Komplizen der Zerstörung

Interview mit Thomas Seibert über die Tsunamihilfsindustrie und die Ausnutzung von Notlagen.

Du bist auf dem Sprung nach Colombo. Was machst du dort?

Wir sind zu zweit unterwegs und werden dort die Partnerorganisation von Medico auf Sri Lanka, SEED, besuchen, die dem People‘s Health Movement angehört. Wir wollen deren Arbeit anschauen und sie fragen, was wir für sie tun können.

Mit dieser Organisation kooperiert ihr seit längerem?

In SEED sind mehrere Organisationen zusammengeschlossen. Wir kooperieren insofern mit ihnen, als wir über das People‘s Health Movement miteinander verbunden sind. Wir hatten zu diesen Organisationen bislang aber keinen direkten Kontakt. Das People‘s Health Movement ist ein weltweiter Zusammenschluss von Basisorganisationen und NGOs, die sich für das Recht auf Gesundheit einsetzen.

Sind da auch Organisationen von vor Ort vertreten?

Es sind Organisationen von vor Ort, die eine eigene Projektarbeit haben und die ähnlich arbeiten wie Medico. Für alle Organisationen, die im People‘s Health Movement zusammengeschlossen sind, gilt, dass sie auf der einen Seite eine gesundheitsbezogene und gemeinwesenorientierte Projektarbeit betreiben, sich andererseits darin aber als politische Organisation verstehen und nicht bloß als humanitäre Organisation.

Was heißt politische Organisation in diesem Zusammenhang?

Das heißt, sie organisieren die Projektarbeit nach politischen Kriterien. Sie achten bspw. auf die Partizipation der Beteiligten, sie verstehen Hilfe als Prozess der Selbstorganisation und nicht nur als Aktivität von außen kommender Helfer.

Was sind die praktischen Schwerpunkte dieser Projekte?

Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Gesundheit, aber das Verständnis von Gesundheit ist ein politisches. Gesundheit wird hier nicht einfach als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern wird - entsprechend der alten WHO-Definition - als "vollständiges psychisches, physisches und soziales Wohlbefinden" verstanden. Das schließt natürlich eine umfassende gesellschaftliche Aktivität ein und die Herstellung von Bedingungen, in denen von so etwas gesprochen werden kann.

Welche Kritik habt ihr an der offiziellen Hilfeleistung?

Unsere Kritik bewegt sich auf mehreren Ebenen. Beginnen wir mal mit dem Kern: Wir als Medico sind keine Organisation, die "weiße Helfer" aussendet, und wir haben ein kritisches Verhältnis zu allen Organisationen, die so etwas tun, wiewohl man das natürlich nicht grundsätzlich ablehnen kann. Jede Entsendearbeit ist problematisch, aber das Ausmaß, in dem sie betrieben wird, ist absolut überflüssig.

Was kritisiert ihr daran?

Wir kritisieren, dass durch den Einflug von weißen Helfern in aller Regel Strukturen der Selbstorganisation und der Selbsthilfe, die es in allen Gesellschaften des Südens gibt, entweder beiseite gedrängt oder sogar abgedrängt und ausgeschlossen werden. Dass sich ausländische Strukturen an die Stelle der dort schon längst ausgebildeten Strukturen setzen, und dass man eben nicht weißer Helfer bedarf, sondern transnationaler Beziehungen.
Natürlich braucht es materielle Unterstützung, aber eben auch politische Zusammenarbeit. Es muss ein Verhältnis gegenseitiger Hilfe und in diesem Sinne eine wirkliche Solidarbeziehung aufgebaut werden. All das ist nicht der Fall, wenn diese ganzen Organisationen der "Hilfsindustrie" - um es zugespitzt zu sagen - einfliegen, um dort letztlich die eigenen Apparate zu reproduzieren.

Man hat stark den Eindruck, dass die Hilfe - einmal abgesehen von der unmittelbaren Notfallhilfe, aber gerade die Wiederaufbauhilfe - vor allem in solche Wirtschaftszweige geht, die den Westen ökonomisch interessieren.

Das ist ganz sicher der Fall. Das beginnt damit, dass die Hilfsindustrie selbst eine westliche Industrie ist, die sich im Katastrophengebiet Einflussmöglichkeiten und ihre Daseinsberechtigung verschafft. Es geht aber auch um unmittelbare Einflussnahme.
Der dramatischste Fall sind die Neuumsiedlungen, die jetzt dort vorgenommen werden, wo militärische Auseinandersetzungen mit Rebellen oder Befreiungsorganisationen stattfinden. Nach dem, was wir gehört haben, ist das vor allem in Aceh der Fall. Hier nimmt man die Flutkatastrophe zum Anlass, um Siedlungen, die irgendwie als Unterstützungsmilieu für die dortige Guerilla betrachtet werden, aufzulösen, die Leute zu zerstreuen und anderswo anzusiedeln - also das, was in Guatemala klassisch vorgeführt wurde.

Das ist aber doch hauptsächlich das Werk des indonesischen Militärs?

Ja, aber solche Prozesse werden von ausländischen sog. "humanitären Strukturen" zum Teil offen unterstützt, und wo dies nicht offen geschieht, geschieht es faktisch, wenn Hilfsorganisationen solche Umstände nicht zur Kenntnis nehmen. Das ist überall dort der Fall, wo die spontane Welle der Hilfsbereitschaft, die an sich sehr zu begrüßen ist, in solche Projekte umgeleitet wird wie die sog. Patenschaften, die jetzt geschaffen wurden: von Gemeinde zu Gemeinde. Aus Erfahrung - z.B. aus Rwanda - weiß man, dass Menschen dort fokussiert auf einen Kindergarten, auf eine Gesundheitsstation o.ä. durchaus eine gute Arbeit machen, diese Arbeit wirkt aber desaströs, wenn sie den gesellschaftlichen Kontext vor Ort nicht zur Kenntnis nimmt. Das geschieht meist nicht.

Wie meinst du, könnte das geleistet werden? An sich ist das Patenschaftsmodell doch sicher fortschrittlicher als ausschließlich zentralistische Hilfestrukturen?

Zu allererst muss man zur Kenntnis nehmen, dass derzeit die Phase der Not- und Soforthilfe, die es in jeder Katastrophe gibt, abgeschlossen ist. Wir haben gestern per Telefon von einem Kollegen einen Bericht aus Indien gehört, der sagt, es gibt 87 betroffene Gemeinden und 300 NGOs, die sich um sie streiten. Das ist Unsinn. Das ist Hilfsindustrie, das ist Ausnutzen einer Notlage zur Reproduktion der eigenen Apparate. Wir treten jetzt in eine andere Phase, und in dieser Phase ist umso wichtiger, was von Anfang an wichtig ist, nämlich auf die Selbstorganisation und Selbsthilfe der Beteiligten zu setzen.

Wir ließe sich das organisieren? Was können Schulen oder andere örtliche Vereine hierzulande, die helfen wollen, sinnvoll tun?

Es wird tatsächlich materielle Unterstützung gebraucht. Spendensammlungen sind notwendig. Aber man sollte dafür sorgen, dass diese Spenden Organisationen zugute kommen, die genau ein solches politisches Verständnis von humanitärer Arbeit haben, die in aller Regel - auch da gibt es natürlich Ausnahmen - eine entsprechend gute Praxis vor Ort haben. Dann kommt es auf die langfristige Unterstützung solcher Organisationen an. Und es kommt darauf an, dass solche Unterstüzung flexibel gehandhabt wird.
Im Moment geht sehr viel Geld in die indischen und srilankischen Strukturen. Deshalb bleibt es aber nach wie vor wichtig, die Strukturen des People‘s Health Movement auch in Nikaragua weiter zu unterstützen, um ein Beispiel zu geben. Die Unterstützung muss Organisationen und Netzwerken zugute kommen, die untereinander in Austausch treten können.
Man muss zweitens konkret darauf dringen, dass die staatlichen Mittel für Südasien nicht aus den Töpfen genommen wird, die schon für Hilfen in Afrika oder Südamerika vorgesehen sind.
Der dritte, ganz wichtige, Aspekt ist: Es ist auch Hilfe und Solidarität, wenn man an den eigenen Verhältnissen ansetzt. Tsunami ist auch ein innenpolitisches Phänomen. Es kommt auch darauf an, sich gegen den derzeit in Deutschland stattfindenden Diskurswechsel zu stellen, der von der Regierung, aber vor allem von den Medien und von der Konkurrenz der Fernsehsender dominiert wird, die miteinander streiten, wer die höchsten Spendenzahlen nennt. Hier muss auch angesetzt werden, auch das ist letztlich in gutem Sinne solidarische Arbeit.
Tsunami ist insofern ein innenpolitisches Problem, als die Katastrophe in Südasien hierzulande taktisch eingesetzt wird, um den gesellschaftlichen Protest gegen die Agenda 2010 aus den Schlagzeilen zu nehmen. Die Bundesregierung verschafft sich im Moment eindeutig den Kredit, dass es eben nicht zuträfe, sie hätte keine Sensibilität für die Nöte der Ärmsten. Das wird einfach verschoben, die Ärmsten sind jetzt die, die in Sri Lanka und Indien sind. Für die gibt es Geld, und die anderen sollen sich nicht so haben. Auch das darf man nicht aus dem Blick verlieren.
Diese Aspekte von Hilfe sind Bestandteil der People‘s Health Charta, die das politische Rahmenprogramm für die Arbeit von Medico bildet (siehe Kasten).
Noch etwas: Unsere Partner arbeiten momentan zusammen mit anderen Organisationen am Aufbau eines sog. Monitoring-Systems. Das ist ein System, wo die Betroffenen selbst und die Organisationen vor Ort recherchieren und versuchen in Erfahrung zu bringen, was mit der gegenwärtigen Hilfswelle alles angerichtet wird, und dies auswerten. Sie gehen so einfachen Fragen nach wie: Kommt die Hilfe bei den Leuten an? Gibt es Korruption? Wie erfolgt die Hilfe? Welche politischen Konsequenzen hat sie? In dieses System will auch Medico künftig einen erheblichen Teil seiner Mittel stecken. Auch das kostet Geld. Dafür muss natürlich auch gespendet werden, denn es ist klar, dass es dafür keine Regierungsgelder geben wird.