Wir haben ein romantisches Verhältnis zur Gesellschaft

Interview mit Mujeres Creando aus La Paz, Bolivien

Wir treffen Florentina Alegre und Maria Galindo an einem Nachmittag Anfang Oktober im feministischen Kulturzentrum "Café Carcajada" in La Paz. Vor fast genau einem Jahr hatten in Bolivien wochenlange Massenproteste und Straßenblockaden gegen den Billig-Export von Erdgas an Chile für den Rücktritt des Präsidenten Gonzales Sanchez de Lozada gesorgt. Florentina Alegre und Maria Galindo sind nicht nur ein höchst ungleiches Paar, sondern die enfants terribles der bolivianischen Gesellschaft. Die beiden Frauen gehören zu den 15 Aktivistinnen der Gruppe Mujeres Creando, die seit 1992 mit provokanten Graffities, Straßenaktionen und Fernsehauftritten auf sich aufmerksam macht. Mehrmals verhaftete die Polizei Aktivistinnen der Gruppe, einige Male versuchte die Staatsanwaltschaft Mujeres Creando zu verbieten. Mit ihrer offensiven Absage an Homophobie, Rassismus und das neoliberale Entwicklungsmanagement sind Mujeres Creando jedoch auch für die NGOs und die Protestbewegungen in Bolivien unbequeme Kritikerinnen. Das Gespräch führten Stefanie Kron und Simón Ramírez Voltaire.

ak: Diversität ist euer Grundprinzip. "Indias, Huren und Lesben: Vereint, anders herum und verschwistert" lautet einer eurer Slogans, die ihr hier in La Paz an die Wände sprüht. In der Realität ist es jedoch immer sehr schwierig, unterschiedliche soziale Gruppen von Frauen mit dem Schlagwort Feminismus zusammenzubringen.

Maria: Wir sind eine Bewegung mit eigenen Denken und eigener Sprache. Ausgangspunkt ist unsere Verortung als Frauen in dieser Gesellschaft, deren Fundamente Homophobie, Rassismus, Klassendünkel und Bigotterie sind. Als Lesben, Prostituierte, indigene und mestizische Frauen vereinen uns die Stigmatisierung und der Wunsch, Räume mit komplexeren Formen der Interaktion zu schaffen, als sie die postkoloniale Logik vorgibt. Deswegen fußt unser Verständnis von Feminismus auf Heterogenität.

Florentina: Ich komme vom Hochland aus einer bäuerlichen Familie. Meine Genossinnen hier sind weiße Frauen und Akademikerinnen. Trotzdem sehe ich die Notwendigkeit, gemeinsam mit Frauen zu kämpfen, deren sozialer Hintergrund ein ganz anderer ist. Warum? Die Macht dieses Staates, der politischen Parteien und der Oligarchien basiert auf der Spaltung der Gesellschaft - auch der Frauen. Jede Frau der Mujeres Creando blickt auf eine eigene Geschichte der Marginalisierung und hat einen eigenen Prozess der Politisierung durchlaufen. Das hat uns in einem bestimmten Moment in dieser Bewegung zusammen gebracht.

Maria: Wir haben ein romantisches Verhältnis zur Gesellschaft. Das bedeutet, dass wir zwar wirksame und schockierende Formen der gesellschaftlichen Intervention entwickelt haben, aber eine sehr kleine Bewegung sind. Eine Frau, die Mitglied einer NGO oder einer politischen Partei ist, kann hier nicht mitmachen. Der Rahmen, den wir vorgeben - die Absage an Homophobie, Rassismus und Klassendünkel - trifft zudem nicht bei vielen Frauen auf Zustimmung. Trotzdem hat der Feminismus von Mujeres Creando inzwischen eine große kommunikative Macht erlangt. Beispielsweise haben wir in den letzten Jahren einige Sendungen für das den staatlichen Fernsehsender Canal 7 produziert, die von einem sehr großen Publikum rezipiert wurden.

ak: Ist das Fernsehen nicht ein Medium par excellence, um parteipolitische Machtpositionen zu festigen und gesellschaftlichen Konsens herzustellen? Wie seid ihr ins Fernsehen gekommen und wie verbindet ihr Schock und Akzeptanz?

Maria: Das Fernsehen ist natürlich ein Systemstabilisator und darüber hinaus in der Regel idiotisierend, rassistisch und marktorientiert. Der staatliche Sender Canal 7 strahlte früher meist Werbung für die Regierung aus. Seit der Revolte vom vergangenen Oktober ist auch Canal 7 pluraler geworden. Wir haben jeden Sonntagabend eine zweistündige Sendung, die wir als feministische Talk-Show gestalten. Mujeres Creando bekam allerdings schon 2002 einen Sendeplatz angeboten. Wir konzipierten eine Serie. Unsere Idee war es, die Straße ins Fernsehen zu bringen. Im Mittelpunkt der gefilmten Aktionen auf der Straße sollten die Demontage der stereotypen Frauenbilder - die India, die Hure, die Nonne und die Straßenverkäuferin - und deren Rekonstruktion als lebendige, vielschichtige und ungehorsame Figuren stehen. Die visuellen und politischen Effekte unserer Sendungen waren immens. Als wir die Folge mit der Hure im Zentrum drehten, stellten wir 12 nackte Männer auf einen berühmten Platz, an dem sich mehrere große Straßen kreuzen. In der Mitte lag eine Hure auf einem Bett und sprach über ihre Situation. Weil ich die Verantwortliche der Dreharbeiten war, wurde ich festgenommen. Die Staatsanwaltschaft strengte einen Prozess wegen obszöner Akte in der Öffentlichkeit gegen mich an, und der Präsident des Kongresses forderte in einem offenen Brief, Mujeres Creando zu verbieten. Es gab einen großen Skandal und eine wilde öffentliche Debatte, die schließlich dazu führte, dass weder die Sendung zensiert noch Mujeres Creando verboten wurde. Stattdessen ist die Serie sehr berühmt geworden und wir sind bekannter denn je.

ak: Frauen, die Mitglied einer NGO sind, dürfen bei euch nicht aktiv werden. Was unterscheidet Mujeres Creando von einer NGO?

Florentina: Der wichtigste Unterschied ist unsere ökonomische Autonomie. Wir bekommen von keiner Institution Geld. Wir leben also weder vom Feminismus noch von der Armut der Frauen in diesem Land. Unsere Bewegung finanziert sich über die Bücher, Radiosendungen und Filme, die wir machen, und über das Café Carcajada, das wir als Kooperative betreiben.

Maria: Eines unserer zentralen Themen ist die fundamentale Kritik der Rolle von NGOs bei der neoliberalen Restrukturierung dieser Gesellschaft, die hier 1985 begann. Damals wurden die Bergbauindustrie privatisiert und Minen geschlossen, tarifliche Löhne per Gesetz abgeschafft und es wurde versucht, die Gewerkschaften zu zerschlagen. Gleichzeitig entstand eine Unzahl von NGOs. Die demontierten linken Intellektuellen fand man plötzlich als Leiter von NGOs wieder. Sie etablierten einen technokratischen Diskurs, in dessen Namen sie Entwicklungshilfegelder akquirieren konnten. Dieser Diskurs legitimiert die NGOs als Repräsentantinnen der so genannten Zivilgesellschaft. In dieser Rolle eigneten sich die NGOs eine starke Machtposition als "Konsensmacherinnen" mit den Regierungen an.

Florentina: Die NGOs haben viele indigene Gemeinden gespalten. Diese Communities hatten immer Formen der internen sozialen Organisation, die sehr stark waren und die dafür sorgten, dass die soziale Ausdifferenzierung sich in Grenzen hielt. Die NGOs brechen diese Strukturen auf. Sie kommen in eine Community und beginnen nur für ihre "Zielgruppe" Geld zu kanalisieren und Projekte zu initiieren. So ist es schon zu gewalttätigen Auseinandersetzungen in verschiedenen Gemeinden gekommen.

Maria: Die NGOs haben sich zu Vermittlerinnen zwischen den sozialen Sektoren und den transnationalen Entwicklungsagenturen gemacht. Auf diese Weise haben sie soziale Bewegungen desartikuliert und soziale Gruppen in billiges Klientel ohne Stimme verwandelt. Insbesondere im Fall der Frauen ist diese Tendenz sehr stark. Die hiesigen NGOs konzentrieren sich darauf, den Diskurs über die Frauenarmut zu verkaufen. Nehmen wir mein Lieblingsbeispiel, das Kleinkreditwesen - angebliches Wundermittel im Kampf gegen die Armut. Für das Jahr 2001 haben wir zusammen mit einer Gruppe von Studentinnen der Universität La Paz eine empirische Studie über die ökonomischen und sozialen Auswirkungen des Kleinkreditwesens erstellt. Das wichtigste Ergebnis war der drastische Anstieg der Insolvenz bei Frauen, die an einem Kleinkreditprogramm einer NGO oder einer privaten Bank teilgenommen hatten. Die Kredite für Programme, beispielsweise von der Weltbank, kommen mit einem Zinssatz für die Rückzahlung von vier Prozent pro Jahr ins Land kommen. Die Instanzen, die diese Kredite hier verwalten und kanalisieren, vergeben sie jedoch zu einem Zinssatz von 36 bis 40 Prozent an die Frauen! Die Gewinne verbleiben bei der jeweiligen NGO. Ein zweites Ergebnis war, dass die NGOs mit den Kleinkreditprogrammen die solidarischen Netzwerke von Frauen instrumentalisieren und zerstören. Die Frauen bürgen gegenseitig für die Rückzahlung der Kredite. Wenn eine von ihnen nicht zahlen kann, ist die gesamte Gruppe verantwortlich. Die solidarischen Netzwerke von Frauen verwandeln sich so in Netze der Kontrolle und der Repression. Wir wissen, dass diese Kredite in der informellen Ökonomie benötigt werden. Uns ist auch klar, dass die Armut ohne die informelle Ökonomie weitaus größer wäre. Wir haben deshalb in einer öffentlichen Erklärung das Kleinkreditwesen in Bolivien zwar scharf kritisiert, zugleich aber gefordert, dass der Staat die Rolle des Kreditgebers übernimmt. Er soll per Gesetz niedrige Zinssätze festlegen. Der neuen Regierung von Carlos Mesa haben wir einen Vorschlag für die Gründung einer staatlichen Frauenbank vorgelegt, der nun im Parlament diskutiert wird.

ak: Wir haben den Eindruck, dass die Frauen hier in Bolivien auf der Straße sehr viel präsenter sind, als in anderen lateinamerikanischen Ländern. Gibt ihnen die starke Präsenz auf der Straße und die Dominanz in der informellen Ökonomie nicht auch prinzipiell mehr Macht in der Familie und der Gesellschaft?

Florentina: Für Außenstehende mag es so erscheinen, dass die Frauen die Straße beherrschen. Aber sie sind auf der Straße, weil sie für das Überleben der Familie verantwortlich sind, also aus ökonomischen Gründen. Aber die Straße ist für sie kein öffentlicher Raum in dem Sinne, dass sie dort eine politische Subjektivität oder Vision artikulieren würden.

ak: In den renommierten großen Märkten hier in La Paz und in El Alto sind die Besitzerinnen der begehrten und teuren Stände Frauen. Sie verdienen gut und sind sehr angesehen. Was bedeutet das für ihre Machtposition innerhalb der Familie?

Maria: Wir haben an der Uni auch eine Untersuchung über Vaterschaftskonzepte durchgeführt. Nahezu hundert Prozent der befragten Haushalte gaben an, dass die Frauen für alle produktiven und reproduktiven Bereiche des Familienlebens verantwortlich sind. Aber: Diese Aktivitäten werden in den Dienst der emotionalen, materiellen und symbolischen Reproduktion des Familienvaters gestellt. Der abwesende oder virtuelle Vater ist die zentrale Achse des Patriarchats der bolivianischen Gesellschaft. Was bedeutet das für die politische Praxis? Die Frauen entwickeln eine Unzahl von Aktivitäten und sie übernehmen Verantwortung. Aber im entscheidenden Moment überlassen sie es den Männern, für ihre Organisation oder Bewegung zu sprechen. Die Revolte vom vergangenen Oktober erzeugte einen historischen Bruch. Sie wurde gleichzeitig von unzähligen sozialen Bewegungen und Sektoren der Gesellschaft gestartet und getragen. Die Frauen waren ein wichtiger Motor der Blockaden und Protestmärsche. Wir selbst waren anwesend und sahen, mit welcher Energie die Frauen die Menschen agitierten, auf die Straße zu gehen und ihre Wut hinaus zu schreien. Eine politische Stimme bekamen die Frauen allerdings nicht. Sie wurden einerseits von den Massenmedien und von den Intellektuellen unsichtbar gemacht und sabotierten sich andererseits selbst, weil sie sich nicht als historische Subjekte wahrnehmen. So entstand die absurde Situation, dass alle sozialen Sektoren und Bewegungen gestärkt, mit einer großen Öffentlichkeit, aus den Ereignissen hervorgingen. Eine politische Stimme der Frauen sucht man in den Analysen und Berichten jedoch vergeblich. Die Artikulation der Frauen wurde auf den stummen Schrei des Entsetzens und des Schmerzes reduziert.

Vielen Dank für das Gespräch.

Kontakt: mujerescreando@alamo.entelnet.bo

ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 489 / 19.11.2004