Lohnarbeit und Demokratie

Die Herrschaft des Kapitals und die Multitude[1]

Joachim Bischoff und Christoph Lieber setzten sich in diesem Beitrag, der als Supplement der Zeitschrift Sozialismus 12/2004 erschienen ist, differenziert mit den Thesen von Hardt/Negri auseinander.

Mit dem Erscheinen ihres Buches "Empire" (engl. 2000/dt. 2002) waren der Sozialphilosoph und frühere Mitstreiter in der italienischen "autonomia" der 1960er und 1970er Jahre, Antonio Negri, und sein Co-Autor, der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Hardt, Stichwortgeber in den zeitdiagnostischen Debatten der Linken bis hinein ins linksbürgerliche Lager. Mit den Begriffen "Empire" und "imperiale Souveränität" schien ein Analyseinstrument an die Hand gegeben, mit dem sich die "neue Weltordnung" zu Beginn des 21. Jahrhunderts in neuem theoretischen Elan jenseits aufgefrischter Imperialismustheorie und oberflächlicher Stilisierung der USA zu einem zweiten "römischen Imperium" verstehen lässt. Unbestrittene Veränderungen wie die Relativierung der Rolle des Nationalstaats, die teilweise Transformierung der Legalität des internationalen Völkerrechts zu politischen Legitimationszwecken "humanitärer Interventionen", das immer häufigere Aufkommen neuer "asymmetrischer Kriege" u.ä. ließen sich mit einem theoretischen Mix aus Carl Schmitt, Machiavelli, Foucault, Netzwerk-Kapitalismus und der Geburtsurkunde der amerikanischen Verfassung, den "Federalist Papers", auf den Begriff bringen. Mit diesem weitgespannten geschichtsphilosophischen Bogen setzen sich Hardt/Negri gleichermaßen von rechten Weltuntergangsszenarien wie linken Zusammenbruchsphantasien à la Robert Kurz ab. Zum andern wird aber auch eine klare Absage an jeglichen "linken Reformismus" erteilt. Mit Hannah Arendt wird der "expansive" individualistische Freiheitsbegriff der amerikanischen Revolution gegen das zum Ende des 20. Jahrhunderts erlahmende Projekt "soziale Gerechtigkeit" des europäischen Revolutionszyklus von 1789/1871/1917 ausgespielt.

Kern der Zeitdiagnose von "Empire" wie dem neuen Text "Multitude" sind die veränderten Subjektivitätsformen der subalternen Klassen und sozialen Bewegungen seit Ende der 1970er Jahre. Hardt/Negri verorten diese zum einen in einer Interpretation von "68" als weltgeschichtlichem Sieg des fordistischen Massenarbeiters gegen das Kapital, der diesem eine veränderte Betriebsweise aufzwang. In deren Gefolge brach sich eine Höherentwicklung der Subjektivität in der Arbeit Bahn. Hardt/Negri interpretieren also die dritte Periode des Hobsbawmschen Triptychon des 20. Jahrhunderts, die Jahrzehnte des Erdrutsches seit dem Ende des golden age, in einer optimistischen Lesart. Sie stimmen mithin nicht in den Chor derer ein, die dem Kapital keine zivilisatorischen Tendenzen mehr attestieren. Das macht sie in Teilen jenseits der traditionellen Linken, bei Vertretern neuer sozialer Bewegungen, bei Beschäftigten mit höherer Autonomie, außerhalb des Normalarbeitsverhältnissen, auch bei Prekarisierten und im akademischen Milieu etc. attraktiv. Sie verbreiten Optimismus: der Kommunismus ist unter uns, er ist nur das Spiegelbild des Empire, das Empire kann durch die Gegenmacht des neuartigen Netzwerkes, das da heißt "Multitude", gekippt werden: "Heute, im Anbruch der Postmoderne, haben wir im Empire versucht, die neue globale Form souveräner Macht zu umreißen. Im vorliegenden Buch nun versuchen wir, den Charakter der weltweit entstehenden Klassenformation, der Multitude, zu verstehen. Hobbes bewegte sich von der entstehenden gesellschaftlichen Klasse zur neuen Form der Souveränität; wir arbeiten uns heute von der neuen Form souveräner Macht zur Klasse vor. Unser Weg kehrt den von Hobbes um, denn während die aufstrebende Bourgeoisie eine souveräne Macht anrufen musste, die ihre Interessen garantieren sollte, taucht die Multitude im Inneren der neuen imperialen Souveränität auf und weist über sie hinaus. Die Multitude arbeitet sich durch das Empire hindurch, um weltweit eine andere Gesellschaft zu schaffen. Während die Bourgeoisie in der Moderne auf die Souveränität zurückgreifen musste, um ihre Ordnung zu festigen, weist die postmoderne Revolution der Multitude nach vorn, über die imperiale Souveränität hinaus. Die Multitide ist im Gegensatz zur Bourgeoisie und zu allen anderen exklusiven und beschränkten Klassenformationen in der Lage, die Gesellschaft selbstbestimmt zu gestalten. Wir werden sehen, dass diese Fähigkeit zentral ist, was die Möglichkeiten der Demokratie angeht." (M 13f.)

Die "Multitude" als neue weltgeschichtliche Passhöhe

Die Bunt- und Vielgestaltigkeit der demonstrierenden Massen im Übergang zum 21. Jahrhundert passen nicht in die Bilder aus den Zeiten der Arbeiterbewegung. Die Menge tritt nicht diszipliniert auf Plätzen und Straßen auf, nicht der Anflug einer cäsaristischen Mentalität ist erkennbar. Hunderttausende, die kulturell-symbolisch eine entspannte Vielheit ausdrücken, das ist in der Tat eine neue ungewöhnliche Erscheinung. Und der Theoretiker Hardt kommentiert: "Im Gegensatz zur Masse, die immer passiv bleibt, ist die Vielheit aktiv. Es geht um die Fähigkeit, bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam handeln zu können." Die politisch-theoretische Herausforderung oder mehr noch die Kampfansage von Hardt/Negri, nicht nur an das bürgerliche Lager, sondern an die traditionelle politische Linke - sei sie nun sozialreformerisch oder revolutionär eingestellt - lautet: Die Subjektivität im Klassenkampf verwandelt den Imperialismus zum Empire und die proletarischen Massen in die Menge. Das Zeitalter von TINA - there is no alternative - geht zu Ende: "Im schöpferischen Vermögen der Multitude, der Menge, die das Empire trägt, liegt gleichermaßen die Fähigkeit, ein Gegen-Empire aufzubauen, den weltweiten Strömen und Austauschverhältnissen eine andere politische Gestalt zu geben. Die Kämpfe gegen das Empire, Angriff und Subversion ebenso wie der Aufbau einer wirklichen Alternative, werden sich auf dem imperialen Terrain selbst abspielen - tatsächlich haben diese bereits begonnen. In diesen und zahlreichen weiteren Kämpfen wird die Menge neue Formen der Demokratie und eine neue konstituierende Macht entwickeln, die uns eines Tages durch und über das Empire hinausbringen wird." (E 13)

Die Schlussfolgerung aus der Analyse dieser Erscheinungsform des "modernen Widerstands" lautet für Hardt/Negri, "dass einige der grundlegenden traditionellen Modelle linker Politik, des Klassenkampfes und revolutionärer Organisation heute überholt und nutzlos sind... Die gegenwärtige Neuzusammensetzung der gesellschaftlichen Klassen, die Hegemonie der immateriellen Arbeit, die Entscheidungsstrukturen, die auf netzwerkförmigen Organisation beruhen - all das verändert die Bedingungen revolutionärer Prozesse radikal." (M 86) Logischerweise erregt diese Kritik Anstoß und Zustimmung. Es gibt sie immer noch, die Anhänger dieser traditionellen Modelle - jene geduldigen Begleiter der gewerkschaftlichen Abwehrkämpfe, aber auch die ungeduldigen Kritiker, die in den mehr oder minder deutlichen Niederlagen der jüngsten Jahrzehnte nur die trostlose Konsequenz einer integrierten oder korrumpierten Führungsschicht beklagen; die vielen kleinen Gruppierungen, die in Auswertung der großen Niederlagen der Arbeiterbewegung und der Implosion der staatssozialistischen Gesellschaften meinen, den entscheidenden Fehler und damit das zentrale Kettenglied der Geschichte gefunden zu haben, mit ihrer mehr oder minder revolutionären Ansprache an das gleichgültige oder unwirsch reagierende Proletariat - sei es auch nur in der traurigen Gestalt einer jeunesse dorée, die unter dem Druck neoliberaler Hochschulreformen die Qualifizierung der eigenen Arbeitskraft mehr oder minder bewusst verweigert.

Hardt/Negri stellen sich auf den Standpunkt des modernen Subjekts und seiner "Multitude", und von hier aus wird die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts neu gedeutet. Ihre These läuft darauf hinaus, dass die sozialistische Linke und die diversen Widerstandsbewegungen von ihrer revolutionären Attitüde und ihren sozialreformerischen Strategien ablassen sollten. Mehr noch: In der Konstellation des Empire werden die bisherigen theoretischen Bausteine und Methoden der Kapitalismuskritik zu Hindernissen auf dem Weg der wahren Erkenntnis. Die Sphären des Ökonomischen, Politischen und Kulturellen überschneiden sich so, dass die Orientierung an der Kritik der politischen Ökonomie, an der Metapher von Basis und Überbau, an Staat, Zivilgesellschaft und Akkumulationsprozess hinfällig wird. Schon in einer früheren Veröffentlichung forderten Hardt/Negri den Bruch mit dem bisherigen oppositionellen Wissen und den darauf gestützten Strategien. "Wir können nicht länger die Metapher von Basis und Überbau benutzen, die für Vorstellungen von den vermittelnden Institutionen der zivilen Gesellschaft zentral war. Das Bild von den sich kreuzenden Maulwurfsgängen, das die Strukturen der Disziplinargesellschaften kennzeichnete, trifft für diesen neuen Funktionsbereich nicht mehr zu... Die Widerstände, die sich in den Gängen der Einkerbungen in der zivilen Gesellschaft bewegten, können offensichtlich auf der glitschigen Oberfläche dieses neuen Herrschaftsmodells nicht mehr Fuß fassen. Eine Konsequenz aus dieser neuen Situation ist, dass nun deutlicher als je zuvor jede Strategie des sozialistischen Reformismus vollständig illusorisch ist."[2]

Der von Hardt/Negri propagierte Bruch mit den traditionellen Sichtweisen, die im Prinzip von Niederlage zu Niederlage führen und die Aktivisten einem ungeheueren Verarbeitungsdruck aussetzen, ist wahrlich radikal. Es geht um folgende Ebenen:
1. Die Produktion ist keine rein ökonomische Angelegenheit mehr, es geht vor allem auch um Kommunikation, soziale Beziehungen und Lebensformen;
2. die industrielle Arbeiterklasse ist nicht mehr hegemonial;
3. Gewerkschaften sind zu unpolitischen Organisationen geworden;
4. Bezugspunkt ist das Gemeinsam-Werden in all seinen Dimensionen - daher die Multitude;
5. die imperiale Souveränität ist via Multitude in eine globale Demokratie transformierbar.

Die von Hardt/Negri verfochtene Deutung löst sich von der in der sozialistischen Linken vorherrschenden Sichtweise einer Knotenlinie von Niederlagen. Dem Lamento über die vermeintlich unerschütterbare Macht des Neoliberalismus wird die Entwicklung der Subjektivität als eigentliche Triebkraft der Geschichte entgegengestellt. Seit der Spaltung in eine kapitalistische und nicht-kapitalistische Welt, der entsprechenden Auffächerung innerhalb der internationalen Widerstands- und Protestbewegungen erweisen sich nicht die Institutionen und Regulationsmodi als wesentliche Faktoren, sondern die Autonomie der Arbeiter oder Reichtumsproduzenten. Ihre Subjektivität ist die treibende Kraft oder Logik in der Geschichte, und jetzt sind wir auf jener weltgeschichtlichen Passhöhe, wo der Sturz des Empire und die Befreiung der Subjektivität praktisch wahr werden kann. Die bisherigen Errungenschaften wie soziale Regulierung von Arbeitsorganisation und Einkommensverhältnissen sowie das umkämpfte Terrain der makroökonomischen Steuerung der Gesellschaft liegen tendenziell hinter uns. Die internationale Disziplinarordnung zerschellt an der starken Subjektivität und bricht das Empire auf. Selbstverständlich verfügt das Empire noch über ungeheuere Unterdrückungs- und Zerstörungspotenziale, aber wenn wir begriffen haben, dass die Globalisierung letztlich für die neue Subjektivität arbeitet, dann müssen wir uns nicht mehr verschleißen, indem wir uns gegen die Schattenseiten der Globalisierung stellen, sondern wir können sie umgestalten.

Hardt/Negri sind sich bewusst, "dass wir mit dieser These gegen den Strom unserer Freunde und Genossen in der Linken schwimmen. In den langen Jahrzehnten der Krise, die die kommunistische, sozialistische und liberale Linke seit den 1960ern erlebt, zielte das kritische Denken, und zwar sowohl in den kapitalistisch entwickelten herrschenden als auch in den beherrschten Ländern, darauf, Orte des Widerstands neu zusammenzusetzen, sich auf die Identität sozialer Subjekte zu berufen, auf nationale und regionale Gruppenzugehörigkeit; man baute so in der politischen Analyse oft auf eine Lokalisierung der Kämpfe... Die linke Strategie, gegen die Globalisierung Widerstand zu leisten und das Lokale zu verteidigen, ist gleichzeitig schädlich... Theoretisch wie praktisch ist es hingegen besser, wenn wir uns auf das Terrain des Empire und dort in die Auseinandersetzung mit den homogenisierenden und heterogenisierenden Strömen in ihrer ganzen Komplexität begeben; wir gründen so unsere Untersuchung auf die Macht der globalen Menge." (E 57f.)

Klassen und immaterielle Arbeit

"Multitude ist ein Klassenbegriff" (M 121). Hardt/Negri wollen zwar das Arsenal des politischen Denkens umwälzen, aber an der Klassentheorie und damit an der von Marx begründeten Kritik der politischen Ökonomie wollen sie festhalten. Allerdings wird an diesem Bezugspunkt zugleich die grundlegende Schwäche ihrer ganzen Konstruktion offenkundig, das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Politik differenziert zu begreifen; sie bringen die Sehnsucht der vielfältigen modernen Protestbewegungen nach Demokratie und Bruch mit den alten aus der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung herrührenden Traditionen und Einsichten zur Sprache, und entlarven durch den Versuch, diese Träume und Ansprüche mit den Grundstrukturen de bürgerlichen Gesellschaft und dem Kapital in Übereinstimmung zu bringen, deren modischen Charakter. "Klasse ist ein politisches Konzept, in dem eine Klasse dann und nur dann ein kollektives Ganzes bildet, wenn sie gemeinsam kämpft." (M 122) Schon diese einseitige Formulierung enthüllt im Kern das grundlegende Missverständnis über die kapitalistische Gesellschaftsformation. Die Klassenspaltung im Kapitalismus ergibt sich aus der Fähigkeit einer Klasse, den Besitz an Produktionsmitteln weitgehend zu monopolisieren und sich die unbezahlte Mehrarbeit einer anderen Klasse anzueignen, die ausschließlich vom Verkauf ihrer Arbeitskraft lebt. Die Klassen in der kapitalistischen Ökonomie sind ein historisch besonderes Herrschaftsverhältnis; dieses basiert formell auf dem Äquivalententausch, also auf der Freiheit und Gleichheit der gesellschaftlichen Akteure. Der kapitalistische Produktionsprozess reproduziert die Scheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsbedingungen und damit die Abhängigkeit des Arbeiters. Der kapitalistische Produktionsprozess, im Zusammenhang betrachtet oder als Reproduktionsprozess, produziert also nicht nur Ware, nicht nur Mehrwert, er produziert und reproduziert das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite den Kapitalisten, auf der andren den Lohnarbeiter. Er zwingt beständig den Arbeiter zum Verkauf seiner Arbeitskraft, um zu leben, und befähigt beständig den Kapitalisten zu ihrem Kauf, um sich zu bereichern. Seine ökonomische Hörigkeit ist zugleich vermittelt und versteckt durch die periodische Erneuerung seines Selbstverkaufs, den Wechsel seiner individuellen Lohnherrn und die Oszillation im Marktpreise der Arbeit. Aber weil in dem einleitenden Verhältnis des Austausches selbst keine Unfreiheit und Ungleichheit angelegt ist, ist der verdeckte Klassenkampf von Beginn Bestandteil dieser Gesellschaftsordnung. Entscheidend ist freilich, ob sich die Lohnabhängigen mittels Einsicht, Organisation und erfolgreicher politischer Willensbildung in der gesamten Gesellschaft eine solche Stellung erkämpfen können, dass sie aus diesem verdeckten Klassenkampf herauswachsen.

Aus der Natur des Warenaustausches gibt es selbst keine feststehenden Verteilungsrelationen oder Gesetzmäßigkeiten, also keine Grenze der Mehrarbeit. Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer und lässt den Lohnarbeiter unter seinem Regime arbeiten. Die Lohnarbeiter können und müssen ihr Recht in diesem Verkauf geltend machen. "Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d.h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse."[3] Die zentrale These lautet also: das Lohnarbeitstatut wie die Schöpfung des Normalarbeitsverhältnisses und andere Verteilungsansprüche wie soziale Rechte sind "das Produkt eines langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse" (ebd. 316). Hardt/Negri verstehen nichts von dieser ökonomischen Anatomie der Klassen, der Rolle der Gewerkschaften und dem Kampf um politisch soziale Rechte, die letztlich in einer demokratischen Ökonomie münden könnten. Sie verstehen nichts von den Entwicklungstendenzen der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus, insofern können sie zunächst empirische Behauptungen zum Ausgangspunkt nehmen, um der kapitalistischen Ökonomie eine eigentümliche Interpretation zu geben.

Erste Beobachtung: "Anfang der 1970er Jahre verändern sich die Techniken und Organisationsformen der industriellen Produktion: es entstehen kleinere, mobilere Arbeitseinheiten und flexiblere Produktionsstrukturen. Die Verschiebung wird häufig als Übergang vom Fordismus zum Postfordismus bezeichnet." (M 100)

Zweite Beobachtung: Diese Entwicklung geht zurück auf "die Hegemonie der immateriellen Arbeit, von Arbeit also, die immaterielle Güter wie etwa Information, Wissen, Ideen, Bilder, Beziehungen und Affekte produziert." (M 83) Eine kleine Minderheit von immateriellen Arbeitern verändert alle Formen von Arbeit und sogar die Gesellschaft insgesamt und die Industriearbeit verliert ihre hegemoniale Stellung.

Diese Beobachtungen werden von Hardt/Negri in eine gesellschaftspolitische Konzeption eingeordnet, was sich in folgende Thesen zusammenfassen lässt:

1. immaterielle Arbeit ist eigentlich ein "recht zweideutiger Begriff". "Es wäre besser, die neue hegemoniale Form als 'biopolitische Arbeit' zu verstehen... Der Ausdruck biopolitisch weist darauf hin, dass traditionelle Unterscheidungen zwischen dem Ökonomischen, dem Politischen, dem Gesellschaftlichen und dem Kulturellen zunehmend verwischen." (M 127)

2. In das Zentrum der Gesellschaft rückt mit der Hegemonie des Immateriellen oder der Biopolitik die lebendige Arbeit. "Lebendige Arbeit kann vom Kapital eingeengt und darauf reduziert werden, Arbeitskraft zu sein, gekauft und verkauft zu werden, Waren und Kapital zu produzieren; doch lebendige Arbeit geht immer darüber hinaus." (M 167)

3. Weil biopolitische Produktion, das Ganze der lebendigen Arbeit, nicht messbar und nicht eingeengt bleibt, muss das Fundament der Kritik der politischen Ökonomie, der Zusammenhang von Arbeit und Wert, revidiert werden. Marx hatte für die Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsformation formuliert: "Die Grundlage ... des bürgerlichen Systems - des Begreifens seines inneren organischen Zusammenhanges und Lebensprozesses - ist die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit",[4] nur dann kann in der Ökonomie der geschichtliche Kampf und Entwicklungsprozess der Klassen erfasst werden. Hardt/Negri behaupten: "Die Einheit Arbeitszeit als Grundmaß des Werts macht heutzutage keinen Sinn mehr. Arbeit bleibt zwar die Hauptquelle des Werts", aber Arbeitstag und Arbeitszeit verändern sich unter der Hegemonie der immateriellen Arbeit oder der Biopolitik. (vgl. M 166)

4. Mit der Nichtmessbarkeit und der Tendenz zum Gemeinsamen, über das Kapital hinausgreifend, werden alle Methoden der Rechnungsführung hinfällig, das Kapitalverhältnis basiert nicht mehr auf der Aneignung von Surplusarbeit oder Mehrwert, also faktisch dem Diebstahl von fremder Arbeitszeit. Hardt/Negri fallen damit selbst hinter die kritischen Einsichten der klassischen politischen Ökonomie zurück. In ihren Augen muss die politische Ökonomie wieder "zur Ethik werden" (M 177).

Im Zentrum der Argumentation steht die vergesellschaftete Arbeit im gegenwärtigen Kapitalismus. Die Keimformen assoziierter Arbeit müssen nicht mehr in einem mühsamen Stellungskrieg immer wieder dem Kapital abgerungen und ihr Entwicklungspotenzial in den verschiedensten gesellschaftlichen Lebensbereichen zur Geltung gebracht werden. "Die Hauptkräfte in der Geschichte der Widerstands- und Befreiungsbewegungen der Moderne sind, ebenso wie die kreativsten Widerstandsbewegungen der Moderne heute, im Grund nicht allein durch Kampf gegen Elend und Armut angetrieben, sondern zugleich durch einen starken Wunsch nach Demokratie... Diese Demokratie ist ... ein in den großen Revolutionen der Neuzeit entstandener Traum, der jedoch niemals Wirklichkeit wurde." (M 85) "Die Möglichkeit der Demokratie im Weltmaßstab eröffnet sich heute zum allerersten Mal... Das Projekt der Multitude drückt nicht nur den Wunsch nach Gleichheit und Freiheit aus, es verlangt nicht nur eine offene und alle einbeziehende demokratische globale Gesellschaft, sondern stellt auch die Mittel bereit, dies alles zu erreichen." (M 7) Diese Endphase ist in den Augen von Hardt/Negri mit der latenten "Biomacht" der "Multitude" faktisch erreicht: "Die kapitalistische Vorgeschichte ist dann zu Ende, wenn soziale und subjektive Kooperation nicht mehr Produkt, sondern Voraussetzung ist, wenn das nackte Leben in den Rang einer Produktivkraft erhoben wird oder genauer: wenn es als Reichtum der Virtualität erscheint." (E 374) Zu dieser nietzscheanischen Umwertung von geschichtlichem Resultat in Voraussetzung führt sie ihre eigentümliche Sicht auf die Krise des Fordismus, in der sie diesen neuen Charakter lebendiger Arbeit durchgesetzt sehen. "Der Übergang von einer Phase der Perfektionierung des Disziplinarregimes zur darauffolgenden Phase, der das Paradigma der Produktion verschob, wurde von unten angetrieben, von einem Proletariat, dessen Klassenzusammensetzung bereits verändert war. Das Kapital hatte kein Bedürfnis, ein neues Paradigma einzuführen (auch wenn es dazu in der Lage gewesen wäre), weil der Augenblick seiner Schöpfung bereits stattgefunden hatte. Das Problem des Kapitals bestand vielmehr darin, eine neue Zusammensetzung zu beherrschen, die autonom entstanden war und die ein neues Verhältnis von Natur und Arbeit definierte, ein Verhältnis autonomer Produktion." (E 286) Im Zentrum dieses postfordistischen Arrangements verorten Hardt/Negri die "immaterielle Arbeit", die alle Komponenten der neuen Arbeitsorganisation sowie der gesamten gesellschaftlichen Reproduktion umgreift: die Informatisierung der industriellen Produktion, die analytischen und symbolischen Anforderungen an die Handhabung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie den affektiven Charakter aller Arten zwischenmenschlicher "Beziehungsarbeit" (Familie, Pflege, soziale Dienste etc.).

Dieser immateriellen Arbeit, die die Postmodernisierung der globalen Ökonomie vorangetrieben hat, attestieren Hardt/Negri eine geradezu systemsprengende Qualität, die den Charakter der Ware Arbeitskraft und damit der gegenwärtigen Lohnarbeit radikal verändere: Sie "stellt den alten, sowohl der klassischen Politischen Ökonomie als auch MarxÂ’ Kritik geläufigen, Begriff von Arbeitskraft als 'variables Kapital' in Frage, da in diesem Begriff die Arbeitskraft so verstanden wird, dass sie nur durch das Kapital ihren Zusammenhang erfährt und in Bewegung zu setzen ist; das kooperative Vermögen der Arbeitskraft (und insbesondere der immateriellen Arbeit) hingegen bietet der Arbeit die Möglichkeit der 'Selbstverwertung'. Die Hirne und Körper brauchen auch weiterhin die anderen, um Wert zu produzieren, doch die anderen, die sie brauchen, stellen nicht mehr notwendigerweise das Kapital und seine Fähigkeit, die Produktion zu orchestrieren. Heute haben Produktivität, Reichtum und das Schaffen eines gesellschaftlichen Surplus die Form der kooperativen Interaktion angenommen, die sich sprachlicher, kommunikativer und affektiver Netzwerke bedient." (E 305)[5] Drei Argumente wollen wir gegen die Interpretation von der Auflösung des Zusammenhanges von Arbeitszeit, Wert und gesamtgesellschaftlicher Lebenszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft vortragen: 1. Zur Entwicklung von materieller und immaterieller Arbeit, 2. die Veränderung innerhalb Eigentümerseite, also des Kapitals und 3. welchen Stellenwert hat Biopolitik.

Preisgabe der Werttheorie

Erstens: Bei Hardt/Negri bleibt der Transformationsprozess von der Hegemonie der industriellen Arbeit zur Biopolitik oder immateriellen Produktion völlig unbestimmt. Diese Entwicklung ist nur zu verstehen, wenn man das Kapitalverhältnis genauer betrachtet und die Triebkraft an der Entwicklung der Ausbeutungsrate und der Aneignung von unbezahlter Arbeit als dem Grund des Surplus ernst nimmt. Dann lassen sich erhebliche Zweifel am von Hardt/Negri behaupteten "Inklusionscharakter" immaterieller Arbeit anbringen und es kann gezeigt werden, wie die kapitalistische Produktivkraftentwicklung die lebendige Arbeit gleichermaßen höherentwickelt wie exkludiert, überflüssig macht und degradiert.

Das Kapital entwickelt die Produktivität der Arbeit, was aber nur um den Preis des Anwachsen des konstanten oder fixen Kapitals zu haben ist. Die wichtige Schlussfolgerung daraus: "Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine Wissen ... zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind."[6] Zur enormen Bedeutung des Kapital fixe in all seinen Formen gehört, dass das einzelne Kapital hilflos erscheint gegenüber der im Kapital repräsentierten, konzentrierten Gemeinsamkeit oder Gesellschaftlichkeit der Arbeit. Die Entfremdung ist auf die Spitze getrieben und muss noch aufgehoben werden. Nach wie vor beherrscht das Kapital die Ökonomie der lebendigen und die der vergegenständlichten oder toten Arbeit. "Diese ganze Ökonomie, die aus der Konzentration der Produktionsmittel und ihrer massenhaften Anwendung entspringt, setzt aber als wesentliche Bedingung die Anhäufung und das Zusammenwirken der Arbeiter voraus, also gesellschaftliche Kombination der Arbeit."[7] Diese gesellschaftliche Kombinationen sind durch die Entwicklung der Kommunikations- und Informationstechnologie auf eine neue Stufe gehoben worden, sowohl die immateriellen Komponenten wie auch die wissenschaftlichen Anwendungen stehen im Zusammenhang der Wertschöpfungs- und Verwertungsketten des Kapitals. Wichtig ist dabei die Widersprüchlichkeit und Entfremdung, die bei Hardt/Negri unberücksichtigt bleiben: "Wie die kapitalistische Produktionsweise auf der einen Seite zur Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit, treibt sie auf der andern zur Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals... Ihrer widersprechenden, gegensätzlichen Natur nach geht die kapitalistische Produktionsweise dazu fort, die Verschwendung am Leben und an der Gesundheit des Arbeiters, die Herabdrückung seiner Existenzbedingungen selbst zur Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals zu zählen" (ebd. 96). Gerade die Entwicklung der immateriellen Arbeit als Bestandteil der gesellschaftlichen Arbeit ist begleitet von der ungeheuersten Verschwendung von individueller Entwicklung, d.h. die hochgradige "Ökonomisierung" heißt eben auch, dass Bildung und Qualifikation, wie Gesundheit und Existenzsicherung nur zählt, wenn sie Bestandteil der Kapitalverwertung sind. Hardt/Negri übersehen den Zusammenhang der Veränderung der gesellschaftlichen Arbeit mit dem Fixkapital, mit der Ökonomie der lebendigen Arbeit sowie der Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals und damit die zentralen gesellschaftlichen Widersprüche.

Zweitens: Die Kapitalseite betrachten Hardt/Negri kaum, insofern kommen sie zu einer verzerrten Interpretation der Verwissenschaftlichung der Produktion und der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeit. Aber die Entwicklungsprozesse auf Seiten des Kapitals sind nicht minder wichtig. Schon im 19. Jahrhundert zeichnet sich ab, dass die Trennung zwischen Kapitalfunktion und Kapitaleigentum zum allgemeinen Faktum werden könnte. In den Aktiengesellschaften haben wir es mit Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital zu tun. Wir sind mit einem Hegemoniewechsel von den Privatkapitalisten und der Übergangsform des Managerkapitalismus hin zum Vermögenskapitalismus konfrontiert. Die Herrschaft der Vermögensbesitzer und ihrer Vermögensverwalter reproduziert eine neue Finanzaristokratie; Machtverschiebungen innerhalb der Gesellschaftsunternehmen, Widersprüche zwischen Privatunternehmen und Gesellschaftskapital, sowie nicht zuletzt innerhalb der herrschenden Klasse. Auf diese Entwicklungsstufe einer Privatproduktion ohne Kontrolle des Privateigentums passen die für die Machtverhältnisse des Familienkapitalismus entwickelten Vorstellungen nur noch eingeschränkt: "Vorstellungen, die auf einer minder entwickelten Stufe der kapitalistischen Stufe der kapitalistischen Produktion noch einen Sinn haben, werden hier völlig sinnlos. Das Gelingen oder Misslingen führen hier gleichzeitig zur Zentralisation der Kapitale und daher zur Expropriation auf der enormsten Stufenleiter." (ebd. 455)

Im Unterschied zu Hardt/Negri ist für das Verständnis der Entwicklungstendenzen in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften daran festzuhalten, dass die Grundlage der Wertschöpfung und Verwertungsstrukturen immer noch die Aneignung von Surplusarbeitszeit oder der Diebstahl an unbezahlter Arbeit ist, selbst wenn dieser Diebstahl auf Grundlage einer hochentwickelten gesellschaftlichen Kombination von Arbeitskräften und auf Grundlage einer extrem gesteigerten Widersprüchlichkeit auf Seiten des Gesellschaftskapitals stattfindet.

Foucaults Biopolitik

Drittens: Hardt/Negri greifen zur Bestimmung der Charakteristika des modernen Kapitalismus auf die Thesen von Foucault von der Transformation der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft zurück, der durch die Geburt der Biopolitik markiert wird. Foucault unterstreicht zu Recht: "Der Kapitalismus, der sich Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelt, hat zunächst einmal ein erstes Objekt vergesellschaftet, den Körper, in seiner Funktion als Produktiv- oder Arbeitskraft. Die Kontrolle der Gesellschaft über die Individuen wird nicht nur über das Bewusstsein oder durch die Ideologie, sondern ebenso im Körper und mit dem Körper vollzogen. Für die kapitalistische Gesellschaft war vor allem die Bio-Politik wichtig, das Biologische, das somatische und das Körperliche."[8] Ein Großteil seiner Forschungstätigkeit hat Foucault dieser Entwicklung gewidmet. Seine zentrale These für den modernen Kapitalismus lautet: "Nimmt man den Beveridgeplan als symbolischen Bezugspunkt, so ist im Verlauf des Jahrzehnts von 1940 bis 1950 die Ausformulierung eines neuen Rechts, einer neuen Moral, einer neuen Ökonomie und einer neuen Politik des Körpers zu beobachten." (ebd. 57) Der These von der Einführung der Gesundheit oder mehr noch der sozialen Sicherheit in die politische Ökonomie wird man nicht widersprechen können; es handelt sich in der Tat um einen qualitativen Schritt in der Entwicklung von sozialen Sicherungssystemen mit weitreichenden Auswirkungen auf die Individuen. Strittig müsste mit Foucault verhandelt werden, welchen Anteil an dieser Geburt der Biopolitik die sozialen Kämpfe und damit die Gestaltung durch Gewerkschafts- und Arbeiterbewegungen haben und welches Gewicht dem Regierungshandeln zuzusprechen ist. Unstrittig sind wohl vier Aspekte:

a) Mit dem Beveridgeplan und vergleichbaren Konzeptionen des Sozial- oder Wohlfahrtsstaates übernimmt der Staat die Verantwortung für soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung. "Mit dem Beveridgeplan verwandelt sich die Gesundheit in einen Gegenstand, um den sich die Staaten nicht um ihrer selbst, sondern um der Individuen willen zu kümmern haben." (ebd. 53) Dies ist aber keine Selbstverständlichkeit, denn die Tendenz zur Privatisierung und zur Herstellung der ownership society zeigt an, dass Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit wieder zur Privatsache degradiert werden sollen. Was Hardt/Negri als Handlungsdimension der Multitude aufgreifen, hat viel mit dem Widerstand gegen die Politik der Privatisierung und einer vermeintlichen Ökonomisierung aller Sphären der Gesellschaf zu tun.

b) "Die gesellschaftlichen Umverteilungen, die man sich von den Systemen der Sozialversicherungen erhoffte, haben die erwartete Funktion nicht erfüllt: In Wirklichkeit ist die Ungleichheit im Konsum medizinischer Dienstleistungen genauso bedeutend wie einst." (ebd. 74) Auch hier kann man über den Grad der Umverteilung geteilter Auffassung sein. Fakt ist in jedem Fall, dass eine erfolgreiche Tendenz der Privatisierung die sozialen Unterschiede dramatisch steigern wird.

c) Was Foucault mit "Biopolitik" vornehmlich nur als Verhältnis von Staat, Bevölkerung und Gesellschaft in den Blick nimmt, bezieht aber seine Entwicklungsdynamik in erster Linie aus dem System gesellschaftlicher Arbeit selbst. Im 20. Jahrhundert hat sich das Lohnarbeitsverhältnis nach und nach "zu einer stabilen gesellschaftlichen Position entwickelt, mit der Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche verbunden wurden, die geeignet waren, einen gesellschaftlichen Bürgerstatus zu begründen. Diese Verknüpfung von Arbeit und sozialer Sicherung kann als die große Innovation der Erwerbsgesellschaft gesehen werden."[9] Diese Innovation kann auf einer Entwicklungstendenz des Kapitals selbst aufbauen, nämlich "die Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer aus der Gesellschaft selbst hervorgehender Bedürfnisse"[10] Über die gewerkschaftlich und politisch erkämpfte Partizipation auch der subalternen Klassen an "disposable time" können sich die gesellschaftlichen Subjekte zu "eigenschafts- und beziehungsreichen" (Marx) Individuen entwickeln, was auch ihr Verhältnis zur und in der Arbeit berührt: "Die freie Zeit - die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist - hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß." (ebd. 599) Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie legt also im Kapitalverhältnis selbst eine Dialektik von sozialen Bedürfnissen - das, was Foucault Biopolitik nennt - und Individualität frei, die Hartd/Negri nicht in den Blick bekommen. Aber dieser gesellschaftsgeschichtlich erreichte Zusammenhang wird seit den 1980er Jahren zunehmend wieder zurückgedreht und zerstört, so dass Castel von einer regelrechten Zersetzung der Lohnarbeitsgesellschaft spricht und von einem "'negativen' Individualismus, weil er in Begriffen des Mangels - Mangel an Ansehen, Mangel an Sicherheit, Mangel an gesicherten Gütern und stabilen Beziehungen - durchdekliniert werden kann."[11] Foucault versucht diese Entwicklung innerhalb der "Biopolitik" mit einer veränderten "Ökonomie der Macht" in den Blick zu bekommen.

d) Wie weit dabei die Machtverhältnisse über die Biopolitik in das Innere der Körper übergehen, bleibt weiter zu erforschen. Für das Verständnis der kapitalistischen Gegenwart und politischer Konzeptionen für gesellschaftlichen Widerstand gegen Ausbeutung, Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerungen und Privatisierung von Bildung, Gesundheit und sozialer Sicherheit ist bemerkenswert, dass trotz großer ideologischer Anstrengungen große Teil der Bevölkerung auf der Sozialisierung oder kollektiven Regelung dieser Seiten der Existenz beharren. Wir interpretieren Foucault in der Weise, dass er weit antizipierend für eine genaue Untersuchung der Politik der Neoliberalismus eintrat, eine Fragestellung und eine politische Herausforderung, die bei Hardt/Negri kaum mehr vorkommen: "Worauf sich jedoch die Aufmerksamkeit im Fall dieses amerikanischen Neoliberalismus richtet, ist der Umstand, dass es sich um eine Bewegung handelt, die völlig dem entgegengesetzt ist, was man in der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland findet... der amerikanische Neoliberalismus (sucht) eher die Rationalität des Marktes auszudehnen... Was jetzt folglich untersucht werden müsste, ist die Weise, in der die spezifischen Probleme des Lebens und der Population innerhalb einer Regierungstechnologie gestellt wurden, die ... seit dem Ende des 18. Jahrhunderts unablässig von der Frage des Liberalismus beherrscht wurde."[12]

Krise des Fordismus und die Folgen

Es ist unbestritten, dass die vielfältigen Umbrüche zu neuen Formen der Arbeitsorganisation seit Mitte der 70er Jahre Kooperation und Subjektivität in der Arbeit erhöht haben. Aber Hardt/Negri reden sich diesen gesellschaftlichen Transformationsprozess schön, wenn sie ihn als aktiv gesteuerten Prozess der "Multitude" hinstellen und den Charakter der Kapitalverwertung als aufgehoben ansehen. Gerade die neoliberale Deregulierungspolitik im Gefolge der Krise der fordistischen Massenproduktion, der sozialstaatlichen Umverteilungspolitik und des internationalen Währungs- und Finanzregimes beförderte das Zerbrechen der tayloristischen Arbeitsorganisation. Dies eröffnete zwar Teilen der Lohnabhängigen neue Formen der Kooperation und Selbständigkeit; zugleich werden auf dieser Grundlage großflächige Entsolidarisierungsprozesse gesellschaftlich mehrheitsfähig. Die hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften des "Empire" spalten sich längs einer unternehmerischen Kultur der neuen Selbständigkeit, die zugleich mit einer rigorosen Rekommodifizierung der Ware Arbeitskraft für weite Teile der Lohnabhängigen einhergeht. Die Einbindung der lebendigen Arbeit als "variables Kapital" in die betriebliche Kostenökonomie und Wertschöpfungskette tritt ganz entgegen den Annahmen von Hardt/Negri krasser zu Tage denn je. Gleichzeitig resultiert dieses Regime einer "wertorientierten Unternehmensführung" keineswegs in einer dauerhaft erhöhten und stabilen Reichtumsproduktivität einer gesamtgesellschaftlichen Netzwerkökonomie, wie sie sich die Autoren zurechtlegen.

Die politische Schlussfolgerung aus dieser Bestandsaufnahme lautet: die Gewerkschaften sind in der Defensive; die als Geburt der Biopolitik erkämpften sozialen Rechte und Umverteilungsstrukturen drohen verloren zu gehen; angesichts eines hoch differenzierten gesellschaftlichen Arbeitskörpers findet die neoliberale Privatisierungspolitik starke Resonanz; in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften bilden sich zwei nahezu gleich starke Lager heraus; die Verteidigung des Lohnarbeitstatus, der unterliegenden sozialen Rechte und die Weiterentwicklung in Richtung sozialer Emanzipation ist dann zu leisten, wenn es gelingt, um die Gewerkschaften und andere widerständige Gruppierungen einen breiten oppositionellen Block zu formieren, der dann in der Konfrontation mit der neoliberalen Politik einen radikalen Politikwechsel durchsetzen kann. Wir kritisieren Hardt/Negri wegen ihrer Analyse und der einseitigen Schlussfolgerungen für eine moderne politische Konzeption, nicht weil es Sinn machen würde, an überlebten Strategien festzuhalten.

Die Marxsche These aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, deren Kontext Hardt/Negri für ihre Sichtweise auf die immaterielle Arbeit bemühen, besitzt nach wie vor Aktualität: "Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffne." Die Aufhebung dieses Widerspruchs bleibt eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die zum einen eine Aufhebung der neoliberalen Deregulierungspolitik, zum anderen die Erneuerung einer Kultur der Arbeit einschließt. Letzteres halten Hardt/Negri für nicht mehr zeitgemäß. Zum einen sehen sie ein solches Projekt "mit dem Verfall der Rolle und Bedeutung von Gewerkschaften, mit dem Rückgang kollektiver Verhandlungen und mit der zerfallenden Repräsentation von Arbeit" (E 337) für erledigt. Zum anderen verunmöglicht die Generalität biopolitischer Produktion, "die Unterscheidungen zwischen produktiver, reproduktiver und unproduktiver Arbeit aufrechtzuerhalten." (409) Statt um eine Reorganisation gesellschaftlicher Arbeit zu kämpfen, wird es die "programmatische politische Forderung der Menge: nach einem sozialen Lohn und nach einem garantierten Einkommen für alle" in ihrer durchschlagenden Schlichtheit schon richten.

Die Kämpfe gegen alle Formen von Subalternität entwickeln sich aus den Volksbewegungen; sie lassen - soweit ist die Bestandsaufnahme unstrittig - den nationalstaatlichen Rahmen hinter sich und beziehen sich mehr und mehr auf universelle Bürgerrechte, inklusive den sozialen Rechten an der Partizipation bei Produktion und Aneignung des Reichtums. Sicherlich geht es darum, sich von der Borniertheit der lokalen und berufsständischen Widerstandsoperationen freizuhalten. Aber die Lust, in Netzwerken zu arbeiten, läuft nicht zwangläufig auf den umfassenden Protest gegen die Macht des Empire hinaus. Auch die Menge in Rom und anderswo muss zum einen im Protest organisiert werden. Die Linksgewerkschaft CGIL bündelt in Italien den Widerstand gegen die weitere Zerstörung der sozialen und der Partizipationsrechte der Lohnabhängigen. Noch wichtiger ist schließlich, dass selbst, wenn das Empire vor der faktischen Macht der neuen Subjektivität zusammenbricht, daraus im Selbstlauf weder eine neue, bewusst-gesellschaftliche Ökonomie noch ein neuer Modus der Umverteilung entspringt. Auch hierbei ist die Macht der Organisation unverzichtbar, d.h. die Zusammenfassung und Bündelung der Willensverhältnisse der Vielen zu einer Zielvorstellung. Und es bleibt bei der traditionalistischen Erkenntnis: Der Staat, die politische Form des Gemeinwesens, ist zunächst das Instrument, um eine veränderte Zivilgesellschaft und eine bewusste Vergesellschaftung der Ökonomie zu erzeugen. In der Folge der weiteren Entwicklung kann dann auf dieser Grundlage das spontane Wirken der Gesetze des kapitalistischen Marktes abgelöst werden. Es gilt, in der politischen Form der sozialen Emanzipation den gegenwärtigen kapitalistischen Charakter der organisierten Arbeit und der zentralisierten Arbeitsmittel umzuwandeln. Nach einem längeren Entwicklungsprozess würden demnach die spontanen Gesetze der Lohnarbeit im Kapitalismus ersetzt durch das spontane Wirken der Gesetze der gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten Arbeit und der Warencharakter des lebendigen Arbeitsvermögens kann weiter zurückgedrängt werden.

Eine neue Sichtweise auf das 20. Jahrhundert?

Die Spaltung der Welt mit der russischen Revolution und der nachfolgenden Polarität in der Weltordnung, der Kalte Krieg, der Ausbau der US-Hegemonie, die Dekolonialisierung und das Scheitern des stalinistischen Projektes einer sozialistischen Modernisierung - all diese Zäsuren prägen die Geschichte des 20. Jahrhunderts und deren Verarbeitungen in Wissenschaft und Alltagsbewusstsein. Stellt man sich mit Hardt/Negri auf die Ebene der Subjektivität, gewinnt die Logik des Klassenkampfes eine klare Kontur, und der Übergang vom Imperialismus zum Empire ist als zwangsläufig zu verstehen. Die wirklich wichtige Zäsur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbirgt sich hinter dem Zusammenspiel von postkolonialer Transformation der "Dritten Welt", dem massiven Protest der Subalternen in den kapitalistischen Hauptländern Ende der 60er Jahre und der Herausbildung eines neuen Produktionsregimes in den USA.

Die weltweite Herausbildung einer neuen Subjektivität erzeugte über die Akkumulation von Kämpfen einen Paradigmenwechsel in der gesellschaftlichen Entwicklung. "Die globale Gleichzeitigkeit der Kämpfe untergrub die kapitalistische und imperialistische Disziplinarmacht, und die seit fast 30 Jahren weltweit herrschende Wirtschaftsordnung, das Goldene Zeitalter des kapitalistischen Wachstums unter US-Hegemonie, beginnt sich aufzulösen." (E 275) Was in den Unruhen von 1968, den Arbeiterprotesten und den kolonialen Befreiungskämpfen zum Ausdruck kam, wird von Hardt/Negri - ganz im Sinne des philosophischen Kronzeugen Nietzsche - auf eine weltumspannende Bewegung der Umwertung der Werte zurückgeführt. "Die massenhafte Verweigerung gegenüber dem Disziplinarregime in ihren vielfältigen Formen war nicht einfach ein negativer Ausdruck, sondern selbst ein schöpferisches Moment, nietzscheanisch formuliert: eine Umwertung der Werte." (E 284) Die Erzeugung der neuen Subjektivität hatte viel mit der Entwicklung des Lohnes, dem Sozialeinkommen, der Differenzierung von Gesellschaft und gesellschaftlichem Arbeitskörper, der Entwicklung des Wissens und dem geschärften Bewusstsein gegenüber ethnischer Kolonialisierung und Ausgrenzung zu tun. In der Akkumulation der Kämpfe wuchsen neue Werte - Mobilität, Flexibilität, Wissen, Kommunikation, Affekt - und diese neue Subjektivität und die entsprechenden Ansprüche machten den Weg frei für eine umfassende Transformation des Produktionsmodells und der gesellschaftlichen Arbeit. "Kapitalistische Verhältnisse dehnen sich aus und subsumieren die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion, den gesamten Bereich des Lebens, in jeder Hinsicht, und zugleich definieren kulturelle Verhältnisse Produktionsprozesse, ökonomische Strukturen und den Wert. Die ungeheuere Akkumulation der Kämpfe zerstörte ein Produktionsregime, das vor allem auch ein Produktionsregime der Subjektivität war, und erfand ein neues." (E 285) Allerdings: In dem neuen Produktionsmodell, das auf die neue Subjektivität und die neuen Werte aufbauen musste, wird die Perfektionierung des Disziplinarregimes auf die Spitze getrieben; es wird völlig obsolet; und erstmals verändert sich nicht nur die gesellschaftliche Zusammensetzung der eigentlichen Reichtumsproduzenten, sondern der Staat hat Mühe, einen Massenkonsens zu organisieren, d.h. die Menge sträubt sich mehr und mehr, in Volk transformiert zu werden. Der Blick auf die globale Menge und ihre Macht wird frei.

Imperiale Souveränität und Demokratie der Multitude

Auch bei ihrer Konstruktion einer neuen Weltordnung durch das "Empire" begegnet uns der nietzscheanische Impetus von Hardt/Negri wieder. Gemeinhin wird die grenzenlose Zirkulation von Kapital, Militär und Machtverhältnissen im Rahmen des "Empire" gegenüber dem herkömmlichen Imperialismus herausgestellt. Letzterer war gerade durch Begrenzungen charakterisiert, die er durch Expansion des Nationalstaates und Durchsetzung kolonialer Verhältnisse immer wieder zu überwinden versuchte. Für die neue Weltordnung der Gegenwart führt diese Grenzenlosigkeit des "Empire" zu einem permanenten Ausnahmezustand Carl Schmittscher Prägung, über den multinationale Kapitale und entsprechende politische Eliten durch humanitäre Interventionen bestimmen. Aber wie ist die Grenzenlosigkeit imperialer Souveränität bei Hardt/Negri historisch begründet?

Es ist der "expansive Freiheitsbegriff" (E 379) der amerikanischen Massendemokratie, in dem die Grenzenlosigkeit imperialer Vitalität vorgebildet ist. Mit Hannah Arendt wird das "Finis Europae" des alten, saturierten, parasitären und imperialistischen Kontinents im 20. Jahrhundert begründet. Als sie "behauptete, dass die amerikanische Revolution der Französischen überlegen sei, da die amerikanische eine unbegrenzte Suche nach politischer Freiheit sei, während es sich bei der Französischen Revolution lediglich um eine begrenzte Auseinandersetzung aufgrund von Knappheit und Ungleichheit gehandelt habe, pries sie nicht nur ein Freiheitsideal, das die Europäer gar nicht mehr kannten, sondern reterritorialisierte es in den Vereinigten Staaten." (E 388) Vorgebildet war dieses amerikanische Freiheitsideal wiederum nach Hardt/Negris Geschichtsphilosophie im frühbürgerlichen revolutionären Renaissance-Humanismus eines Machiavelli. Bei ihm "wird die expansive Regierung von der Dialektik der gesellschaftlichen und politischen Kräfte der Republik angetrieben. Nur dort, wo die Gesellschaftsklassen und ihre politischen Ausdrucksformen eine offene und fortwährende Rolle als Gegenmacht spielen, verbinden sich Freiheit und Expansion miteinander, und nur dort wird folglich auch das Empire möglich." (E 379) Wie kann dieser expansive Republikanismus der amerikanischen Bourgeoisie zu einem Projekt der "Multitude" werden? Erst am Ende der europäischen Aufklärung, ihrer Dialektik zwischen Mythos und Moderne, Krise und Ordnung ist dies der Fall. "Der Auftritt der Massen auf der gesellschaftlichen und politischen Bühne, die Erschöpfung der kulturellen und produktiven Modelle der Moderne, das Schwinden der imperialistischen Projekte Europas, die Konflikte zwischen Nationen um Fragen der Knappheit, der Armut und des Klassenkampfs - all das waren irreversible Zeichen des Niedergangs". (E 382) 1968 und die Rückkehr der USA nach ihrem imperialistischen Irrweg in Vietnam zu den Idealen ihrer Verfassung markieren für Hardt/Negri die Zeitenwende. Hier kommt Nietzsche zum Einsatz. Machiavelli, Spinoza und Foucault reichen sich die Hände. "Die Erfahrung der Revolution wird nach der Moderne wieder geboren werden, aber unter neuen Bedingungen, welche die Moderne auf so widersprüchliche Weise geschaffen hat. Machiavellis Rückkehr zu den Ursprüngen scheint sich mit der heroischen ewigen Wiederkehr bei Nietzsche zu verbinden." (E 104) Hardt/Negri feiern die Menge als "Überheld" und imaginieren sie in ein "säkulares Pfingstfest expansiven Handelns". Dafür ist das Empire unabdingbare Voraussetzung. "Von unserem Standpunkt aus jedoch ist die Tatsache, dass sich gegen die alten Mächte Europas ein neues Empire herausgebildet hat, nur zu begrüßen. Denn wer will noch irgend etwas von der angekränkelten und parasitären herrschenden Klasse Europas wissen, die vom Ancien Regime direkt zum Nationalismus überging, vom Populismus zum Faschismus und die heute auf einen generalisierten Neo-Liberalismus drängt?" (E 383)

Dies sind Hardt/Negris Schlussworte zum letzten Drittel des 20. und zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Kein Wort zu den USA als einem Geburtshelfer des Neoliberalismus, zu den Zusammenhängen des Hegemoniewechsels zwischen Neoliberalismus, Clinton-Administration, modernisierter Sozialdemokratie und dem compassionate conservatism eines Bush jr. und seiner ownership society. Und kein Wort zu der politischen Passivität, die oft relevante Teile der "Multitude" in diesen gesellschaftlichen Transformationsprozessen prägt. Und vor allem kein Wort zu den Revitalisierungstendenzen eines neuen Populismus und der Gefahr wiederkehrender Nationalismen nach dem angeblichen Ende der europäischen Moderne. Wenn Hardt/Negri schon die Gewerkschaften abschreiben und Teilen der "Weltlinken" und europäischen Sozialforen "fordistischen" Politikstil einer unnützen Rekonstruktion politischer Repräsentanz vorhalten - welchen politischen Umgang empfehlen sie der Restlinken mit ganz anderen Teilen der Multitude? "Viele Wähler wollen entweder gar nichts mehr mit der Politik zu tun haben, oder sie wollen etwas ganz anderes als die traditionellen Parteiapparate. Nicht ephemere Erfolge der Linken oder der Rechten, sondern Zweifel am hergebrachten System der Demokratie und ihrer Parteien ist das Kennzeichen der Stunde."[13]

Hardt/Negri reden sich die Bedingungen und Möglichkeiten globaler Demokratie schön, wenn sie in Vergesellschaftungstendenzen des Kapitals die Demokratie der Multitude schon vorgebildet sehen. "Der so genannte 'Kommunismus' des Kapitals, das heißt sein Drang zu einer immer extensiveren Sozialisierung der Arbeit, verweist schemenhaft auf den Kommunismus der Multitude." (M 312) Garant dafür soll auch noch die "gemeinschaftsorientierte Seite" des Finanzkapitals sein (M 311). Hardt/Negri verkennen hierbei völlig den Charakter der Veränderungen der Kapitalstrukturen in den zurückliegenden Jahren. Unter normalen Akkumulations- und Konjunkturbedingungen stellt sich die Kapitalseite als gesellschaftlich-politische Formation dar, die von den gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen zu Kompromissen gezwungen werden kann, als gesellschaftliches Gesamtkapital Interesse an gleichen und regulierten Verwertungs- und Konkurrenzbedingungen hat und quasi als "kommunistische Brüderschaft" agiert. Aber mit Veränderung dieser Konstellation in der Krise des Fordismus löst sich diese Klassenformation auf und setzt sich eine Konzeption durch, die nunmehr als destruktiv bestimmt werden kann, weil regulierte Verteilungsverhältnisse, eine politisch gewollter Ausbau des Binnenmarktes und damit gesamtgesellschaftliche Stabilisatoren zerstört werden. "Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz ... als praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse"; aber über Bedingungen chronischer Überakkumulation und einer Zersetzung der gesellschaftlichen Betriebsweise verwandelt sich die "Konkurrenz ... in einen Kampf der feindlichen Brüder".[14] Darüber hinaus erzwingt das Finanzkapital eine radikale Veränderung der Wertschöpfungsketten. Der Verwertungsdruck nimmt gesellschaftszerstörerische Züge an.

Angesichts solcher Entwicklungen von "Gemeinschaftsorientierung" des Kapitals zu reden, wie Hardt/Negri es tun, ist blauäugig. Die dahinter stehenden gravierenden Veränderungen in den Über- und Unterordnungsverhältnissen des Kapitals, die ebenso veränderte politische Ausdrücke und Formen erzeugen (Marx), schnurren im geschichtsphilosophischen Duktus von Hardt/Negri auf einfache Identitäten zusammen: "Im Empire kommen Kapital und Souveränität tendenziell vollständig zur Deckung." (M 368) Dagegen produziert die gegenwärtige Transformation des Kapitalismus eine politische Ökonomie der Prekarität und Unsicherheit, die der Neoliberalismus perpetuiert, aus der er aber gleichermaßen seine politisch-ideologische Hegemonie schöpft. Diese lebt davon, die Spannungen und Widersprüche von gesellschaftlicher wie individueller Unsicherheit und sozialverpflichteter Eigenverantwortung politisch managen zu können. Die zentralen ideologischen Imperative des Neoliberalismus - "Alle Macht den Märkten und Vermögensbesitzern" und "Führe dich selbst" - und diese Formen des Führens und Regierens mit ihren individualisierenden und repressiven Seiten lassen sich als eine entwickelte Gestalt von "Gouvernementalität" begreifen, wie sie Foucault angedacht hat. Aber wie schon gesehen kommt diese wesentliche Dimension in Hardt/Negris oberflächlicher Version von "Biopolitik" nicht vor. Dies hat Konsequenzen für ihre optimistische Sicht auf den Konnex von Multitude und Demokratie.

Der ganze geschichtsphilosophisch aufgepäppelte Durchgang der politisch-theoretischen Fragen von Demokratie, Repräsentanz und öffentlicher Meinung in Hardt/Negris "Multitude" kreist unbegriffen im Kern um die Probleme einer modernen zivilgesellschaftlichen Fassung demokratischer Selbstregierung: "Die Autonomie der Multitude und ihre Fähigkeit zur ökonomischen, politischen und sozialen Selbstorganisation nehmen der Souveränität jegliche Funktion. Die Souveränität ist nicht mehr ausschließliches Terrain des Politischen, mehr noch: die Multitude verbannt die Souveränität sogar aus der Politik. Wenn die Multitude endlich in der Lage sein wird, sich selbst zu regieren, dann wird Demokratie möglich." (M 375) Aber der Zusammenhang von Ökonomie, Zivilgesellschaft und Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts passt nicht zu einer simplen Konstruktion von "Exodus der Multitude aus der Politik", wie Hardt/Negri dies propagieren:

- Die frühbürgerliche Utopie einer Selbstregierung, auf die sich Hardt/Negri so gerne berufen, ist heute ideologischer Bestandteil neoliberaler Hegemonie, die von der politischen Linken allererst zurückerobert werden muss. Autonomie auf betrieblicher Ebene und Transformation staatlicher Souveränität in Richtung eines "market state" werden heute von Kapitalseite und der politischen Klasse proklamiert bei gleichzeitiger Einbindung in weitere Vermarktlichungsprozesse und Shareholder value-Strukturen. Diese paradoxe Form von Subordinierung - "Mehr Druck durch mehr Freiheit" - bindet auch Teile der Multitude in den Neoliberalismus ein.

- Nach Hardt/Negris Thesen zur immateriellen Arbeit, zu erhöhter Subjektivität und gestiegenen Bildungsniveaus sowie größerer sozialer und kommunikativer Affektivität hätte eine Ausweitung partizipativer Formen in den meisten hochentwickelten kapitalistischen Ländern in den letzten Jahren registriert werden müssen. Aber die Untersuchungen dieses Sozialkapitals im internationalen Vergleich kommen zu durchaus ambivalenten Ergebnissen.[15] Die empirisch konstatierbare Tendenz zu geringerer politischer Partizipation in allen wesentlichen Formen der Repräsentanz markiert einen denkwürdigen Umbruch. Hatten Generationen der "Multitude" seit Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation für eine Ausweitung politischer Rechte gekämpft, so wird jetzt zunehmend auf die Ausübung dieser Bürgerrechte verzichtet. Diese Tendenz einer wachsenden Entkoppelung von Politik und Gesellschaft wird von Hardt/Negri in den Exodus der Multitude aus dem Empire umgedeutet.

- Damit wird die politische Aufgeklärtheit der Multitude schön geredet und die Gefahr von Rechtspopulismus, Xenophobie und Rassismus in den eigenen Reihen unterschlagen. Die Spaltungs- und Prekarisierungsprozesse innerhalb des gesellschaftlichen Arbeitskörpers werden die Multitude nicht unberührt lassen. Im Gegenteil: Die politische Ökonomie der Unsicherheit im gegenwärtigen Empire führt zu einer explosiven Gemengelage. "Die Demokratie (kann) immer entgleisen, wenn extrem rechte Positionen sowie konservative ökonomische und politische Institutionen eine Schnittmenge bilden."[16] Das vermag auch eine erhöhte Aktivität politischer Partizipation und Repräsentanz von Teilen der Multitude nicht unbedingt verhindern, wie Richard Sennett der Linken anlässlich der US-Präsidentschaftswahlen zu Bedenken gibt: "So scheint das Land exakt zweigeteilt." Dem zugrunde liegt eine (im Wahlkampf aktivierte) Transformation von wirtschaftlichen in kulturelle Unterschiede: "Amerikas verworrene, angstbesetzte Erfahrung von Klassenunterschieden." (ebd.)

- Angesichts der nach wie vor zu beobachtenden Eingebundenheit von Teilen der Multitude in die herrschende Politik und ihre politische Apathie muss hier ein weiteres Mal Nietzsches Umwertung der Werte zum Einsatz kommen. Hardt/Negri drehen den Spieß einfach um: "Für die Multitude jedoch gibt es keine prinzipielle Verpflichtung gegenüber der Macht ... Eine Verpflichtung besteht für die Multitude lediglich im Prozess der Entscheidungsfindung, als Ausfluss ihres aktiven politischen Willens." (M 374) Aber gerade die Bedingungen und Möglichkeiten zur Aktivierung eines kollektiven politischen Willens sind heute brüchiger geworden als je zuvor. Hardt/Negri bemühen sich nun nicht weiter um eine Vermittlung mit den veränderten Formen und Bedingungen von Hegemonieausübung, um hier selbst Ansatzpunkte für ein emanzipatorisches gesellschaftliches Projekt auszumachen. Trotz massiver Exklusionsprozesse im gegenwärtigen Kapitalismus wird der Multitude einfach die konstituierende Macht zur Inklusion zugesprochen.

Die Kritik an den politischen Klassen der kapitalistischen Länder ist zwar z.T. massiv ausgebildet und nachvollziehbar. Große Teile der "Multitude" haben weder ein Zutrauen zu den linken Teilen im Repräsentativsystem, noch erwarten sie von diesen Kräften eine Reorganisation der gesellschaftlichen Arbeit und damit der gesellschaftlichen Gesamtorganisation. Aber die politische Apathie ist eben kein Garant für Emanzipation. Es müssen die fortbestehenden Herrschaftsverhältnisse überwunden und die neuen Formen gesellschaftlicher Arbeit in praktische Wirksamkeit freigesetzt werden. Dies unterstellt die Bündelung von Willensverhältnissen, dafür bedarf es Aufklärung und politischer Aktion. Die Herrschaftsstrukturen des Shareholder-Kapitalismus oder des Kapitalismus der Vermögensbesitzer werden nicht durch das geduldige Nicht-Handeln, Verweigerung und "Exodus" der Menge aus der Welt geschafft. Im Gegenteil: Autoritäres Regieren lebt von der politischen Apathie der Bürger, die ihren eigenen privaten Interessen nachgehen, während die politische Klasse das allgemeine Interesse zur eigenen Bereicherung instrumentalisiert. Wir müssen die politischen Verhältnisse verändern und wir brauchen eine veränderte Organisation von Wertschöpfung und gesellschaftlicher Arbeit. Dafür bedarf es organisatorischer Strukturen.

Die Polemik von Hardt/Negri gegen die vermeintlich überlebten Strategiekonzeptionen der politischen Linken machen nur Sinn vor dem Hintergrund der Vorstellung, dass es keiner gesellschaftlichen Arbeit mehr bedarf. Der gesellschaftliche Reichtum entsteht gleichsam von selbst, und es bedarf nur der Regelung einer umfassenden Partizipation durch ein garantiertes Einkommen. Es soll nicht bestritten werden, dass die Forderung nach einem sozialen Lohn eine Herausforderung an das Kapital darstellt. "Da die staatsbürgerlichen Rechte allen zustehen, können wir dieses garantierte Einkommen als Bürgereinkommen bezeichnen, das jedem Mitglied zusteht." (E 410) Aber mit der Aufhebung der Individualisierung des Lohnes - sozialer Lohn - ist der wesentliche Unterschied zwischen Lohn- und Kapitaleinkommen noch lange nicht verschwunden. Der kommunistische Militante findet - so Hardt/Negri - in der gemeinsamen Lebenssituation der Menge deren ungeheueren Reichtum. Aber die Legende des Hl. Franz von Assisi kann heute nicht Vorbild sein, weil es nicht um eine Egalität in der Armut, sondern um Individualität im gesellschaftlichen Reichtum geht. Jedem nach seinen Bedürfnissen. Im Schlusswort des Empire-Folgebandes "Multitude" wird die Perspektive einer emanzipierten Individualität ein weiteres Mal düpiert, indem Hardt/Negri eine hinterwäldlerische Versöhnungsphilosophie propagieren und der Multitude ein vormodernes Gesellungskonzept andienen. Der affektive Gehalt immaterieller Arbeit wird auf den Begriff gebracht: "Wir müssen uns die öffentliche und politische Vorstellung von Liebe wieder zu Eigen machen, die den vormodernen Traditionen gemeinsam war." (M 387)

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus. Letzte Buchveröffentlichung: Entfesselter Kapitalismus. Transformation des europäischen Sozialmodells, Hamburg 2003. Christoph Lieber ist Redakteur von Sozialismus.

[1] Wir nehmen hier unsere Kritik an Hardt/Negri, "Empire", aus Sozialismus 5/2002 auf. Die Arbeiten von Hardt/Negri, "Empire - Die neue Weltordnung" (Frankfurt/M. 2002), werden mit E und "Multitude - Krieg und Demokratie im Empire" (Frankfurt/M. 2004) mit M zitiert.
[2] Negri/Hardt, Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne, Berlin 1997, S. 118.
[3] Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1969, S. 249.
[4] Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, Berlin 1972, S. 163.
[5] Bei Hardt/Negri führt wie bei anderen Zeitdiagnosen zur "Kommunikations-, Informations- oder Wissensgesellschaft" die metaphernstiftende Überbetonung informations- und kommunikationstechnologischer Artefakte zu einer empirielosen Gleichsetzung von Arbeit am Computer mit universeller, abstrakter, symbolischer, interaktiver und affektiver Arbeit. Eine wirkliche Analyse informationeller Ökonomie findet nicht mehr statt und das lebendige Arbeitsvermögen (Marx) verschwindet als Residualkategorie. Vgl. dagegen die gesellschaftstheoretisch ausgerichtete industriesoziologische Untersuchung von Sabine Pfeiffer, Arbeitsvermögen. Ein Schlüssel zur Analyse (reflexiver) Informatisierung, Wiesbaden 2004. Ebenso ausgeblendet bleibt bei Hardt/Negri, dass gerade neuere Studien in kommunikationsdichten IT-Berufen zeigen, wie die "unsichtbaren Fäden des kapitalistischen Verwertungsprozesses" (Marx) auch die Kommunikation ökonomisch formbestimmt deformiert - bis hin zu latent aggressiver Konformität (angeblich potenzieller widerständiger Multitudesubjekte): "Da durch die Mobilisierung von Subjektivität und Sozialität in der Arbeitswelt die Identifikation mit den beruflichen Rollen befördert wird, kann rückbezüglich zur Diskussion um die Subjektivierung von Arbeit eine Differenz zwischen den Selbstbehauptungsstrategien und den Spielräumen selbstbestimmter Planung und Gestaltung der eigenen Erwerbsbiographie und des Verhältnisses von Arbeit und Leben konstatiert werden." (Silvia Krömmelbein, Kommunikativer Stress in der Arbeitswelt. Zusammenhänge von Arbeit, Interaktion und Identität, Berlin 2004). Auch Karola Brede sieht die "neue schöne Arbeitswelt" (Beck), die Hardt/Negri zum neuen Paradigma der immateriellen Arbeit stilisieren, nicht so rosig. Vgl. Karola Brede, Das Problem der Verfügung über die Individualität der Angestellten. Macht, Unterordnung, Aggression, in: Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukturwandel, Hrsg. von Beerhorst/Demirovic/Guggemos, Frankfurt/M 2004, S. 243ff.
[6] Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 594.
[7] Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, Berlin 1971, S. 89.
[8] Foucault, Schriften Bd. III, Frankfurt/M 2003, S. 275. Vgl. auch ders., Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M 2004.
[9] R. Castel, Die neue soziale Frage, in: Frankfurter Rundschau vom 3.9.2001. Grundlegend zum Fortschritt von sozialen und Staatsbürgerrechten mit Beginn des 20. Jahrhunderts: T.M. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt/M. 1992.
[10] Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 312.
[11] R. Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 404. Auf Zeitdiagnosen, die wie die Arbeiten von Castel oder Bourdieus "Elend der sozialen Welt" die zurückliegenden Krisenjahrzehnte als gesellschaftsgeschichtlichen "Erdrutsch" (Hobsbawm) ins Visier nehmen, beziehen sich Hardt/Negri so gut wie nicht.
[12] Foucault, Schriften III, a.a.O., S. 1027.
[13] Ralf Dahrendorf, Europa auf dem Weg nach rechts, in: Wirtschaft und Finanzen, 26.1.2002.
[14] Marx, Das Kapital, Bd. 3, a.a.O., S. 263.
[15] Vgl. Robert D. Putnam (Hrsg.), Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh 2001.
[16] Richard Sennett, Im Zeitalter der Angst. Wie den Amerikanern das eigene Land unheimlich wird. Droht den USA ein sanfter Faschismus?, in: Der Tagesspiegel, 2.11.2004.