Welt - Veränderung - Macht

in (15.09.2004)

John Holloway und Thomas Seibert im Gespräch

Die Vorstellung zahlloser linker Befreiungsbewegungen, dass man die Macht erobern müsse, um die Gesellschaft zu verändern, ist im zapatistischen Aufstand vor zehn Jahren umgekehrt worden: "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen". Unter diesem Titel hat John Holloway, Politologe aus Mexico-City, ein Buch über das Verhältnis von Macht, Gegenmacht und Antimacht veröffentlicht, was in der globalisierungskritischen Bewegung nachdrücklich Spuren hinterlässt. Am 17. März 2004 diskutierten in Berlin John Holloway und Thomas Seibert (Zeitschrift Fantômas) über eben dieses Verhältnis sowie die Bedingungen für gesellschaftliche Veränderungen im neoliberalen Diskurs. Wir dokumentieren Auszüge dieses Abends. Die "Zwölf Thesen über Antimacht", die die Grundlage von John Holloways Ausführungen sind, stehen auf der arranca! -Website unter http://arranca.nadir.org/aktuell.php3.

John Holloway: Ich spreche von "dem Kapitalismus" statt vom "Neoliberalismus"...

... denn dieser weltweite Angriff ist nicht bloß eine Frage der politischen Entscheidung oder der falschen Wirtschaftspolitik, sondern Ergebnis davon, dass das gesellschaftliche menschliche Tun auf Basis der Ausbeutung und der Entmenschlichung organisiert ist. Wir schreien alle gegen den Krieg, und es ist sehr wichtig, dass wir es tun. Aber es ist auch wichtig, zu verstehen, dass der Krieg nicht einfach nur ein verrückter Einfall von Bush und Blair ist. Die Schaffung einer menschenwürdigen, einer friedlichen Welt erfordert die Abschaffung des Kapitalismus und nicht bloß eine Veränderung der Regierungspolitik. Wir wollen jedoch manchmal den Punkt nicht sehen, weil die bloße Idee lächerlich scheint und wir die Lächerlichkeit fürchten.

Die Frage der Macht ist eine praktische Frage

Es gibt jetzt in der ganzen Welt eine große Welle von Kämpfen gegen den Neoliberalismus und es gibt eine Frage, die zentral für die Bewegung von heute ist: Die Frage des Staates. Sollen wir die Kämpfe auf den Staat konzentrieren, um Einfluss innerhalb des Staates zu gewinnen oder gar um die Staatsmacht zu übernehmen? Oder ist es besser, dem Staat den Rücken zuzukehren und zu versuchen, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen?

Aus im marxistischen Sinne orthodoxem Blickwinkel betrachtet, lautet das Argument, dass wir unsere Kämpfe auf den Staat konzentrieren müssen, um die Staatsmacht entweder durch Wahlen oder durch den bewaffneten Kampf zu übernehmen. Sobald wir erst einmal den Staat kontrollieren, können wir radikale gesellschaftliche Veränderungen einführen, die Produktionsmittel vergesellschaften und verstaatlichen, die Arbeitsorganisation umgestalten, usw.

Das historische Scheitern dieser Strategie ist offensichtlich. Die linken Bewegungen haben ihre Ziele nie durch die Übernahme der Staatsmacht erreicht, weder in ihrer reformistischen noch in ihrer revolutionären Form. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist der Staat derart in die Totalität der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse eingebunden, dass er praktisch unmöglich Maßnahmen einführen kann, die ernsthaft die Rentabilität des Kapitals beschneiden könnten. Das zweite und wichtigere Argument ist jedoch, dass er die Vielfalt der Kämpfe einschränkt. Die gegenwärtigen Kämpfe sind ein unglaublicher Ausbruch von Kreativität: die Leute erfinden neue Formen, um für ihre Wünsche zu kämpfen, neue Formen, sich auszudrücken. Der Spruch des Che, "Seien wir Realisten, verlangen wir das Unmögliche", wird in Zeiten des Aufstands zu etwas Selbstverständlichem. Neue Organisationsformen entwickeln sich, die alten Institutionen und Führerschaften brechen zusammen. Der Aufstand ist expressiv, nicht instrumentell: Er ist ein Ausbruch des Unterdrückten, er ist keine bewusste, kalkulierte Bewegung mit einem bestimmten Ziel. Der Aufstand spricht eine Sprache, die der kapitalistische Staat nicht versteht; er gebraucht eine Grammatik, die für die Mächtigen sinnlos ist.

Diesen Aufstand auf die Übernahme der Staatsmacht zu konzentrieren - gleich ob auf dem Weg der Wahlen oder des bewaffneten Kampfes - heißt, Hierarchien einzuführen: Hierarchien zwischen Führern und Massen und eine Hierarchie zwischen ernsthaften Aktivitäten, die etwas zur Übernahme der Staatsmacht beitragen, und den frivolen oder kleinbürgerlichen Aktivitäten, die dies nicht tun. Es kann sein, dass diese Ausrichtung der Bewegung auf den Staat tatsächlich zu einer Übernahme der Macht führt, aber die Bewegung wird eine viel eingegrenztere und viel bürokratisiertere als vorher sein. Eine Bewegung, die keinen Widerstand leisten können wird, wenn ihre Führer in die Welt der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse aufgesogen werden, von denen sie bereits ein Teil sind. Bürokratisierung, Verrat und Desillusionierung sind deshalb Schlüsselbegriffe in der Geschichte der staatszentrierten Linken.

Aber wenn nicht durch den Staat, wie dann?

Die Rebellion ist der Ausgangspunkt, aber sie reicht nicht aus. Sie ist nicht genug, weil die Grausamkeiten der Welt nicht einfach bloß existieren: Sie werden ständig neu hervorgebracht; wir selber erschaffen den Kapitalismus. Der Aufstand muss sich in Revolution verwandeln, nicht im Sinne eines Wandels von oben, sondern indem wir aufhören, den Kapitalismus zu erschaffen.

Wie können wir das? Wir müssen von den Aufständen, den Aufsässigkeiten und dem Ungehorsam ausgehen, die es schon gibt, und sie als Risse verstehen, als widersprüchliche Kluften in der kapitalistischen Herrschaft, als Zwischenräume, in denen die Menschen "Nein" sagen. "Nein, hier herrscht das Kapital nicht, hier werden wir unsere eigenen Leben selbst bestimmen, wie wir es wollen." Diese Kluften gibt es überall, große und kleine. Das Problem besteht darin, uns vorzustellen, wie wir sie ausweiten und vervielfachen können. Es gibt keinen Grund, davon auszugehen, dass die Ausweitung des Aufstandes über den Staat durchgeführt werden sollte, ist doch der Staat eine Form der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zum Zwecke der Unterdrückung des Ungehorsams entwickelt wurde. Es gibt auch keinen Grund, warum die Ausweitung und die Vervielfachung des Ungehorsams eine zentralisierte Organisationsform bräuchte: Was sie braucht, ist die Entwicklung informeller Netzwerke mit dem Ziel gegenseitiger Unterstützung, Information und Anregung.

Selbstverständlich gibt es viele Probleme sich vorzustellen, wie diese Perspektive sich weiterentwickeln könnte. Ein zentrales Problem ist die materielle Organisationsform unseres Tuns. Um eine andere Welt zu erschaffen, müssen wir unser Tun auf eine andere Weise, also auf eine nicht-kapitalistische, nicht-marktorientierte Weise organisieren. Es gibt viele Projekte und Experimente in diesem Sinn, aber sie erfahren dadurch ihre Grenze, dass sich die Produktionsmittel im Besitz des Kapitals befinden. Um sich weiterzuentwickeln, muss die Bewegung des Ungehorsams dem kapitalistischen Eigentum entgegentreten, und damit auch den Kräften der Repression, die das kapitalistische Eigentum verteidigen. Wir müssen darüber nachdenken, wie die Bewegung der Aufsässigkeit Gesetz, Eigentum, Polizei und Armee durchdringen und untergraben könnte und wie die Bewegung sich gegen die Gewalt des Kapitals verteidigen kann.

Spannungen der Koexistenz

Die staatszentrierte Perspektive zu kritisieren, bedeutet nicht, dass die Alternative, also der Versuch, die Welt zu verändern ohne die Macht zu übernehmen, keine Probleme böte. Die Tatsache, dass die Staatsorientierten keine Antworten haben, bedeutet nicht, dass wir sie haben. Man könnte denken, dass beide Perspektiven zusammengeführt werden sollten, und in gewissem Sinne geschieht das heute in den Bewegungen gegen den Neoliberalismus. Die zapatistische Bewegung führt Menschen, die durch den Staat kämpfen, mit Menschen, die den Staat als Form des Kampfes ablehnen, zusammen. Ebenso tun dies die Antiglobalisierungsbewegung und die Antikriegsbewegung. Aber gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, dass es nicht nur eine Frage der Koexistenz, dass es nicht einfach eine Frage der Kombination beider Formen ist, sondern dass große Spannungen zwischen den zwei Perspektiven bestehen. Es ist auf lange Sicht schwierig, die Orientierung auf den Staat mit der vollen Entfaltung der Rebellion in Einklang zu bringen.

Es gibt jedoch auch einen anderen Ansatz: die Zapatisten nennen es "Würde", die Situationisten haben es als "Authentizität" bezeichnet, manchmal wird es als "ethische" Dimension der heutigen Rebellion diskutiert. Dem alten Begriff zufolge war die Revolution wie ein Krieg und wir waren gezwungen, die Methoden des Feindes anzunehmen, um das Kapital zu besiegen. Aber wenn wir die Menschenwürde als zentralen Ausgangspunkt nehmen, bedeutet das, dass die Revolution sich nicht mit militärischen Metaphern verstehen lässt. Es bedeutet, dass der Einsatz der Methoden des Feindes zu unserer eigenen Niederlage führt. Stattdessen ist es von entscheidender Bedeutung, unsere eigenen Methoden und Organisationsformen zu entwickeln, die gleichzeitig unsere Idee von Menschenwürde ausdrücken und eine praktische Vorstellung von der Gesellschaft vermitteln, die wir erschaffen wollen. Entscheidend ist, dass der Kampf aus uns selbst heraus entsteht, dass er etwas ausdrückt und nichts unterdrückt; er muss ein Vergnügen sein, darf nicht als Opfer aufgefasst werden.

Der Ausgangspunkt ist folglich Wir und Nein

Nein und Wir: unser Nein, unser Schrei gegen die Welt, die existiert. Vom Wir und vom Nein auszugehen heißt, unsere eigene Logik des Denkens und des Handelns zu entwickeln. Wir gehen von Negativität und Subjektivität aus, von der negativen Subjektivität, von praktischer Negativität. Das heißt, wir verstehen uns selber nicht als Seiende, sondern als Tuende. Das bedeutet Dialektik: kein leeres, formales Schema, sondern eine Denkweise, die davon ausgeht, dass wir keine Opfer, sondern Subjekte sind, die sich gegen das, was ist, bewegen und Identitäten zerbrechen. Wir sind die Bewegung der Nicht-Identität, der Anti-Identität. Wir sind Tuende, die von dem, was ist, gefesselt werden. Aber das, was ist, ist nichts mehr als das Produkt unseres Tuns.

Der Kapitalismus steht uns als großer, unbeweglicher Riese entgegen. Und es ist sehr schwer vorstellbar, wie wir seine Kräfte besiegen könnten - seine Heere, seine Kontrolle der Verkehrsmittel und der Erziehung, seine Kontrolle des materiellen Reichtums, usw. Das Projekt, ihm auf seinem eigenen Terrain entgegenzutreten, ist zum Scheitern verurteilt. Vielleicht müssen wir es so verstehen, dass wir ihm gar nicht entgegentreten können, sondern dass wir ihn auflösen oder entfetischisieren müssen. Das Kapital scheint eine äußerliche Kraft zu sein, die uns entgegensteht. In Wirklichkeit ist es aber bloß der verwandelte, fetischisierte Ausdruck unseres eigenen Tuns und als solcher hängt das Kapital völlig von uns ab. Das bedeutet unsere Macht-zu-tun (oder kreative Macht) gegen ihre verkehrte Form (ihre Macht-über, ihre Macht-zu-befehlen, ihre instrumentelle Macht) aufzubauen. Unsere Macht ist keine Gegenmacht (ein Begriff, der nahelegt, dass unsere Macht das Spiegelbild ihrer Macht sein könnte) sondern eine Anti-Macht, mit eigener Farbe und Musik und Rhythmus.

Immer wieder tritt dem Versuch, ein sich selbst bestimmendes Wir zu bilden, der Staat entgegen, das heißt, der Versuch, uns eine fremde Logik, die Logik der Unterordnung und der Zersplitterung aufzuerlegen. Deshalb ist es so wichtig, unsere eigenen Organisationsformen, unsere eigene Logik, unsere eigenen Formen Sachen zu tun, unsere eigenen Zeiten und Rhythmen zu entwickeln und ihnen zu vertrauen. Wir müssen eine Sprache sprechen, die die Mächtigen nicht verstehen; ein Lied singen, das ihren Ohren wehtut; uns mit Farben schmücken, die ihre Augen blenden; das Tun mit einer Logik verrichten, die ihre Vernunft übersteigt: dies ist der Kern der Kämpfe der letzten Jahre auf der ganzen Welt, dies ist der Kern jeglichen antikapitalistischen Kampfes.

Thomas Seibert: Fragen an John Holloway

Wir stimmen überein in der Anstrengung, den Begriff und, wichtiger noch, die "Sache selbst" der Revolution ins Denken und Handeln zurückzubringen, nach fast drei Jahrzehnten der ideologischen Hegemonie verschiedener Varianten des Liberalismus. Wir setzen dem Liberalismus die Aktualität der Revolution entgegen. Nicht in phantastischer Selbstüberschätzung unserer Möglichkeiten, sondern als einen lang anhaltenden Prozess, der lange schon begonnen hat und den wir heute, unter ganz besonderen, historisch einzigartigen Bedingungen fortsetzen.

Wir stimmen auch überein, dass wir in der Linken - grob gesprochen - drei Traditionslinien haben: die durch die Namen Lenin, Trotzki und Mao bestimmte parteikommunistische Tradition, die sozialdemokratisch-reformistische Tradition, und schließlich die untergründige Tradition einer undogmatischen, autonomen und antiautoritären Linken, die genauso alt ist wie die beiden anderen Linien und die du anrufst, wenn du exemplarisch immer wieder von den Zapatistas sprichst.

Für LeninistInnen und ReformistInnen hat die Eroberung der Staatsmacht tatsächlich eine zentrale Rolle gespielt, und in diesem Punkt trennen wir uns von ihnen. Fraglich aber ist, wie wir das tun, d.h. wie wir sie kritisieren und uns von ihnen absetzen. Zwar weisen wir gemeinsam die Antworten zurück, die LeninistInnen und ReformistInnen auf bestimmte, meiner Auffassung nach noch heute aktuelle Fragen gegeben haben. Ich denke aber, dass du mit den Fragen, auf die Leninismus und Reformismus historisch gescheiterte Antworten gegeben haben, anders umgehst. Ich frage mich, ob du nicht sogar schon diese Fragen zurückweist. Ich vermute, dass du deshalb nach einem antileninistischen und antireformistischen Verständnis revolutionärer Politik suchst, und dass dir deshalb auch die Vorsilbe "Anti-" so wichtig ist, wenn du von Anti-Macht, Anti-Politik oder von Anti-Fetischisierung sprichst.

Ich ziehe an dieser Stelle die Vorsilbe "Post-" vor. Mir geht es weniger darum, dem Leninismus und dem Reformismus Anti-Politik entgegenzusetzen, als nach ihnen Politik zu denken und zu machen. Das schließt für mich deshalb auch eine Kritik der undogmatischen und autonomen Linken ein: Ich glaube, dass wir heute auch eine Politik nach der Neuen Linken suchen.

Fangen wir mit der Frage nach der Staatsmacht an Â…

Â… und gehen wir dieser Frage anhand des Beispiels der Landlosenbewegung MST in Brasilien nach. Das MST in Brasilien strebt nicht nach der Übernahme der Staatsmacht. Es ist keine Partei, weder eine leninistische noch eine reformistische. Im MST kämpfen die landlosen ArbeiterInnen in eigener Sache. Sie fordern nicht einfach vom Staat eine Landreform, sondern nehmen sie in ihre eigenen Hände, besetzen und besiedeln brachliegendes Land und bauen dort landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften auf. Das bringt sie in Gegensatz zu den Großgrundbesitzern und zum Staat, und diesen Gegensatz kämpft die Bewegung autonom aus.

Aber heißt das, dass sie sich in diesem Gegensatz erschöpft? Verändert sie kraft ihrer Autonomie nicht auch den Staat - ich würde sagen: nicht kraft ihrer Anti-, sondern kraft ihrer effektiven Gegenmacht? Ist Staat in Brasilien heute nicht auch das, was das MST aus ihm gemacht hat? Und, wichtiger noch: muss das MST nicht die natürlich sehr begrenzte Macht, den begrenzten Einfluss, den es über den Staat gewonnen hat oder gewinnen kann, strategisch in Rechnung stellen? Muss die Bewegung nicht in diesem Sinn bewusst eine Politik entwickeln, die auch auf Staatshandeln, auf Regierungshandeln ausgerichtet ist - auch und gerade dann, wenn das MST nicht selbst Regierung werden will? Gibt es nicht deshalb ganz offen die Beziehung zwischen dem MST und der Arbeiterpartei, wie kompliziert und widersprüchlich sie auch ist? Müsste man deshalb nicht sagen: weder die Staatsmacht erobern noch ihr den Rücken zukehren, sondern zum Staat auf Distanz gehen, um aus dieser Distanz heraus Einfluss und Macht auch über staatliches Handeln zu gewinnen? Und bleiben wir damit nicht all den Fragen verbunden - den Fragen, nicht den Antworten! -, denen sich der Reformismus in seiner langen Geschichte gestellt hat, den Fragen nach begrenzten, nichtsdestotrotz aber oft lebenswichtigen Veränderungen auf halber Strecke, den Fragen nach den Teilsiegen in all den Teilniederlagen, aus denen sich die konkreten, nicht zu verachtenden Kompromisse im Kampf zusammensetzen, Kompromisse im Staat und zwischen den Klassen, Kompromisse, gegen die wir den Kampf nur deshalb neu beginnen können, weil wir sie zunächst einmal eingegangen waren?

Hierarchien und Avantgarde

Deine Ablehnung des Staates und der reformistischen wie der revolutionären Konzeptionen von Gegenmacht begründest du damit, dass die Orientierung am Staat den Kämpfenden wie den Kämpfen Hierarchien aufzwingt: Hierarchien zwischen Führern und Geführten, Hierarchien zwischen "wichtigen" Kämpfen, denen um die Macht im Staat und "unwichtigen" Kämpfen, denen um die individuelle wie kollektive Selbstveränderung im Alltag, um die Veränderung der Lebenswelt, geht. Dagegen bestehst du darauf, dass wir alle in und mit unseren Unterschieden und in der Vielfalt unserer Kämpfe letztlich einen gemeinsamen Kampf führen, alle gemeinsam und gleich gegen Kapital und Staat.

Dass die Hierarchisierungen unter den Kämpfenden und zwischen den Kämpfen oft genau so funktioniert haben, ist offensichtlich. Für dich sind wir im Nein gegen die herrschenden Verhältnisse alle gleich - doch fällt dieses Nein nicht sehr unterschiedlich aus? Wir haben es doch nicht einfach nur mit einer Vielzahl von Kämpfen zu tun, je nach Subjekten, Zeit und Ort, wir haben es doch mit mehr oder weniger radikalen, mehr oder weniger autonomen Kämpfen zu tun, wir haben es sogar mit reaktionären und konterrevolutionären Elementen in den Kämpfen zu tun, wir haben es mit der Macht der herrschenden Ideologien über die Beherrschten zu tun, auch ganz einfach mit erfahrenen und unerfahrenen Kämpferinnen und Kämpfern.

Die leninistische Avantgardepartei war darauf, da sind wir uns einig, die falsche Antwort. Doch hat sich damit auch die leninistische Frage beantwortet? Gibt es nicht ganz unabhängig vom Problem ihrer konkreten Organisation in jedem einzelnen Kampf und zwischen verschiedenen Kämpfen ein wirkliches Problem der Avantgarde? Einer Avantgarde, die nicht wie die leninistische von außen an die Klasse herantritt, sondern sich in den Kämpfen von innen entwickelt? Waren die Bolschewiki jedenfalls zu einer bestimmten Zeit und für eine bestimmte Zeit nicht wirklich die Avantgarde der Kämpfe im zaristischen Staat? Gesetzt, es gibt immer wieder und notwendiger-, ja glücklicherweise solche Avantgarden: Wie wären sie anders zu organisieren als im Stil der Bolschewiki?

Anders gesagt: wie bringen wir Unterschiede der Erfahrung, des Wissens, der Radikalität und der gelebten Autonomie in der Bewegung und in den Kämpfen in Zirkulation? Und wie bewahren wir über die Unterschiede des Ortes wie der Zeit hinweg unsere historische Erfahrung und unser historisches Wissen? Reicht es da aus, auf "informelle Netzwerke" zu setzen? Stellt sich nicht auch da das Problem von Autorität und Hierarchie? Wie finden wir also bessere Antworten auf die Fragen, die Lenin, Trotzki und Mao doch nicht aus bloßem Machtwillen gestellt haben?

Kampf um Selbst- und Gesellschaftsveränderung

Die undogmatische und antiautoritäre Linke hat nach einem anderen Verhältnis von Ethik und Politik gesucht, und sie hat gerade darin ihren besonderen Unterschied zu ReformistInnen und LeninistInnen markiert. Du beziehst dich auf den zapatistischen Begriff der "Würde" und den existenzialistischen und situationistischen Begriff der "Authentizität" - d.h. auf die "ethische Dimension" der Politik. Die Neue Linke hat Ethik und Politik zusammengebracht, sie hat das vorgeblich Private als Raum der Politik bestimmt und deshalb auch auf eine "Politik in Erster Person" gesetzt, eine Politik der subjektiven Wünsche und Begehren. Auch ich denke, dass der Kampf um Weisen der Subjektivierung und um eine Ethik der Würde oder der Authentizität einerseits, und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Kampf gegen Herrschaft und Ausbeutung andererseits nicht getrennt werden dürfen.

Auch ich hoffe, dass die Gestalt des leninistischen oder sozialdemokratischen "Parteisoldaten" bald der Geschichte angehört. Doch heißt das, dass Ethik und Politik auch immer zusammenfallen? Gibt es nicht manchmal einen Vorrang der Politik vor der Ethik und zu anderer Zeit einen Vorrang der Ethik vor der Politik, und dann wieder, wenn wir Glück haben, eine Einheit von Ethik und Politik? Und: Wenn es ernst wird, steht die Ethik immer vor der Entscheidung um ein Entweder-Oder. Wir sind in der Würde oder wir sind es nicht, wir sind authentisch oder wir sind es nicht, "die Ethik", so hat Sören Kierkegaard einmal gesagt, "diskutiert nicht."

Für die Politik gilt das offensichtlich nur bedingt: Sprichst du deshalb lieber von Anti-Politik - weil die Politik "unethisch" ist, gerade nicht vor einem Entweder-Oder steht? Stellst du also aus Gründen eines systematischen Vorrangs der Ethik dein Entweder-Oder auf: Politik oder Anti-Politik? Macht oder Anti-Macht? Fetischisierung oder Antifetischisierung?

Aber reicht das? Geht es in der Politik, anders als in der Ethik, nicht eher um Übergänge und vielgestaltige Unterschiede: Um eine Distanz zum Staat, die auch eine Nähe ist? Um eine Auflösung und Zersetzung von Organisation, die auch ihre Neugründung ist? Um einen unabschließbaren Kampf der Ideologien, der Verwicklung der Widersprüche? Wie denkst du zum Beispiel das Problem, für das Mao Tsetung, sicherlich ein Leninist, die Formulierung von den "Widersprüchen im Volke" gefunden hat, Widersprüche, die also gerade nicht durch ein Entweder-Oder aufzulösen sind? Die aber vielleicht einen Unterschied markieren zwischen der spontanen Organisierung der Leute im Kampf, auf Versammlungen, in Räten, und einer besonderen Organisierung der RevolutionärInnen, die auch die Zeiten überdauert, in der es nicht zu Versammlungen kommt?

Anders gesagt: auch wenn wir alle keine Parteisoldaten mehr sein wollen - sind wir nicht dennoch Militante oder Kader, und nicht einfach nur spontan rebellierende Menschen - gibt es da nicht einen Unterschied, der organisiert werden muss? Müssen wir nicht auch Militante sein? In deinem Buch beziehst du dich explizit auf drei Kämpfe aus jüngerer Zeit: natürlich auf die Kämpfe in Chiapas, dann auf den StudentInnenstreik an der Universität von Mexiko-City und auf die Kämpfe der Liverpooler HafenarbeiterInnen Selbstverständlich haben sich in diesen Kämpfen die Leute selbst zur Wehr gesetzt, unmittelbar aus ihrer Lebenssituation heraus. Und trotzdem waren und sind diese Kämpfe nur möglich gewesen, weil in ihnen organisierte Kader aktiv waren und sind, die immer auch aus einer strategischen Distanz heraus gehandelt haben und handeln, die auch, in deinen Worten gesagt, in einem instrumentellen Verhältnis zum aktuellen Geschehen standen und deshalb der Politik jedenfalls für eine bestimmte Zeit den Vorrang geben vor der Ethik. Glaubst du, dass wir darauf verzichten können? Hieße das nicht, auf den Willen zum Sieg zu verzichten, ohne den man sich, jedenfalls nach meinem Verständnis, auf einen Kampf gar nicht einlassen sollte?