Gender und Islam

in (06.10.2004)

Der Islam spielt aktuell eine zentrale Rolle in unterschiedlichen, häufig einanderkonfrontierenden Diskursen der Alterität, der Abgrenzung und der sozialen wie kulturellen Schließung...

Für die Konstruktion des Islam, die dem zugrundeliegt, sind Geschlechterdiskurse von entscheidender Bedeutung. Dieser Zusammenhang ist deutlich erkennbar in kulturalistischen Problemdefinitionen, die von öffentlichen Symbolen wie dem Kopftuch über die EU-Mitgliedschaft der Türkei bis hin zum "Krieg gegen den Terrorismus" reichen. Wir haben es vor diesem Hintergrund als Chance verstanden, eine Tagung, die im Sommer 2002 in Berlin stattfand, zum Ausgangspunkt für ein Schwerpunktheft der PERIPHERIE zu nehmen.
Die Tagung zu dem Thema "Debating Gender Differences and Identites in Muslim Countries" führte Wissenschaftlerinnen aus einer Reihe muslimischer Gesellschaften mit deutschen Wissenschaftlerinnen zusammen. Einige der Beiträge werden nun in diesem Heft veröffentlicht (Adamu, Lachenmann, Dannecker).
Neben der Vielfalt der Geschlechterordnungen und Lebenspraktiken muslimischer
Frauen zeigte sich jedoch hier wie auch auf einer weiteren Veranstaltung in Berlin im Mai 2004, dass ein globaler Diskurs über den Islam in vielen Gesellschaften eine bedeutende Rolle spielt. In diesem Diskurs wird die "Rückkehr" zu einem authentischen Islam als Gegenmodell zur Verwestlichung konzeptionalisiert.
Bei dieser Auseinandersetzung um eine authentische Modernisierung dienen Gendernormen als Marker der Inklusion und Exklusion und sind deshalb oft mit
Symbolen und Ritualen behaftet. In diesem Sinne bringt die Verschleierung von Frauen oder das Tragen eines "Kopftuchs" nicht nur zum Ausdruck, was "Frau-Sein" in einer Gesellschaft bedeutet, sondern auch, welchen religiösen, politischen oder moralischen Standpunkt einzelne Frauen in dieser Debatte einnehmen.
Die Symbole und Identitäten sind vielfältig, beziehen sich dabei aber immer häufiger auf die globale Auseinandersetzung um Verwestlichung oder Islamisierung. Dies rechtfertigt den Titel "Gender und Islam" dieses Schwerpunktheftes, auch wenn er zunächst etwas "orientalistisch" anmuten mag. Entgegen der im Alltagsverständnis verbreiteten Vorstellung, der "Islam" gehe mit einer bestimmten Geschlechterordnung einher, wollen wir die Vielfalt der Auslegungen und Lebenswelten deutlich machen.
In vielen Gesellschaften beobachten wir eine Entwicklung, in der der Diskurs um einen globalen Islam zu einer Homogenisierung dieser Lebenswelten führt und lokale Praktiken und Erfahrungen in Frage gestellt werden. Dieser Diskurs wird jedoch gleichzeitig in den spezifischen lokalen, nationalen und regionalen Kontexten verortet, so dass sich auch der politische Islam in den unterschiedlichen Gesellschaften ganz grundsätzlich unterscheidet.
In den islamischen Ländern, in denen der politische Islam an Bedeutung gewonnen
hat, sind einander widersprechende Prozesse zu beobachten. Zum einen wird deutlich, dass der Rückgriff auf den Islam nicht nur ein Mittel ist, patriarchale Strukturen zu stärken oder neu zu "erfinden", sondern dass Frauen sich im Prozess der Islamisierung neue religiöse, politische und ökonomische Handlungsspielräume
erschließen, die ihnen die alte patriarchale Ordnung nicht ermöglichte. So erobern Frauen in "Tschador" oder "Hijab" öffentliche Räume, studieren an Universitäten und besetzen wichtige politische Ämter.
Zum anderen werden erkämpfte Rechte beschnitten, eine radikale Auslegung der "Sharia" praktiziert und Frauen systematisch an der politischen Mitwirkung gehindert. In diesem Kontext wird von liberalen Frauenbewegungen in islamischen Ländern auf den Islam zurückgegriffen, um die Legitimität des Fundamentalismus in Frage zu stellen.
Gleichzeitig entsteht ein Klima der Unsicherheit, indem durch das Vordringen des
Schriftislam in lokale islamisch geprägte Kulturen neu ausgehandelt werden muss, was der "Islam" ist. Im Zuge dieses Aushandlungsprozesses werden die Geschlechterbeziehungen neu geordnet, aber auch autonome Frauenräume beschnitten.
Es ist Anliegen dieses Heftes, die Auseinandersetzung um das kulturelle Konstrukt
"Islam" in ihren unterschiedlichen lokalen, regionalen und nationalen Kontexten darzustellen und sie vor allem anhand einiger Fallbeispiele zu verdeutlichen.
Damit wollen wir auch einen Beitrag zur westlichen Debatte um den Islam leisten, in der die oft pauschale Zuordnung islamischer Kulturen zu einer Gruppe von Gesellschaften, die durch klassisch patriarchalische Strukturen gekennzeichnet sind, relativ ungebrochen bestehen bleibt. Dies manifestiert sich beispielsweise in der Auseinandersetzung mit der Situation von muslimischen Frauen in Europa und Nordamerika: Jedes Land hat inzwischen seine eigene Kopftuchdebatte. Wie der Diskussionsbeitrag von Katajun Amirpur verdeutlicht, ebnet etwa die deutsche Debatte wesentliche Ambivalenzen und sehr divergierende Vorstellungen und Zielsetzungen ein, die im Tragen des Kopftuches zum Ausdruck kommen können. Die innerislamischen Diskurse wie auch die vielen Facetten der Frauenaktivitäten, die sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise für ihre Rechte einsetzen, werden im Westen erst recht kaum beachtet. Gerade die großen Differenzen, die zwischen und innerhalb der islamischen Gesellschaften bestehen, bleiben in der westlichen Wahrnehmung hinter dem Bild "verschleierte Frau" verborgen.
Diese Differenz zeigt insbesondere auch der Artikel von Fatima Adamu über Hausa-Frauen in Nordnigeria. Hausa-Frauen nutzen Sharia-Gerichte in Ehestreitigkeiten, um sich in Haushalt und Ehe Handlungsspielräume zu erschließen.
Allerdings geschieht dies innerhalb eines patriarchalen Systems, das von den Frauen nicht in Frage gestellt wird. Hinzu kommt, dass die Ausweitung der Sharia-Gesetzgebung auf das Strafrecht Frauen zu Opfern einer radikalen und frauenfeindlichen Auslegung des Islam macht, so dass sie sich - so vermutet Adamu - nicht mehr der Sharia-Gerichte bedienen können. Nadje Al-Ali macht in ihrem Artikel über die Situation von Frauen im Irak deutlich, dass Religion in der neueren Geschichte des Irak keine politische Bedeutung besaß und auch in der Konstruktion der Geschlechterbeziehungen und einer nationalen Identität nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Sie zeichnet nach, wie sich dies durch Sanktionen, Krieg und Besatzung geändert hat und wie die Geschlechterbeziehungen neu konfiguriert und die Handlungsspielräume von Frauen eingeschränkt wurden.
Am Beispiel von islamistischen Partei-Aktivistinnen in der Türkei zeigt Renate Kreile, dass auch unter dem Schleier ein empowerment möglich ist. Mehr noch: Das Kopftuch ist das Vehikel, das den Frauen das Betreten der männlich definierten
Öffentlichkeit erlaubt, ohne mit dem Strukturprinzip der Geschlechtersegregation zu brechen. Die Frauenfrage als Kopftuchfrage wird zum "Distinktionszeichen" für eine authentische islamische Ordnung und Moral. So wie die Frauenfrage konstitutiv für das laizistische Staatsbildungsprojekt Mustafa Kemals (Atatürk) war, so ist sie es auch jetzt für das Projekt des politischen Islam, das sich mit einem eigenen Werte-System gegen die politische und wirtschaftliche Dominanz der laizistischen Eliten zur Wehr setzt. Auch Migration und Globalisierung führen zu Neuaushandlungen von
Geschlechterbeziehungen. Die Vorstellung einer guten (muslimischen) Frau wird global konstruiert. Petra Dannecker zeigt, wie dieses globale Konstrukt einer guten Frau die Migrationspolitik in Bangladesch und Malaysia und die Situation von Migrantinnen aus Bangladesch beeinflusst.
Gudrun Lachenmann untersucht am Beispiel von Senegal und Mali die Handlungsspielräume zwischen säkularen Staaten und deren besondere Beziehungen zu religiösen Institutionen wie den muslimischen Bruderschaften, um eigenständige zivilgesellschaftliche Strukturen ausfindig zu machen. Im Zusammenspiel von Bauern- und Frauenorganisationen wie auch den NGOs wird auf die kulturell und ökonomisch wichtigen weiblichen Räume verwiesen, die in lokal verankerten gegenseitigen Hilfsbeziehungen und religiös strukturierten Milieus zu finden sind.
Wir danken der Landwirtschaftlich Gärtnerischen Fakultät der HU Berlin, dem Institut für Soziologie der FU Berlin und der Ahfad University for Women, Omdurman, deren Kooperation die Tagung ermöglicht hat, die den Anstoß zu diesem Schwerpunktheft gab.
Für weitere Ausgaben der PERIPHERIE sind Calls for Papers zu den Themen "Staat und Entwicklung", "Weltmarkt für Arbeitskraft" sowie "Sozialkapital" über unsere Website abrufbar:

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In Kürze folgt ferner der Calls for Papers für eine Ausgabe über "Eigentumsrechte". Die Calls for Papers können auch im Redaktionsbüro der PERIPHERIE angefordert werden:
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Wie immer laden wir zur Mitarbeit ein. Beiträge, die sich nicht mit den genannten Schwerpunktthemen befassen, sind ebenfalls sehr willkommen, zumal dann, wenn sie aktuelle Bezüge aufweisen.
Mit großer Erleichterung haben wir unmittelbar vor Abschluss des Layouts erfahren, dass unser Beiratsmitglied Du-Yul Song im Berufungsverfahren in Seoul am 21. Juli 2004 zwar zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt, aber sogleich freigelassen wurde. Damit ging für ihn eine neunmonatige Leidenszeit unter teilweise menschenrechtsverletzenden Haftbedingungen zunächst einmal zu Ende. Wie amnesty international (ai) unmittelbar nach dem Urteil betonte, sollte die Freude darüber nicht den Blick darauf verstellen, dass auch das neue Urteil auf dem südkoreanischen Nationalen Sicherheitsgesetz beruht, das gegen internationale Menschenrechtsstandards verstößt. Alles andere als ein Freispruch wäre ai zufolge nicht angemessen.
Am Tag nach dem Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision beim Obersten Gerichtshof eingelegt. Dies ist eine ernste Mahnung, diese Angelegenheit weiter
zu verfolgen. Gleiches gilt für das Schicksal anderer Opfer dieses Gesetzes, die teilweise wegen ihrer Unterstützung für Du-Yul Song inhaftiert wurden. Ein Gesetz, das Denken unter Strafe stellt, muss den entschiedenen Protest aller denkenden
Menschen auf den Plan rufen.

Auf unserer Internetseite www.zeitschrift-peripherie.de finden Sie außer den Call for Papers für die kommenden Hefte ein Formular zum Bestellen einzelner Hefte oder eines Abonnements sowie weitere Informationen zur PERIPHERIE.