Prekäre Zeiten - vorläufige Bilanzen

Dass derzeit so viele und eben auch wir über Prekarisierung sprechen, hat mit Veränderungen zu tun, denen wir in diesem Heft genauer auf die Spur kommen wollten.

Inspiriert von den precarias a la deriva (vgl. Fantômas 5) begannen wir eine eigene Untersuchungsarbeit, deren vorläufiges Ergebnis dieses Heft und deren vorläufige Bilanz dieses Nachwort ist. Dabei wollten wir dem durch viele Debatten und Kongresse geisternden Begriff der Prekarisierung nachgehen, ohne sein ambivalentes, sein gespenstisches Potenzial zu verspielen. Denn wir suchen nicht endgültige Definitionen, sondern strategische, konzeptionelle, praktische Möglichkeiten, in die gegenwärtigen Kämpfe um Arbeits- und Lebensverhältnisse zu intervenieren. Eben deshalb sind Prekarisierung und Prekarität Begriffe, die gar nicht anders können, als selbst prekär zu sein.

Prekäre Verhältnisse, d.h. ent-garantierte, materiell und existenziell verunsichernde Weisen der Reproduktion des eigenen Lebens, sind als solche keineswegs neu. Denn wer sich durch eigene Arbeit reproduzieren muss, ohne ein regelmäßig entlohntes und verrechtlichtes Normalarbeitsverhältnis zu haben, der oder die lebte im Kapitalismus immer schon unsicher (vgl. S.26ff.). Neu ist jedoch, dass prekäre Lebensrealitäten immer mehr Menschen und darum auch immer mehr Linke betreffen. Die Politisierung von Prekarität kann deshalb zur Politisierung unserer eigenen Existenzweisen werden (vgl. S.21ff.). Um herauszufinden, wie das geht, haben wir die Reflexion auf den "subjektiven Faktor" in den Mittelpunkt unserer Untersuchung gestellt. Dass Prekarisierung als politische Kategorie die Fragestellungen linker Debatten streut, bündelt und zuspitzt, verweist allerdings nicht nur auf eigene Betroffenheiten, sondern auch auf die Neuaufnahme der so genannten "sozialen Frage(n)", die wir in Fantômas 4 diagnostizierten und begrüßten. Daraus folgt: Wenn Prekarität uns einerseits unmittelbar betrifft und sich uns andererseits als soziale Frage stellt, die auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im Ganzen zielt, dann öffnet sich die Möglichkeit einer Politik in erster Person, die auf selbstbezogene Bedürfniskultur nicht zu reduzieren ist. Dem entspricht, dass wir im Durchgang durch die Erfahrung verunsicherter Existenzbedingungen keine atomaren Individuen, sondern eine Vielzahl widersprüchlicher und unterschiedlichster sozialer Verhältnisse gefunden haben.

Im Blick auf die eigene Geschichte und die eigenen Träume wird außerdem schnell deutlich: Die eigene Lebenssituation als zunehmend prekär zu bezeichnen ist nicht nur eine unvermeidliche Reaktion auf gesellschaftlichen Ausschluss, auf Hierarchisierung und Entrechtung. Im Adjektiv "prekär" liegt auch das Begehren nach einem nicht normalisierten, nicht standardisierten, nicht eindimensionalisierten Alltag, wider den Normalarbeitstag, die Normalfamilie, das Normalleben. Dieses Begehren verband die Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre und zieht sich als roter Faden durch individuelle Biographien. Doch ist das Freiheitsversprechen gewollter Prekarität ausgesprochen zweischneidig (vgl. S.18ff.), weil es zugleich eine ständige Drohung impliziert. Besonders sichtbar wird das natürlich in und an Arbeitsverhältnissen. Wo alle Angst haben, ihren Job zu verlieren, traut sich keiner, den Mund aufzumachen (vgl. S. 7ff.). Doch betreffen ent-garantierte Existenzgrundlagen nicht nur arbeitende Subjekte, sondern auch jene, die nicht lohnarbeiten wollen (vgl. S.5ff., S.56ff.) und erst recht die, die das gar nicht (mehr) können (vgl. S. 30ff.).

Das doppelte Spiel von Verheißung und Drohung wird aber auch dort sichtbar, wo in der (Selbst-)reflexion über Prekarität explizit oder implizit um Distinktion gerungen wird: dort vor allem, wo sich die "freiwillig" Prekären von "unfreiwillig" Prekarisierten oder von denen abgrenzen, die, aus welchen Gründen auch immer, am Normalarbeitsverhältnis oder -leben festhalten. Allerdings können Taktiken der Abgrenzung nicht einfach aus der Perspektive eines besonders aufgeklärten Bewusstseins denunziert werden. Denn tatsächlich liegt im gegenwärtigen Umgang mit dem Begriff Prekarität das Problem, dass er zu schnell zu viele in fast jeder Hinsicht völlig unterschiedliche Realitäten zusammenfasst. Wenn sich etwa Linke als privilegierte Prekäre (vgl. S. 5ff., 56ff.) oder arbeitslose Greencard-InhaberInnen als privilegierte MigrantInnen verstehen (vgl. S. 10ff.), dann ist damit sicherlich zunächst eine soziale Grenze nach unten aufgerufen. Daran zeigt sich jedoch auch, wie notwendig auch in Sachen Prekarität der sorgsame Umgang mit Begriffen ist, die gerade durch ihre Allgemeinheit soziale Grenzen zu verschleiern und damit zu verstärken drohen. Während das Verschwinden des Normalarbeitstages samt seinen Sicherungen und spezifischen Privilegien einigen zwar keinen Wohlstand, dafür aber kreative Möglichkeiten bietet und ein libertäres Selbstbild erlaubt, nötigt Prekarität andere zum ständigen Kampf um Un-/Sichtbarkeit und Überleben (vgl. S. 15ff.). Der Sachverhalt verkompliziert sich weiter, wenn deutlich wird, dass für ein und dieselbe Person beides zutreffen kann. Die Perspektive auf Prekarisierung ist also, gerade weil sie so viel umfasst, nie mehr als eine Teilperspektive. So gehen, ein Beispiel, Prekarisierung und Rassismus zwar ein "produktives Verhältnis" ein, aber nicht ineinander auf. Auch gleichen sich die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse vieler Frauen nicht einfach den allgemeinen Verunsicherungen an, sondern behalten ihre eigene sexistische Kontur.

Kurz: Auch wenn richtig ist, dass das prekäre Doppelspiel von Drohung und Verheißung immer mehr Menschen betrifft, meint Prekarisierung im Konkreten doch nie dasselbe: die der Westdeutschen ist nicht die der Ostdeutschen, die im Norden Europas nicht die im Süden (vgl. S.34ff.) oder gar im Süden der Welt (vgl. S.38ff., 42ff.), die von Menschen mit Papieren nicht die von Papierlosen, die von un- oder schlecht bezahlten Reproduktionsarbeiterinnen nicht die der vom sozialen Abstieg bedrohten Mittelklasse und die Selbstentwürfe prekärer AkademikerInnen sind nicht dieselben wie die der working poor.

Daraus folgt, die Begriffe der Prekarität und Prekarisierung nach ihrem strategischen Einsatz zu verstehen, als Begriffe, die auf die Notwendigkeit verweisen, radikal veränderte politische Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Denn politische Praktiken, die Tendenzen der Distinktion unterstützen, werden für linke Gesellschaftsentwürfe so wenig hergeben wie solche, die auf nationale oder identitäre Grenzen zurückführen. Und: Auch wenn sich das so leicht und so allgemein wie eh und je sagt - es geht um nicht weniger als die Entwicklung und Durchsetzung neuer und anderer Re-/Produktionsbedingungen. Deshalb kommen wir - um den Preis auch der eigenen Prekarität - gar nicht umhin, soziale Alltagspraxen zu erinnern, zu entwerfen und auszuprobieren, die dem Begehren nach umfassender Ent-Normalisierung ebenso gerecht werden wie sie die Re-/Produktion des individuellen und sozialen Lebens ermöglichen und sich der eingeforderten totalen Selbst-Ökonomisierung entziehen. (vgl. S. 38ff., 47ff, 56ff., 61ff.) Dabei geht es um neue Weisen, als einzelne bewusst und gewollt in Gesellschaft zu sein und sich dabei zugleich der Herrschaft durch Individualisierung wie der durch Normalisierung zu erwehren. Das schließt ein, dass sich vielfältige subjektive Alltagspraxen in einer Bewegungspraxis austauschen und zum Medium und zur Ressource sozialer Kämpfe werden, die auch auf institutionelle Veränderungen zielen. Ein Brennpunkt dafür ist und bleibt die Forderung nach einem bedingungslosen Existenzgeld und nach der Geltung der sozialen Rechte für alle, die hier sind. (Vgl. S.51ff.) Vor dem Hintergrund einer derart ausdifferenzierten Prekarisierung werden weder Alltags- noch Bewegungspraxis frei von Ambivalenzen und Widersprüchen sein, werden folglich nur erst Versuche sein können, die immer wieder neu aufgenommen, weiterentwickelt und überarbeitet werden müssen. Wie dieses Heft.

aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 6/Winter 04/05