Neue alte Sozialdemokratie?

Auf dem Weg zu einer Wahlalternative

Mit einer solchen medialen Aufmerksamkeit hatten die InitiatorInnen einer linken Wahlalternative nicht gerechnet. Langsam, still und leise sollte, ...

... so die ursprüngliche Planung, zunächst ausgelotet werden, wer mit von der Partie wäre bei der Organisierung einer Wahlalternative jenseits von SPD und PDS. Mit der Ruhe war es Mitte März vorbei. Gut möglich, dass der Medienhype eher von GegnerInnen, als von BefürworterInnen einer linken Wahlalternative initiiert wurde. Böse Zungen behaupten gar, die Fütterung der Medien sei von Personen, die im Willy-Brandt-Haus angesiedelt sind, lanciert worden, um die vorwiegend linksgewerkschaftlichen Kräfte unter Zugzwang zu setzen. Wie auch immer: Der linke Wahldiskussionszyklus wird wieder ein Hoch erleben. Alle zehn Jahre wird der immer neue Schlager aufgelegt: Wie hältst du es mit einer neuen Partei. Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger waren es die Grünen und die Kurzzeiterscheinung Demokratische Sozialisten; Anfang der Neunziger die PDS-Linke Liste, und nun stehen die Wahlalternative und die Initiative Arbeit & soziale Gerechtigkeit in den Startlöchern und wollen vieles anders und - besser machen. Vielleicht wollen sie aber auch nur die "wirkliche" Sozialdemokratie mit Leben erfüllen. Die Frage ist nur, in welchem historischen (Programm-)Zustand? Manch eine/r träumt gar wieder von der Wiederbelebung des Godesberger Programm. Dass es gleich zwei unterschiedliche Gruppierungen gibt, die sich eines regen Medieninteresses erfreuen, verweist normalerweise auf ein Konkurrenzverhältnis, das entweder in den handelnden Personen oder in programmatischen Unterschieden begründet liegt. Im Jahre 2004 ist alles ganz anders: Die InitiatorInnen der beiden Gruppierungen wussten schlicht und ergreifend nichts von der jeweils anderen Aktivität und ihren Planungsschritten.

Alle zehn Jahre wieder ...

Die Gleichzeitigkeit der Initiativen verweist darauf, dass es förmlich nach einer solchen schreit. Es ist die Politik der Bundesregierung und die innerparteiliche Perspektivlosigkeit in der SPD, die dazu führten, dass Zehntausende in den letzten Jahren aus der SPD austraten. Bei Wahlen kassiert die SPD eine Schlappe nach der anderen, aus dem Umfragetief scheint sie nicht mehr herauszukommen. Innerparteilich wird die Kanzlerlinie als alternativlos dargestellt und vom Gros der Funktionäre auf regionaler Ebene ebenso wie auf Parteitagen abgesegnet. Innerparteilich, so die Analyse der InitatorInnen der Wahlalternative, lässt sich in der SPD nichts mehr bewegen. Das sehen die in der SPD verbliebenen "Linken" um Andrea Nahles und die Zeitschrift spw etwas anders. Ihre Ohnmacht wird aber am deutlichsten, wenn man sie selbst zu Wort kommen lässt: "Die Bedingungen für die Arbeit von SozialistInnen in der SPD sind im zurückliegenden Jahr nicht schlechter geworden, die zum Jahreswechsel und im Frühjahr 2004 beklagte Politik ist in Grundzügen unverändert und weiterhin unter reformpolitischen Gesichtspunkten für die Linke beklagenswert. Dennoch: Es gibt immer wieder neue Handlungskorridore, die Chancen auch für die Linke eröffnen. Die Wahl von Franz Müntefering zum Parteivorsitzenden ist so eine Chance..." (spw 2/2004) Viel schlimmer kann es für eine innerparteiliche Linke nicht mehr kommen, wenn sie Münteferings "politisches Gespür" und seine Anerkennung einer "strategischen Notwendigkeit für einen kritischen Diskurs" als Chance ausgeben und als Begründung für ein Verbleiben in der SPD heranziehen muss. Das "politische Gespür" des neuen SPD-Vorsitzenden soll unter anderem seinen Ausdruck in "ausgiebigen Gesprächen" mit den Spitzen der acht Einzelgewerkschaften in den kommenden Monaten finden, wie der Spiegel (16/2004) vermeldet. Thema dürfte sein: Wie vermittle ich meinem Klientel den weiteren Sozialabbau ohne dass es aufmuckt. Ein Teil der gewerkschaftlichen SpitzenfunktionärInnen wird sich mit dieser Rolle durchaus zufrieden geben bzw. wird seine Rolle gerade darin sehen, hier zur Stelle zu sein. Es hält sich weiter hartnäckig das Gerücht, dass Hubertus Schmoldt, seines Zeichens Vorsitzender der IG BCE, demnächst Minister werden könnte. Das Gewerkschaftsjackett lässt sich blitzschnell mit einem Regierungsjackett tauschen - das dürfte vom Parteibuch wie von der politischen Einstellung beim Gros der SpitzenfunktionärInnen der Einheitsgewerkschaft DGB und seiner Einzelgewerkschaften möglich sein. Allerdings gilt diese Einschätzung nicht mehr durchgängig. Widerspruchsfrei verläuft die Vermittlung der neoliberalen sozialdemokratischen Politik in den haupt- und ehrenamtlichen Funktionärskörpern der Gewerkschaften schon lange nicht mehr. Erinnert sei nur an die kurzfristige Absage der Gespräche zwischen Schröder und den Gewerkschaftsvorsitzenden im letzten Jahr und an das kurzzeitige Aufflackern gewerkschaftlichen Protestes im Frühjahr 2003. Dazu gehört aber auch, dass gewerkschaftliche Spitzenfunktionäre bei Hartz, Rente und Gesundheit ihre "sozialpolitische 'Reformfähigkeit' in Form aktiver Mitarbeit und angetäuschter Proteste" (1) gezeigt haben.

Angetäuschte Proteste, aktive Mitarbeit

Innergewerkschaftlich, insbesondere bei den betrieblich Aktiven, aber auch bei vielen Funktionären nahmen und nehmen das Unverständnis und die Kritik an der sozialdemokratischen Regierungspolitik stetig zu. Dass am 3. April rund 500.000 Menschen gegen die Regierungspolitik demonstrierten, ist deutlicher Ausdruck dafür. Es handelt sich dabei größtenteils nicht um eine kapitalismuskritische Sicht, sondern vielmehr um ein Unverständnis über die Ungerechtigkeit bei der Lastenverteilung oder um eine Kritik an der neoliberalen Gestaltung von Politik. Die Enttäuschung über die Sozialdemokratie sitzt tief. Es sei daran erinnert, dass der DGB eine zweistellige Millionensumme in die Abwahl der schwarzgelben Koalition investierte und dass es Versprechungen für und Hoffnungen in eine (etwas) andere Politik als in der Kohlära gab. Die Einschnitte in soziale Rechte, der Sozialabbau, die Umverteilungspolitik wurden zähneknirschend hingenommen, aber mangels parlamentarischen Einflusses erschien die Regierungspolitik alternativlos zu sein. Dass dem nicht so sein muss, ist in den Gewerkschaftsapparaten bekannt, denn trotz Rückgang der Mitgliederzahlen verfügen Gewerkschaften über ein reichhaltiges, wenn auch kaum genutztes Instrumentarium für betriebliche und gesellschaftliche Gegenwehr. Die Anwendung der Instrumente setzt allerdings die Beendigung "angetäuschter Proteste" voraus. Die Konfliktbereitschaft bei vielen Gewerkschaftsmitgliedern ist - ohne das überzubewerten - in den letzten Monaten erheblich gestiegen. Diese innergewerkschaftliche und gesellschaftliche Stimmungslage nehmen die InitiatorInnen der Wahlalternative und der Initiative für Arbeit & soziale Gerechtigkeit auf. Zum größten Teil kommen sie selbst aus dem hauptamtlichen Gewerkschaftsapparat oder sind eng an ihn angebunden. Die Stimmungslage innerhalb der Gewerkschaften kennen sie daher bestens. Politisch orientieren sich beide Initiativen im Wesentlichen an Positionen, wie sie von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik jährlich im Memorandum, in Publikationen der Abteilung Wirtschaftspolitik von ver.di oder bei attac nachzulesen sind. (2) Teilweise sind die AutorInnen dieser Veröffentlichungen und die InitiatorInnen der Wahlalternativen personenidentisch. Beide Initiativen erfreuen sich nicht nur eines regen Medieninteresses, sondern auch einer großen Resonanz von Gründungswilligen. Ein reger Zugriff auf die Homepages (3) wird ebenso vermeldet wie Nachfragen nach örtlichen und regionalen Gründungsveranstaltungen. Die Initiative für Arbeit & soziale Gerechtigkeit berichtet von Anfragen aus rund 70 Städten. Der Zug ist also im Rollen. Dass es diesen Zulauf gibt, liegt auch an der nicht vorhandenen Wahlalternative links von der SPD. Die PDS ist dies zumindest im Westen nicht geworden und wird es auch zukünftig nicht werden. Durch ihre Regierungsbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hat sich die PDS in einen "eklatanten Widerspruch zu ihrer eigenen Programmatik" begeben, wie es die Initiative für Arbeit & soziale Gerechtigkeit formuliert, und auch im Osten viel an Vertrauen verloren. Während die Wahlalternative noch keine endgültige Absage an die PDS formuliert hat, macht die Initiative für Arbeit & soziale Gerechtigkeit ihre Distanz zur PDS sehr deutlich. Die Frage nach der Zusammenarbeit mit der PDS wird mit Sicherheit einen zentralen Stellenwert im Gründungsprozess einer wahlpolitischen Alternative sein.

Im Westen was Neues

So logisch und fast schon zwangsläufig die Gründung einer linkssozialdemokratischen Wahlalternative auch ist - für das zarte Pflänzchen der Zusammenarbeit unterschiedlicher Spektren linker Politik wird sie eher negative Folgen haben, auch wenn es von den InitiatorInnen anders gewollt wird. Ein zu Beginn des Jahres kursierendes Diskussionspapier aus den Reihen der Wahlalternative hatte durchaus sympathische Züge und nahm die Erfahrungen der Zusammenarbeit der unterschiedlichen Protestspektren positiv auf: "Im Rahmen eines solchen Grundkonsenses, den alle aktiven TrägerInnen vertreten müssen, sind im Einzelnen unterschiedliche Positionen und Akzente möglich und sogar nützlich (etwa zur Frage Mindestlöhne und Grundsicherung, Stellenwert von Investitionsprogrammen und von Arbeitszeitverkürzungen, zur Wachstumsfrage mittel- und langfristig, zur Notwendigkeit einer grundsätzlichen Systemüberwindung). Auch zur Reichweite der Reformen und der Notwendigkeit anschließender weitergehender Umgestaltung der Gesellschaft sind unterschiedliche Positionen zu akzeptieren und ist mit Widersprüchen so weit wie möglich so umzugehen, dass sie nicht zu internen Spaltungsdiskussionen hochgezogen werden, sondern im Sinne bewusster Pluralität akzeptiert und positiv genutzt werden, um in unterschiedliche soziale und politische Lager hineinzuwirken und sie zusammenzuführen." Von diesen erfreulichen Gedankengängen bleibt in der veröffentlichten Variante nach dem ersten offiziellen Treffen nicht mehr viel bestehen. Und gerade dieser Ansatz ist es, der für undogmatische linke BewegungsaktivistInnen eine Zusammenarbeit (!), wohlgemerkt keine Ein- oder Unterordnung in einer Partei oder Wählervereinigung, attraktiv machen könnte. Die sozialdemokratische Herkunft der Mehrheit der offiziösen VertreterInnen der beiden Gruppierungen lässt sich nicht verleugnen. Es verwundert daher nicht, dass sich die Initiative Arbeit & soziale Gerechtigkeit "über eine Zusammenarbeit mit allen Menschen, die sozialstaatliche Prinzipien verteidigen wollen" freut und offenkundig linke Sozialstaatskritik vollständig ausblendet. Die kommenden Gründungsversammlungen werden zeigen wohin die Entwicklung gehen wird. Auf Bundesebene wird die Wahlalternative zu einer größeren Konferenz am 6. Juni nach Berlin laden. Georg Wißmeier Anmerkungen: 1) Auf der Suche nach neuer Bewegung. Die real existierenden Gewerkschaften sind nicht zu retten. Von Mag Wompel in Fantômas 4 - Soziale Klassen, soziale Kämpfe, Winter 03/04 2) Das Memorandum 2004 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik trägt den Titel "Beschäftigung, Solidarität und Gerechtigkeit - Reform statt Gegenreform" und wird, wie alljährlich üblich, zum 1. Mai im Papyrossa-Verlag erscheinen. Die Memogruppe ist unter www.memo.uni-bremen.de zu erreichen. Mit dem Titel "Das wollen wir - Es gibt Alternativen" wurde von der Abteilung Wirtschschaftspolitik von ver.di eine kleine Broschüre entwickelt und im Vorfeld des 3. April in einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren verteilt. www.wipo.verdi.de 3) Die beiden Initiativen sind unter www.wahlalternative.de und www.initiative-asg.de im Internet vertreten. Regionale Gruppen sollen nach Möglichkeit gemeinsam aufgebaut werden. Die jeweiligen Newsletter werden über beide Verteiler versandt aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 483 / 23.04.2004