Realitäten des Multikulturalismus

Editorial

Berlin, 12. November 2004, mitten im tiefsten Kreuzberg. Rund 80 MigrantInnen und Deutsche sind auf Einladung des Türkischen Bundes zu einer Tagung zusammengekommen. "Gemeinsam gegen Antisemitismus..

Berlin, 12. November 2004, mitten im tiefsten Kreuzberg. Rund 80 MigrantInnen und Deutsche sind auf Einladung des Türkischen Bundes zu einer Tagung zusammengekommen. "Gemeinsam gegen Antisemitismus - Entwicklung von Handlungsstrategien für die Einwanderungsstadt Berlin" lautet ihr Thema. Erwartungsgemäß gibt es Streit. Ein älterer Mann türkischer Herkunft, laut eigenen Angaben in Neukölln mit der Integration von migrantischen Jugendlichen beschäftigt, kann keine Antisemitismusvorwürfe mehr hören. "In der Türkei gab und gibt es keinen Antisemitismus. Die Juden waren hier immer willkommen." Eine türkische Frau empört sich: "Das stimmt so nicht. In der Türkei gibt es sehr wohl Judenfeindschaft. Noch in den 50er Jahren gab es Pogrome. Und erst vor kurzem wurden in Istanbul Anschläge auf Synagogen verübt."
Berlin-Charlottenburg, 13. November. Die Polizei fährt gleich eine Doppelreihe Mannschaftswagen auf, um die Kontrahenten voneinander fern zu halten. Auf der einen Seite demonstrieren rund 600 radikale IslamistInnen aus Anlass des Al-Quds-Tages (siehe iz3w 281) ihre Solidarität mit dem iranischen Regime und mit dem Kampf der Palästinenser gegen Israel. Aus dem Lautsprecherwagen ertönt eine Stimme, die sich über die mangelnde Toleranz gegenüber dem Islam beschwert. Auf der anderen Seite recken 150 GegendemonstrantInnen ihre Fäuste, umgeben von roten, israelischen oder iranisch-monarchistischen Fahnen. Viele von ihnen sind iranische MigrantInnen, die sich Parolen auf das Gesicht gemalt haben wie "No Steinigung". Eine Kabarettistin iranischer Herkunft macht sich mit bitterbösem Sarkasmus über das politische und religiöse Weltbild der IslamistInnen lustig.

Beide Beispiele demonstrieren: die in Deutschland lebenden MigrantInnen formieren alles andere als jene in sich geschlossenen, homogenen "Parallelgesellschaften", zu denen sie viele Politiker und Medien in den Tagen nach der Ermordung des holländischen Filmemachers Theo van Gogh stilisieren. Nicht anders als die Gesellschaften der jeweiligen Herkunftsländer selbst, tragen die verschiedenen migrantischen Communities in Deutschland teilweise heftige Konflikte untereinander aus. Ihre Streitpunkte sind dieselben, die auch deutsche Leitartikler und Ausländerbeauftragte umtreiben: Säkularisierung versus Re-Islamisierung, Antisemitismus versus Islamophobie, Terror versus Koexistenz oder Kopftuch versus Verbot.
Doch statt mit den MigrantInnen zu reden und auf diese Weise etwas darüber zu erfahren, worauf die unzweifelhaft vorhandenen islamfaschistischen Tendenzen eines bestimmten Milieus beruhen und wie erfolgreich dagegen vorgegangen werden könnte, reden die allermeisten Deutschen lieber über sie. Und kommen dabei auf dumme Gedanken. Da ist zum einen das konservative Spektrum, das gegen den religiösen Wahn eines kleinen Teils der MigrantInnen Ladenhüter bemüht wie die "deutsche Leitkultur" (Schönbohm), die "christliche Prägung unseres Landes" (Stoiber) oder ein markiges "ohne Wenn und Aber auf dem Boden des Grundgesetzes" (Merkel). Mit dem bloßen Recht der Stärkeren sorgt beispielsweise der bayrische Landtag dafür, dass die Ordenskleidung von Nonnen vom Kopftuchverbot an Schulen ausgenommen wird.

Auf der anderen Seite tragen auch manche AnhängerInnen des Multikulturalismus zur Verewigung jener kollektiven Identitäten bei, die es doch eigentlich aufzulösen gilt. Wie zum Beispiel Christian Ströbele von den Grünen. Indem er in gut gemeinter provokativer Absicht nach der Einführung eines islamischen Feiertages in Deutschland ruft, reduziert er die MigrantInnen auf ihre religiöse Identität, während er zur rotgrünen Abschiebepolitik lieber schweigt. Oder wie jene bedingungslosen Islamverteidiger an manchen Orientalistik-Lehrstühlen oder bei Linksruck, die jede noch so aufgeklärte Religionskritik am Islam mit einem stereotypen "Islamophobie!" unterbinden wollen. Damit fallen sie all jenen MigrantInnen in den Rücken, die sich gegen den totalitären Zugriff des Religiösen zur Wehr setzen. Sei es durch ganz private hedonistische Lebenskonzepte oder durch öffentliche Kampagnen gegen Steinigungen und andere Auswüchse des radikalen Islam.

Die gegenwärtige Debatte um die "multikulturelle Gesellschaft" führt somit auf beiden Seiten zur Verfestigung des Konflikts. Entweder es wird unter dem Label "Kampf der Kulturen" ein Generalverdacht gegen alles Muslimische, Arabische, Türkische und Migrantische geschürt, der letztlich in Gewalt mündet, wie die Anschläge auf Moscheen in den Niederlanden und in Sinsheim verdeutlichen. Oder es werden ebenso pauschal anti-emanzipatorische Tendenzen unter MigrantInnen als ‚kulturell bedingtÂ’ und als legitime Gegenwehr gegen den "Westen" verharmlost. Beides behindert die politische Bekämpfung von gewaltbereitem religiösen Fundamentalismus, ob dieser sich nun christlich, muslimisch oder hinduistisch gibt.
Doch selbst wenn die Zeiten für eine antirassistische Kritik des Multikulturalismus und des Religiösen schwer sind: In der übernächsten iz3w-Ausgabe soll der schon seit längerem geplante Themenschwerpunkt über die "Realitäten des Multikulturalismus" erscheinen. Zur Mitarbeit laden wir herzlich ein.

Ein gutes Jahr 2005 wünscht
die redaktion

PS: Unsere website www.iz3w.org hat ein neues, übersichtlicheres Layout. Recherchen und Online-Bestellungen unserer Publikationen sind nun noch einfacher als bisher.