgewichen, ebenso dem Problem der deutschen Schuld. Als wichtigste und zugleich radikalste Ausnahme kann Christian Geisslers Roman "Anfrage" gelten, der 1960 in der BRD und ein Jahr später in der DDR erschien. Geissler bekämpft darin "die Weigerung, sich zu erinnern, und die Scham, sich zu schämen". Er verlangt "Auskunft über den Verbleib der Schuld, der Schuld des Verschweigens, der Schuld der bequemen Ratlosigkeit, der Schuld der Nachlässigkeit im Denken, der Schuld der Unaufmerksamkeit aus Angst." (zur Rezeption der "Anfrage" vgl. ak 431)

"Nicht Teufel, sondern Deutsche"

Im Juni 1965, noch vor dem Frankfurter Urteilsspruch, veröffentlichte dann Martin Walser in der ersten Nummer des Kursbuchs, das zur wichtigsten Zeitschrift der außerparlamentarischen Linken wurde, seinen Aufsatz "Unser Auschwitz". Er wandte sich darin gegen die falsche Rhetorik der Medien, aus Auschwitz ein "danteskes Inferno" und aus den Tätern "Raubtiere" zu machen. Auschwitz war "nicht die Hölle, sondern ein deutsches Konzentrationslager", schrieb Walser, "und die Folterer waren keine phantastischen Teufel, sondern Menschen wie du und ich. Deutsche, oder solche, die es werden wollten." Gleichzeitig bezweifelte er die Möglichkeit, Auschwitz zum Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses zu machen - ein "Vorgriff" auf seine Paulskirchen-Rede von 1998, wie Richard Herzinger richtig feststellt. (Die Zeit, 11.12.2003) Walsers Aufsatz endete mit den Sätzen: "Was sich in Auschwitz austobte, stammt schließlich auch aus alter Schule, ist von schlechten Eltern. Juden und Slawen, darauf waren wir gedrillt seit langem. Zur Zeit schulen wir um auf Kommunisten." Gestern die Juden, heute die Kommunisten - trotz des Erkenntnisgewinns durch den Auschwitz-Prozess hat sich dieses große Missverständnis in der deutschen Linken noch lange gehalten. Js. aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 483 / 23.04.2004