Die Türkei und der Irakkrieg

Man sollte annehmen, daß die BürgerInnen eines Landes keine Schwierigkeiten damit haben, die Frage zu beantworten, ob ihr Land sich an einem Krieg beteiligt (hat) oder nicht.

Im Falle der Rolle der Türkei im zweiten Irakkrieg, der mit dem Angriff der USA und ihrer Alliierten auf den Irak am 20. März 2003 begann und am 1. Mai 2003 offiziell zu Ende ging, scheint die Beantwortung dieser Frage für die türkischen BürgerInnen jedoch kein leichtes Unterfangen zu sein. Sowohl in der türkischen als auch in der europäischen Öffentlichkeit herrscht die Meinung vor, daß die Türkei eine Kriegsbeteiligung im Irak mit einem Parlamentsbeschluß vom 1. März 2003 ablehnte und erst am 7. Oktober 2003, nach der Ankündigung des Kriegsendes und der Resolution des UN-Sicherheitsrates 1483, beschloß, für eine Friedensmission ihre Truppen in den Irak zu entsenden. Doch diese Annahme kann mit Hilfe realer Fakten widerlegt werden, was im folgenden geschehen soll. In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich die Frage, wie es überhaupt zu dieser Diskrepanz zwischen Realität und öffentlicher Meinung kommen konnte, wenn es um eine solch ernste Sache wie den Krieg geht. Die Antwort liegt in der Politik der regierenden Partei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei)1 und der Rolle der türkischen Medien.

Seit ihrer zweijährigen Regierungszeit gilt die AKP als der "Shooting-Star" der türkischen wie auch der europäischen Öffentlichkeit. Ihre Popularität in der Türkei hat mehrere Gründe: Erstens brachte sie den türkischen WählerInnen die ersehnte politische Stabilität, denn sie beendete eine seit 1987 andauernde Zeit, in der alle Regierungen aus mehr oder weniger instabilen Koalitionen bestanden. Mit dem Wahlsieg am 3. November 2002 gewann die AKP die absolute Mehrheit im Parlament und konnte so in der Folgezeit ihre Politik, parlamentarisch widerstandslos, durchsetzen. Zweitens war sie aufgrund der relativ jungen Parteifunktionäre, die nicht die Last der vergangenen Regierungsparteien zu verantworten hatten, in der Lage, der Vetternwirtschaft und Korruption den Kampf anzusagen und dies glaubhaft zu vertreten. Drittens gelang es ihr mit ihrer Wirtschaftspolitik, der angeschlagenen türkischen Wirtschaft ein relativ großes Wachstum zu ermöglichen und die Finanzkrise in den Griff zu bekommen. Am wichtigsten scheint jedoch die entschiedene und nachdrückliche EU-Politik der AKP zu sein, die von umfangreichen Verfassungsänderungen und EU-orientierten Gesetzesänderungen begleitet wurde. Die EU-Orientierung und die dafür erforderlichen Reformbemühungen sind deshalb von so großer Bedeutung, weil das Anstreben der EU-Mitgliedschaft fast den einzigen Konsenspunkt in der türkischen Bevölkerung darstellt. Die türkischen Medien leisten für die Verbreitung und Verankerung dieses Images in der türkischen Öffentlichkeit einen großen Beitrag.2

Die mittelbare Konsequenz dieser EU-Politik war und ist, daß die herkömmliche autoritäre Staatstradition und die Rolle des Militärs schwächer wurden und eine Demokratisierung einsetzte. Auch die seit 1974 mit einem starren, stark an den nationalen Interessen orientierten Staatsverständnis geführte Zypernpolitik erlebte einen relativ großen Kurswechsel, der wiederum mit den angestrebten EU-/Demokratisierungsreformen der Türkei zusammenhängt. Die EU-Orientierung und deren mittelbare wie unmittelbare Konsequenzen bilden den Hauptgrund für den verhältnismäßig positiven Ruf der AKP in der europäischen Öffentlichkeit.3

Dennoch stellen die Programmatik und Politik der AKP keinen absoluten Bruch mit der klassischen türkischen Staatstradition dar. Ganz im Gegenteil agierte die AKP-Regierung, wie im folgenden gezeigt wird, im Sinne von hochgesteckten nationalen Interessen, die in geheimen Regierungsbeschlüssen, Kompetenzüberschreitungen sowie Desinformations-strategien mündeten. Anderthalb Jahre nach dem Angriff auf den Irak ist für die türkische Öffentlichkeit noch immer nicht klar, ob sich ihr Staat an einem völkerrechtswidrigen Krieg beteiligte oder nicht.

In diesem Aufsatz soll gezeigt werden, daß sich die Türkei Schritt für Schritt am Irakkrieg beteiligte. Denn anders als allgemein angenommen existierten nicht zwei, sondern vier Parlamentsbeschlüsse und ein geheimer Regierungsbeschluß für die Regulierung der türkischen Irakpolitik. Im folgenden wird zunächst die methodische Vorgehensweise erläutert. Danach folgt im dritten Abschnitt die Darstellung der innenpolitischen Hintergründe vor dem Irakkrieg. Die türkische Irakpolitik wird in ihrer engen Verflechtung mit den Medien rekonstruiert. Dann folgt die Darstellung der Parlaments- und Regierungsbeschlüsse über die Beteiligung im Irakkrieg und ihrer politischen Hintergründe. Im fünften Abschnitt wird auf die Rolle der türkischen Medien im Irakkrieg mit Hilfe medientheoretischer Ansätze eingegangen und nachgewiesen, daß diese bei der Ausblendung bzw. Ignorierung dieser drei Beschlüsse eine wesentliche Rolle spielten; sie berichteten kontinuierlich nur von zwei Parlamentsbeschlüssen und haben den geheimen Regierungsbeschluß, abgesehen von einigen kontextlosen Presseberichten, nicht thematisiert.

Unser Vorgehen

Im Prinzip müßte es für die Analyse einer außenpolitischen Position ausreichend sein, die Amtsblätter, Regierungserklärungen und anderen offiziellen Dokumente eines Staates heranzuziehen. Eine solche Vorgehensweise ist in bezug auf den zweiten Irakkrieg und die Beteiligung der Türkei unzulänglich. Erstens wurden alle Parlamentsbeschlüsse im Zeitraum vom 6. Februar 2003 bis zum 7. Oktober 2003 in nicht-öffentlichen Sitzungen gefaßt, so daß die Sitzungsprotokolle für zehn Jahre für die Öffentlichkeit unzugänglich sind. Zweitens wurde die Irakpolitik der Regierung hauptsächlich hinter verschlossenen Türen gestaltet. Hinzu kommt, daß offizielle Stellungnahmen von Regierungsvertretern oftmals nicht mit meist kommentarlosen Zeitungsberichten über Ereignisse an für den Irakkrieg strategischen Standorten auf türkischem Territorium übereinstimmten.

Angesichts dieser Ausgangssituation erforderte die Rekonstruktion der türkischen Irakpolitik ab Anfang 2002 die Heranziehung verschiedener schriftlicher Quellen. Einerseits wurden in dieser Arbeit die veröffentlichten staatlichen Dokumente analysiert. Andererseits wurden allgemeine Presseberichte ausgewertet, Artikel politischer Kolumnisten in Tageszeitungen, Themenserien über den Irakkrieg sowie journalistische Bücher zur Irakkrise als Quelle für Hintergrundinformationen in bezug auf den Verhandlungsprozeß mit den USA und die von der Regierung verschwiegenen Fakten.

Bei der oben dargestellten Rekonstruktion wurden vier überregionale Tageszeitungen ausgewählt. Ausschlaggebend für die Auswahl dieses repräsentativen Samples waren die politische Verortung, die maßgebliche Wirkung bei der öffentlichen Meinungsbildung sowie die Verkaufszahlen der Zeitungen.

Die Analyse beruht auf einer Vollerhebung von Presseberichten und politischen Kolumnen. Der Analysezeitraum orientiert sich an den Parlamentsbeschlüssen, d.h. es wurden alle Presseberichte und politischen Kolumnen sowohl am Tag des jeweiligen Beschlusses als auch jeweils fünf Tage vor und nach den Beschlüssen analysiert. Damit kann aufgezeigt werden, wie die entscheidenden Diskussionen zur Irakkrise in den Presseberichten wie auch von den Kolumnisten thematisiert wurden. Pro Zeitung wurden zwei Starkolumnisten ausgewählt, die sowohl beim Publikum als auch in der Presselandschaft als Meinungsbildner bzw. in den jeweiligen Zeitungen als einflußreiche Persönlichkeiten gelten.4

Die innenpolitische Lage vor dem Irakkrieg

Zwar begann der zweite Krieg der USA gegen den Irak im März 2003, der Beginn der Krise geht jedoch bis Anfang 2002 zurück.5 Bereits am 16. Januar 2002 fand ein Treffen zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit und dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush statt, bei dem von Seiten der USA überraschenderweise die Irakkrise thematisiert wurde. Zwei Wochen später, am 29. Januar 2002, erklärte Bush bei seiner "Rede an die Nation" den Irak, Nordkorea und den Iran zur "Achse des Bösen". Danach beschleunigte sich die Irakkrise auf der internationalen Ebene. Im Juli 2002 wurden dann vom stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz die ersten informellen Kontakte mit der Türkei aufgenommen. Offizielle Forderungen an die Türkei wurden jedoch erst im September 2002 über den Generalstabschef gestellt; das amerikanische Verteidigungsministerium forderte seinen strategischen Partner im Falle des Irak zur uneingeschränkten Zusammenarbeit auf. Daß diese Forderung über das Militär an die türkische Regierung gestellt wurde, entspricht nicht den diplomatischen Gepflogenheiten. Denn die Bereitstellung der Luftwaffenbasen, Häfen sowie des türkischen Luftraumes bedarf einer Entscheidung des Parlaments und ist somit eine politische Entscheidung. Daß das Militär als Ansprechpartner und Vermittler diente, findet seine Erklärung darin, daß es bis vor kurzem einen sehr starken Einfluß auf die türkische Politik hatte und durch die Rolle des Nationalen Sicherheitsrates (NSR) einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Strukturierung der Sicherheitspolitik ausüben konnte. Warum die USA einen solchen nicht-diplomatischen Weg gewählt haben, kann zweierlei Gründe haben: erstens die relative politische Schwäche der damaligen Regierung, deren Abwahl bei den Parlamentswahlen am 3. November 2002 allgemein erwartet wurde; und zweitens die Aussage des Ministerpräsidenten Ecevit, daß die Türkei gegen einen Angriff auf den Irak sei. Dementsprechend rechneten auch die USA nicht mehr mit einer langfristigen Zusammenarbeit mit dieser Regierung und erhofften wie viele andere einen Regierungswechsel (Yetkin, Radikal, 18.1.2004).

Am 11. Oktober 2002 ermächtigte der USA-Kongreß Präsident Bush zur Kriegsführung gegen den Irak, auch wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen keine entsprechende Resolution verabschieden sollte. Schon am nächsten Tag wurden die NATO-Mitgliedsstaaten um ihre Unterstützung bei einem eventuellen Krieg angefragt.

Am 3. November 2002 fanden in der Türkei Parlamentswahlen statt, die in einem erdrutschartigen Wahlsieg der pro-islamisch/rechtskonservativen AKP mündeten. Somit gewann seit 1987 zum ersten Mal eine Regierungspartei die absolute Mehrheit im türkischen Parlament und stellte somit die in vielen Kreisen langersehnte politische Stabilität her. Nichtsdestotrotz war diese Regierung mit einem "Schönheitsfehler" behaftet: Der Parteivorsitzende Recep Tayyip Erdoðan konnte aufgrund einer Vorstrafe weder für die Wahlen kandidieren noch das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen. Deshalb kam es erstmals in der türkischen Politik zu einer personellen Aufteilung zwischen dem Amt des Ministerpräsidenten und der Position des Vorsitzenden der Regierungspartei, die traditionell von einer Person bekleidet wurden. Schon kurz nach den Wahlen stand fest, daß Ministerpräsident Abdullah Gül dieses Amt bis zur Lösung dieses Problems, d.h. der Aufhebung des Ausschlusses von Erdoðan, übernehmen würde. Dieser Machtwechsel fand erst am 15. März 2003 statt. Die USA mußten somit die Bemühungen hinsichtlich ihrer Irakpolitik mit zwei Spitzenpolitikern - Gül und Erdoðan - fortsetzen, da feststand, daß Gül nach der Machtübergabe an Erdoðan den Posten des Außenministers bekleiden sollte. Als Beispiel dafür sei der Empfang Erdoðans als künftiger türkischer Ministerpräsident im Weißen Haus noch im Dezember 2002 genannt.

Am 23. Dezember 2002 fand im türkischen Regierungsamt ein Briefing durch den Generalstabschef statt, in dem fünf Handlungsmöglichkeiten gegenüber den Forderungen der USA besprochen wurden. Alle Punkte pro und contra wurden abgewogen und die Grundzüge einer effektiven Außen- und Sicherheitspolitik ausgearbeitet. Demnach existierten folgende Handlungsmöglichkeiten, zwischen denen sich Ministerpräsident Gül entscheiden sollte:

1) keine Zusammenarbeit mit den USA,

2) Bereitstellung des Luftraumes und der Flugwaffenbasen,

3) zusätzlich zu Punkt 2) Stationierung von Spezialeinheiten und Truppen der USA in begrenzter Zahl auf türkischem Territorium,

4) eine volle Zusammenarbeit, den Luftangriff und die Bodentruppen betreffend,

5) eine uneingeschränkte politische wie militärische Zusammenarbeit.

Während die Bürokraten des Außenministeriums auf die Schwierigkeiten bei der Vermittlung der fünften Handlungsoption bei der Bevölkerung hinwiesen und die dritte Möglichkeit bevorzugten, bekundeten die USA ihr Interesse am vierten Punkt (Ergin, 20.09.2003). Das Gesamtbild nach diesem Briefing kann folgendermaßen zusammengefaßt werden: Militär und Außenministerium vertraten die Ansicht, daß die Kriegsbeteiligung der Türkei unvermeidlich sei und die Türkei sich dementsprechend frühzeitig gegenüber den USA positionieren müsse. In diesem Zusammenhang scheint es relevant zu sein, daß diese Meinung mit den Entscheidungen des Kabinetts unter dem künftigen Ministerpräsidenten Erdoðan völlig übereinstimmte. Im Gegensatz dazu empfahl Staatspräsident Sezer ausdrücklich die Berücksichtigung des Völkerrechts, somit das Abwarten einer UN-Resolution für einen eventuellen Angriff auf den Irak. Diese Empfehlung des Staatspräsidenten - als ehemaligem Verfassungsrichter - wurde vom Militär, den "Falken" in der Regierung sowie den Medien heftig kritisiert und behauptet, daß der Staatspräsident "eine heikle nationale Sache wie ein Strafgerichtsverfahren behandle" (Yetkin, Radikal, 22.1.2004). Der damalige Ministerpräsident Gül dagegen erhoffte noch immer eine friedliche Lösung des Irakkonflikts und suchte nach einem Ausweg ohne Kriegsbeteiligung der Türkei mit Unterstützung islamischer Staaten der Region. Die Regierung Gül suchte zudem für dieses Unterfangen die tatkräftige Unterstützung der EU. Durch diese Antikriegsposition näherte sich die Gül-Regierung politisch dem sog. ‚Kerneuropa‘ innerhalb der EU-Staaten an. Diese Erwartung an Unterstützung konnte von der EU jedoch aufgrund ihrer eigenen inneren Zerrissenheit nicht erfüllt werden (vgl. Habermas 2004a: 52f.).6

Ende Dezember 2002 konnte in der türkischen Staatsspitze jedoch keine Einigkeit bezüglich einer Irakpolitik erzielt werden. Das Militär bezichtigte die Regierung der Passivität und meinte: Jede Entscheidung ist besser als Unentschiedenheit" (Radikal, 22.1.2004). Der NSR empfahl der Regierung nach seinem Zusammentreffen im Januar 2003, gemäß Art. 92 der Verfassung vom Parlament eine Erlaubnis für die Kriegsführung zu beantragen. Damit wurde die Position des Militärs hinsichtlich des Irakkonflikts erstmals deutlich in die Öffentlichkeit getragen (Radikal, 23.1.2004).

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die USA Ende 2002 die (macht-)politische Spaltung in der türkischen Regierung erkannten und die Position des Ministerpräsidenten Gül bis zur Amtsübernahme von Erdoðan deshalb hinzunehmen bereit waren; sie nahmen an, daß sie mit Erdoðan - unterstützt durch das Militär - einen willigen Kriegspartner haben würden.

Die Parlaments- und Regierungsbeschlüsse für die Beteiligung am Irakkrieg

Im Zeitraum zwischen Januar und November 2003 faßte das türkische Parlament vier Parlamentsbeschlüsse, die die Stationierung ausländischer Soldaten auf türkischem Territorium, die Nutzung des türkischen Flugraumes sowie die Entsendung türkischer Soldaten in den Irak regelten. Zudem kam ein zuerst nicht veröffentlichter Regierungsbeschluß hinzu, dessen gesamter Inhalt erst sieben Monate später öffentlich bekannt wurde, obwohl er schon im Juni in einigen Presseberichten erwähnt worden war.

6. Februar 2003

Im Konzert der Mächte sein oder nicht - darauf kommt es an. Schon Anfang Februar 2003 stand für die USA fest, daß sie auf mindestens 21 "willige" Staaten zählen konnten, worunter sich auch acht EU-Mitglieds- bzw. Beitrittsstaaten befanden. Wegen der strategischen Bedeutung der Türkei für die Nordfront eines Irakangriffes wurde der Druck auf die Türkei mit der Forderung erhöht, Truppen in den Irak zu entsenden und das türkische Territorium für die Stationierung ausländischer Soldaten zu öffnen. Zudem gab es für die türkische Regierung die Disposition, die Luftwaffenbasen und Häfen zum Zwecke der Kriegsvorbereitung zum Teil auch mit Hilfe von amerikanischem Militärpersonal zu modernisieren und auszubauen. Beim Treffen des NSR im Januar 2003 wurde der Regierung empfohlen, durch einen Parlamentsbeschluß die militärischen Vorbereitungen in die Wege zu leiten. In der gleichen Sitzung wurde auch beschlossen, die USA bei ihrem Bodenangriff auf den Irak durch die Eröffnung einer Nordfront zu unterstützen. Die Gül-Regierung vertrat offiziell die Ansicht, daß eine aktive Teilnahme am Krieg vermieden werden sollte, ohne jedoch aus den politischen Ereignissen im Nordirak ausgeschlossen zu sein. Nach dem Zusammentreffen des NSR stand fest, daß das Hauptinteresse der Türkei in der Sicherung der nordirakischen Grenze lag und nicht hauptsächlich bei der Okkupation des Iraks. Die Frage der völkerrechtlichen Legitimität eines Krieges gegen den Irak wurde zwar in erster Linie von einer Resolution des UN-Sicherheitsrates abhängig gemacht, aber auch die Anzahl der in der Koalition der Willigen" aktiven Staaten als eine parallele Legitimationsbasis begriffen. Gül drückte in dieser Phase mehrmals seine Bedenken aus, im Parlament darüber zu entscheiden, bevor die für den 5. Februar 2003 angekündigte Beweisführung der USA von Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat stattgefunden habe und der Bericht der UN-Waffenexperten am 14. Februar 2003 vorliege. Der damalige Parteivorsitzende und heutige Ministerpräsident Erdoðan vertrat dagegen die Meinung, daß die Türkei es sich nicht leisten könne, von den Entwicklungen in der Region ausgeschlossen zu sein, und bekundete damit implizit seine Bereitschaft zu einer uneingeschränkten Zusammenarbeit mit der "Koalition der Willigen".

Bei den Gesprächen mit den USA wurden der Türkei finanzielle Unterstützung und humanitäre Hilfe im Falle einer Flüchtlingswelle aus dem Nordirak versprochen, wobei die Höhe und die Voraussetzungen der versprochenen Finanzhilfe noch Gegenstand mehrerer Verhandlungen werden sollten.

Am 6. Februar 2003 wurde der erste Parlamentsbeschluß in einer nicht-öffentlichen Sitzung gefaßt, der auf drei Monate befristet wurde. Dieser erste Beschluß wurde von manchen Abgeordneten der Regierungspartei als ein Probelauf für die Kriegsentscheidung wahrgenommen und stieß daher auf Widerstand. Der Antrag der Regierung auf eine nicht-öffentliche Sitzung sollte auch dazu dienen, die Risse innerhalb der Regierungspartei nicht publik zu machen. Auch die Bezeichnung des Beschlusses als "Nicht-Kriegserklärung", als notwendige "Positionierung" oder als ein logischer Akt eines verantwortungsvollen Staatsmannes können als Verharmlosungsversuche des Beschlußinhaltes betrachtet werden. Kurz danach wurde mit den USA vereinbart, daß ca. 4.000 amerikanische Experten für die Ausbauarbeiten in die Türkei gesandt werden sollten. Schon die große Zahl dieser militärischen Experten deutet darauf hin, daß der erste Beschluß als vorläufige Zusage für die Stationierung ausländischer Soldaten zu verstehen war.

Erster Parlamentsbeschluß: Zum Zwecke der notwendigen Maßnahmen zur Instandsetzung und Modernisierung der Luftwaffenbasen sowie der Häfen wird die Erlaubnis erteilt, daß amerikanische Militärexperten sich für drei Monate auf türkischem Boden aufhalten dürfen."

1. März 2003

"Der Beschluß wurde nicht abgelehnt, sondern nur nicht angenommen".7 Bei den Vorbereitungen für einen zweiten Parlamentsbeschluß kündigte der Regierungssprecher und stellvertretende Ministerpräsident Þener an, daß die Entscheidung der Türkei für eine Kriegsbeteiligung von der Position anderer Staaten zu den USA ausschlaggebend sei. Um die rechtlichen Bedingungen zu klären, richtete die Regierung eine inoffizielle Anfrage an das Verfassungsgericht, das zu der Meinung kam, in dieser Frage sei die türkische Politik unabhängig von einer UN-Beschlußfassung, daher reiche eine parlamentarische Entscheidung völlig aus. Diese Meinung des Verfassungsgerichts stellt jedoch einen Verfassungsbruch dar, da gemäß Art. 92 der Verfassung die Entsendung türkischer Streitkräfte ins Ausland oder der Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Türkei nur in den nach dem Völkerrecht erlaubten Fällen vom Parlament erlaubt werden können. Somit koppelt die Verfassung die Legitimität einer Parlamentsentscheidung eindeutig an das Völkerrecht (vgl. Göztepe 2004). Bedenken zur Verfassungsmäßigkeit eines nicht von einer UN-Resolution unterstützten Parlamentsbeschlusses wurden auch vom ehemaligen Verfassungsrichter und jetzigen Staatspräsidenten Sezer geäußert, der die Regierung vor einem solchen Schritt warnte. Dagegen schloß sich der Parteivorsitzende Erdoðan der Meinung des Verfassungsgerichts an und verglich einen Irakeinsatz mit dem Auslandseinsatz der türkischen Streitkräfte in Afghanistan. Dieses Argument ist wiederum juristisch gesehen falsch, da die türkische Verfassung im Falle von aus völkerrechtlichen Verträgen hervorgehenden militärischen Verpflichtungen - wie dies z.B. im Rahmen der NATO-Einsätze der Fall ist - keine Erlaubnis des Parlaments vorsieht, vorausgesetzt, die Einsätze überschreiten nicht den Kompetenzrahmen des jeweiligen Abkommens.

Parallel zu den Vorbereitungen für den zweiten Beschluß handelte die Regierung mit den USA ein finanzielles Unterstützungspaket aus, das zum Teil als direkte Hilfe vorgesehen war. Die Zahlen schwankten zwischen vier und zehn Milliarden US-$; sowohl die türkische als auch die amerikanische Regierung gerieten in Erklärungsnot, da in der Öffentlichkeit der Anschein erweckt wurde, es handle sich nicht um einen ehrenwerten Zweck wie die Bekämpfung des internationalen Terrorismus oder die Befreiung des Irak von Saddam Hussein, sondern nur um die finanzielle Schadensbegrenzung des Krieges. Je näher das Entscheidungsdatum rückte, desto höhere Summen (20-30 Milliarden US-$) wurden bei den Verhandlungen genannt.

In einem "Memorandum of Understanding" (MoU) vereinbarten die türkische und amerikanische Regierung, daß höchstens 50.000 amerikanische Soldaten in der Türkei stationiert werden sollten. Die endgültige und rechtlich verbindliche Entscheidung sollte jedoch im türkischen Parlament liegen. Dieses lehnte den Antrag der Regierung auf Erlaubnis zur Entsendung türkischer Truppen ins Ausland und Stationierung ausländischer Truppen auf türkischem Boden am 1. März 2003 jedoch ab.

Nach dieser Ablehnung drückten die USA ihre Unzufriedenheit über die Informationspolitik des Ministerpräsidenten Gül deutlich aus und behaupteten, daß er seinen eigenen Parteimitgliedern und der Öffentlichkeit die Bedeutung dieses Antrages nicht habe vermitteln können. Parallel dazu lobten sie die Bemühungen des Parteivorsitzenden Erdoðan. In Anbetracht einer ähnlichen Berichterstattung in den Medien wurde immer deutlicher, daß ein neuer Antrag erwartet wurde und dessen Erfolg an den künftigen Ministerpräsidenten gekoppelt war. Diese Zuversicht wurde in den darauffolgenden Tagen ersichtlich, da amerikanische Truppen schon vor einem dritten Parlamentsbeschluß die militärisch wichtigsten Stützpunkte im Südosten der Türkei zu inspizieren begannen und entsprechende Grundstücke mieteten. Auch amerikanische Militärfahrzeuge und Rüstungsmaterialien, die in der südlichen Hafenstadt Iskenderun auf ihren Einsatz warteten, wurden an die irakische Grenze oder zur Luftwaffenbasis Incirlik transportiert. Trotz der Stellungnahme des türkischen Generalstabschefs, daß diese Transporte im Rahmen des ersten Beschlusses und unter der Kontrolle der türkischen Streitkräfte stattfinden würden, entbehrten diese militärischen Aktivitäten jeglicher gesetzlichen Basis.

Zweiter Parlamentsbeschluß: Der Antrag der Regierung zur Entsendung türkischer Truppen ins Ausland und Stationierung ausländischer Streitkräfte auf türkischem Territorium wird abgelehnt."

20. März 2003

Neuer Ministerpräsident, neue Demokratie? Als der dritte Parlamentsbeschluß auf der Tagesordnung stand, kam es zu einem bedeutenden Akteurswechsel in der türkischen Innenpolitik. Der Parteivorsitzende Erdoðan wurde durch Nachwahlen ins Parlament gewählt und übernahm den Posten des Ministerpräsidenten. Nach seiner kurzen Amtszeit als Ministerpräsident wurde Gül zum Außenminister ernannt. Dieser Wechsel stellte eine grundlegende Wende in der türkischen Irakpolitik dar. Obwohl Erdoðan noch nach dem ersten Parlamentsbeschluß in einem Interview mit dem "Spiegel" behauptete, daß die UN-Resolution 1411 keinen Staat für einen Angriff auf den Irak ermächtige, meinte er im gleichen Interview, daß die Türkei als Verbündeter der USA an deren Seite stünde (Der Spiegel vom 10.02.2003).

Bald nachdem Erdoðan das Amt des Ministerpräsidenten übernommen hatte, gab er bekannt, daß er einen dritten Beschlußantrag wie den am 1. März 2003 dem Parlament vorzulegen gedenke. Zu dieser Zeit formulierte Powell indes als dringlichste Forderung gegenüber der Türkei die Bereitstellung des türkischen Luftraumes. Obwohl die türkische Regierung einen umfangreicheren Parlamentsbeschluß zusicherte, wurde der Wunsch von Powell mit dem Übergang zum Plan B begründet, und damit zusammenhängend wurden die Verhandlungen über die Kompensation kriegsbedingter wirtschaftlicher Schäden der Türkei auf Eis gelegt. Die Türkei hatte somit in den finanziellen Verhandlungen eine Niederlage erlitten.

Zu diesem Zeitpunkt gerieten immer mehr europäische Staaten in eine Zwitterstellung. So stellten z.B. unter anderem Deutschland, Frankreich, Griechenland, Belgien, Portugal, Bulgarien und Kroatien trotz eines fehlenden UN-Mandats ihren Luftraum für amerikanische Kampfflugzeuge bereit oder gingen ihren Verpflichtungen im Rahmen des NATO-Abkommens nach und beteiligten sich am Schutz türkischer Staatsgrenzen, während sich vor allem Deutschland und Frankreich vehement gegen einen Irakkrieg aussprachen (vgl. Ambos/Arnold 2004).8 Gestärkt durch diese rechtliche Unklarheit in der internationalen Gemeinschaft, kündigte die Türkei ihre unzweifelhafte Mitgliedschaft in der "Koalition der Willigen" an.9

Am 20. März 2003 verabschiedete das Parlament den dritten Beschluß. Mit diesem Beschluß stieg die Türkei praktisch in den Krieg gegen den Irak ein. Aus der Sicht Bagdads befand sich die Türkei auf der Seite der Angreiferstaaten. Aufgrund der Reaktionen der irakischen Kurden, mancher europäischer Staaten sowie des Unwillens der USA marschierten die türkischen Streitkräfte nach dem dritten Beschluß von der Öffentlichkeit abgeschottet in den Nordirak ein. Sowohl der Zeitpunkt des Einmarsches als auch die Stärke der entsandten Truppen wurden geheim gehalten; die Presse berief sich immer auf interne Quellen und Aussagen, die wiederum vom Militär offiziell abgelehnt wurden (z.B. die militärische Abschottung der Kleinstadt ukurca im Südosten der Türkei, über die türkische Truppen in den Nordirak gelangten).10 Bis zum heutigen Tag ist auch unklar, wieviel des über die türkischen Häfen ins Land gebrachten amerikanischen Militärgeräts über die Türkei in den Irak geschafft worden ist.11

Dritter Parlamentsbeschluß: Gemäß Art. 92 der türkischen Verfassung wird für die Entsendung türkischer Streitkräfte in den Nordirak, ihren militärischen Einsatz in von der Regierung zu bestimmenden Fällen sowie die Bereitstellung des türkischen Luftraumes für ausländische Luftkräfte für sechs Monate die Erlaubnis erteilt."

23. Juni 2003

"Der Umfang unserer Beihilfe für die USA kann nur anhand unserer geheimen Dokumente eingeschätzt werden".12 Im Juni 2003 herrschte in der türkischen Presse die Meinung, die Ablehnung des Beschlußantrages am 1. März 2003 sei eine politische Niederlage für die Türkei gewesen. Sie begründete dies damit, daß die Türkei die von den USA versprochene Finanzhilfe noch nicht erhalten hätte, die türkische Regierung ihre Interessen im Nord-irak nicht ausreichend vertreten könne und letztendlich so weit gesunken sei, daß sie alle Forderungen der USA anzunehmen bereit sei.13 Aufmerksamkeit verdient insbesondere der letzte Punkt, in dem behauptet wurde, daß die Türkei allen Forderungen der USA nachgeben würde. Warum eine solche Vermutung in die Welt gesetzt wurde, stellte sich erst im Januar 2004 mit dem Bekanntwerden eines geheimen Regierungsbeschlusses heraus.

In der ersten Phase des Irakkrieges (20. März bis 1. Mai 2003) erlitten die USA keinen großen Schaden. Obwohl offiziell die Nordfront über die Türkei nicht eröffnet worden war, konnten die US-amerikanischen Streitkräfte ihren Einmarsch in den Irak ohne große Probleme fortsetzen. Dennoch fand der politische Druck auf die Türkei von Seiten der USA in bezug auf den aus ihrer Sicht mißlungenen zweiten Parlamentsbeschluß vom 1. März 2003 kein Ende. Der erfahrene Journalist Fikret Bila fragte sich, noch bevor die Regierung den geheimen Beschluß am 23. Juni 2003 faßte, worauf dieser Druck abziele. Seine Antwort lautete, daß die USA damit keinen Racheakt ausübten, sondern die Basis für ihre künftigen Forderungen gegenüber der Türkei vorbereiteten.14 Diese Voraussage bestätigte sich nach ungefähr einem Monat. Die Regierung verabschiedete am 23. Juni einen geheimen Beschluß, der ausländischen Streitkräften jede logistische militärische Unterstützung durch Bereitstellung von Luftbasen und Häfen ermöglichte. Das Geheimnisvolle an diesem Beschluß ist, daß als dessen rechtliche Grundlage zwar die UN-Resolution 1483 vom 22. Mai 2003 genannt, der Beschluß selbst aber nicht im Gesetzblatt veröffentlicht wurde. Einige kommentar- und kontextlose Berichte in einzelnen Zeitungen ließen keine Schlußfolgerung zu Umfang und Wirkung dieses Beschlusses zu.

Im folgenden wird versucht, diese lückenhafte Entwicklung zu rekonstruieren. In einem Pressegespräch am 23. Juni 2003 erwähnte Außenminister Gül, daß die Regierung auf Grund der UN-Resolution 1483 einen Beschluß gefaßt habe und die Türkei zum Transport humanitärer Güter für den Irak ihre Flughäfen, Häfen und Staatsgrenzen für ausländische Streitkräfte geöffnet habe. Er fügte hinzu, daß dieser Beschluß auf Betreiben der USA gefaßt worden war. Der Beschluß wurde in der Presse als ein positiver Schritt der Regierung begrüßt, wodurch die Beziehungen zu den USA wieder belebt werden könnten. Doch de facto wurde die Entscheidungs- und Koordinierungskompetenz bei der Festlegung der bereitzustellenden Luftbasen dem Generalstab übertragen, was trotz der anderslautenden Äußerungen des Außenministers vermuten ließ, daß es um mehr als um humanitäre Güter für den Irak ging. Dieser Beschluß und die Vorgehensweise stellten die Kompetenzen des Parlaments grundsätzlich in Frage. Die Regierung vertrat die Meinung, daß die UN-Resolution 1483, die die USA zum ersten Mal als Besatzungsmacht im Irak anerkannte und alle Staaten in der "Koalition der Willigen" unter der Führung der USA aufforderte, die Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten, auch die Türkei dazu verpflichte, den USA mit allen Mitteln beizustehen. Diese Resolution änderte jedoch nichts an der rechtlichen Situation: daß der Angriff auf den Irak und dessen Besetzung einen Verstoß gegen die UN-Charta darstellte. Es ging lediglich darum, unter gegebenen kriegerischen Umständen das internationale Kriegsrecht geltend zu machen.15

Diese durch gezielte Selektion von Tatsachen geführte strategische Kommunikation der Medien ließ den geheimen Regierungsbeschluß, der in die Kompetenzen des Parlaments eingriff und das Völkerrecht für eigene politische Zwecke instrumentalisierte, bis Januar 2004 nicht ins öffentliche Bewußtsein rücken.

Letztendlich stellt sich die Frage, warum der Regierungsbeschluß geheimgehalten wurde, obwohl die UN-Resolution 1483 zu seiner Rechtsgrundlage erklärt worden war. Als der Beschluß im Januar 2004 in der Öffentlichkeit bekannt wurde, war die herrschende Meinung in der Presse, daß die Regierungspartei mit der Geheimhaltung ihr Ansehen bei ihrer Wählerschaft als Kriegsgegner nicht verlieren wollte (Koru, Yeni Þafak, 9.10.2003). Denn in der Presse wurde durch die "Anästhesierung der Öffentlichkeit" (Meyer 2001: 149f.) durch eine kontextlose Informationspolitik der Eindruck aufrechterhalten, daß die Regierung nach der Ablehnung des zweiten Antrages am 1. März 2003 keine weiteren Schritte für die Beteiligung am Irakkrieg unternommen und gegenüber den USA auf Distanz gestanden habe. Daher sei die AKP-Spitze gezwungen, ihre eigentliche Politik im geheimen und mit einer zwiespältigen öffentlichen Rhetorik zu verfolgen (Koru, Yeni Þafak, 9.10.2003). Medientheoretisch ist es eine interessante Frage, warum viele einflußreiche Journalisten der Öffentlichkeit glauben zu machen suchten, die Beziehungen zwischen der Türkei und den USA seien angespannt.

Geheimer Regierungsbeschluß: Es wird beschlossen, daß türkische Luftwaffenbasen und Häfen für den Transport materieller, humanitärer sowie militärischer Güter oder des militärischen Personals für alle ausländischen Streitkräfte auf ein Jahr befristet freigegeben werden."

7. Oktober 2003

Der Friedenseinsatz der türkischen Armee? Der vierte Beschluß des Parlaments zur Beteiligung am Irakkrieg ist von Diskussionen über eine Finanzhilfe der USA geprägt. Ministerpräsident Erdoðan erklärte am 2. Oktober 2003, es bestehe keinerlei Zusammenhang zwischen dem am 22. September 2003 unterzeichneten Kreditvertrag zwischen den USA und der Türkei in Höhe von 8,5 Milliarden US-$ und der Entsendung türkischer Truppen in den Irak. Nichtsdestotrotz erhoben die USA Presseberichten zufolge gegenüber der Türkei im Zusammenhang mit der Bereitstellung des Kredits eine Reihe politischer Forderungen: Die Türkei durfte sich im Nordirak nur nach Absprache mit den USA betätigen und mußte sie bei deren humanitären Aufbauarbeiten unterstützen. Auf Proteste in der Bevölkerung, die Staatspolitik dürfe nicht an solche finanziellen Verhandlungen gekoppelt werden, antwortete der Finanzminister, daß diese politischen Voraussetzungen mit einem Verlust der Souveränität nichts zu tun hätten. Zu beachten ist, daß der Kreditvertrag zwei Tage nach Ablauf des dritten Parlamentsbeschlusses vom 20. März 2003 unterzeichnet wurde und bis zu diesem Zeitpunkt von Seiten der USA keine Anfrage zur Verlängerung dieser Erlaubnis gestellt worden war. Diese abwartende Haltung scheint auf den geheimen Regierungsbeschluß zurückzuführen zu sein.

Am 7. Oktober 2003 bewilligte das Parlament zum zweiten Mal die Entsendung türkischer Truppen in den Irak. Es wurde der Regierung überlassen, den Bedarf, den Umfang, die Anzahl der zu entsendenden Soldaten sowie den Zeitraum für deren Einsatz zu bestimmen. Der Beschluß wurde in der Presse als Beweis der Führungsqualität des Ministerpräsidenten bezeichnet. Es soll nochmals darauf hingewiesen werden, daß der dritte Parlamentsbeschluß vom 20. März 2003 fast den gleichen Inhalt wie der fünfte Beschluß hatte und lediglich fünf Tage nach der Amtsübernahme Erdoðans gefaßt worden war. Hier wird noch einmal deutlich, daß die Presse nur die politischen bzw. parlamentarischen Ereignisse um den 1. März und den 7. Oktober wahrnahm und die dazwischen liegenden Beschlüsse ausblendete.

Vierter Parlamentsbeschluß: Es wird mit einer Frist von einem Jahr erlaubt, Truppen in den Irak zu entsenden, um zur Sicherheit und Stabilität im Irak beizutragen. Die Entscheidung über die Aufgaben und den Einsatz der Truppen liegt in der Kompetenz der Regierung."

Die Rolle der türkischen Medien im Irakkrieg

Die institutionelle Struktur der türkischen Medien kann nicht ohne den weltweiten Strukturwandel der Medienlandschaft verstanden werden. Wenn Globalisierung überhaupt etwas bedeutet, dann ist sie nichts anderes als die Inkorporation der Gesellschaften in die kapitalistische Moderne (Dirlik 2003: 275). Es gibt zwei Grundthesen über das Wesen der Globalisierung: Die erste These behauptet, daß die Nationalstaaten an Entscheidungsmacht eingebüßt hätten und sich auf der globalen Ebene eine post- bzw. transnationale Regierungsform (governance) ausbilde. Die zweite These hebt die noch immer vorhandene hierarchische Weltordnung der Globalisierung hervor und betont, daß diese Hierarchie nur mit Hilfe von Nationalstaaten vor Ort aufrechterhalten werden kann. Damit die Gesellschaften in den Globalisierungsprozeß inkorporiert werden können, ist man weiterhin auf Nationalstaaten angewiesen, deren Bedeutung also nicht verschwunden ist, sondern deren Funktion sich lediglich gewandelt hat. Bei Krisen und Kriegen tritt noch eine weitere Thesenvariante auf: Wie im Falle des Irakkrieges können einige wenige Zentralmächte der Globalisierung über die internationale Gemeinschaft und andere Nationalstaaten hinaus in die selbst definierte Krise eingreifen, wobei das Einhalten völkerrechtlicher Regeln zur zweitrangigen Frage wird. Bei der Durchführung solcher Kriege erhöht sich die Rolle der Informationssysteme, wobei die Anwendung von Informationsquellen und die Vermittlung von Informationen in den Medienstudien einen "blinden Fleck" (blindspot) darstellen (Murdock 2004: 32f.). In der Tat überträgt sich dieser "blinde Fleck" auf die Darlegung der Rolle der Medien im globalen Kapitalismus und der politischen Ökonomie der Machtkonzentration in der Medienlandschaft. Diese Tendenz beruht auf der klassischen und mittlerweile antiquierten Annahme von der Funktion der Medien als "Wächter" für die Öffentlichkeit (public watchdog), bei der sich die Medien ausschließlich gegenüber einem zum Absolutismus tendierenden Staat zu profilieren versuchen, während die privaten Machtkonstellationen nicht in dieses Konzept einbezogen werden (Curran 1991: 86; Meyer 2001: 57ff.).

Die Schule der "Cultural Studies" hat das Modell der "strukturierten Vermittlung von Ereignissen" entwickelt und damit eine kritische Sichtweise auf liberale Medienstudien ermöglicht. Den "Cultural Studies" kommt das Verdienst zu, daß durch dieses Modell die Harmonie zwischen den herrschenden Ideen in einer Gesellschaft und der Praxis der Medienideologie aufgezeigt werden konnte. Laut Hall et al. dient die Struktur der Nachrichtenproduktion der Vermittlung von Definitionen der Mächtigen (1978: 57; Hall et al. 1989: 141f.). Diese Produktion von Nachrichten ist jedoch weder eine einfache, monolithische Vermittlung von herrschenden Ideen noch eine konspirative Übertragung der Ideologie der herrschenden Klasse (Hall et al. 1978: 59). Die Autoren lehnen dabei eine ökonomische Reduzierung der Medienvermittlungsfunktion ausdrücklich ab und bauen ihr Modell auf der strukturierten Dominanz der Medienvermittlung auf. Demnach haben die Medien nicht die primäre Definitionsmacht bei der Vermittlung von Ereignissen, sondern ihre Bedeutung liegt darin, daß sie die Inhaber der Definitionsmacht selektiert aufnehmen und die Ereignisse verwandelt durch ihren eigenen Filter als Endprodukt produzieren (ebd.: 60ff.). Hall et al. haben mit Hilfe des Hegemoniebegriffs von Gramsci die asymmetrischen Beziehungen in den Medien und ihre Konzertierung mit den hegemonialen Ideen in der Gesellschaft aufgezeigt.16

Die politik-ökonomischen Ansätze in den Medienstudien gehen einen anderen Weg und setzen sich mit der ökonomischen Macht der Medien kritisch auseinander. Sie behaupten, daß der ökonomische Aspekt in den Medien von deren politischer Hegemonierolle nicht getrennt werden kann. Das von Edward Herman und Noam Chomsky entwickelte Propagandamodell gilt als wichtiger Beitrag für den politik-ökonomischen Ansatz. Dieses Modell stellt fünf Bewertungskriterien auf:

1) die finanzielle Machtkonzentration, deren Größe sowie die Profitorientierung,

2) die Werbung als hauptsächliche Einnahmequelle,

3) die Abhängigkeit der Medien von Informationen, die von der Regierung, der Wirtschaft und Experten zur Verfügung gestellt werden, die gleichzeitig als Finanzquelle dienen,

4) das negative und einschränkende Feedback der Regierung gegenüber den Medien als disziplinierende Maßnahme,

5) Antikommunismus oder die Angst vor dem Kommunismus (Herman/Chomsky 2002: 1ff.; Herman 1999: 23ff.).

Eine weitere Version des politik-ökonomischen Ansatzes wurde von Golding/Murdock (1991) entwickelt. Der Unterschied zwischen den beiden Modellen ist, daß im Modell von Herman und Chomsky der Medieneffekt ausgeschlossen und nur auf die institutionelle Organisation der Medien fokussiert wird. Dagegen stellen Golding und Murdock zwischen der kapitalistischen Institutionalisierung und der kulturellen Dekodierung in den Medien eine mittelbare Verbindung her.

Der globale Kapitalismus forciert in der Tat die Verflechtung der o.g. drei Ansätze für ein besseres Verständnis der Medienfunktion. Bei der Analyse der Rolle der türkischen Medien im Irakkrieg wird dieser Bedarf deutlicher. Die türkische Medienlandschaft ist von einer fortwährenden Konzentration des Kapitals gekennzeichnet. Sowohl die Printmedien als auch das Fernsehen befinden sich in den Händen einiger weniger Großkonzerne, die die unterschiedlichen Bedürfnisse des Publikums zu erfüllen versuchen, weshalb es nicht wundert, daß die drei verschieden politisch verorteten Printmedien Hürriyet, Milliyet und Radikal der gleichen Finanz-Holding gehören. Die Großkonzerne in der Türkei betätigen sich hauptsächlich im Banksektor und der Industrie, wobei sie ihr Betätigungsfeld immer weiter auf den Mediensektor ausdehnen. Als Folge dieser Finanzhegemonie verliert die politische Berichterstattung ihre ursprüngliche gesellschaftliche Bedeutung und Funktion, was auch auf globaler Ebene in der Medienlandschaft zu beobachten ist (vgl. Meyer 2001: 58f.). Die türkischen Medien werden seit dem Militärputsch vom 12. September 1980 von der Großbourgeoise beherrscht. Zusammen mit der allmählichen Entpolitisierung der Gesellschaft übernahmen sie auch die Funktion ihrer biopolitischen17 Kontrolle.

Die allgemeine Tendenz in den heutigen Medien ist, daß sie sich nicht als sekundäre Definitionsmacht im Hallschen Sinne betrachten, sondern für sich den Anspruch erheben, die politische Tagesordnung zu definieren und zu lenken. Diese Funktion wird zwar im Namen des Publikums (public voice) ausgeübt, letztendlich sind aber die transnationale kapitalistische Klasse (Istanbuler Großbourgeoise) und die neue Mittelklasse, die von dieser Art der Privatisierung und Marktgesellschaft profitieren (islamisch orientierte mittelständische Unternehmer), gemeint (Murdock 2004: 29). Die übrigen Bevölkerungsgruppen wie Frauen, Kurden, Homosexuelle, MigrantInnen, ArbeiterInnen und andere Mittelklassen werden in das von den Medien vertretene Publikum nur zeitweise eingegliedert. Die von Nicholas Abercrombie et al. (1980) vertretene These, daß die herrschende Ideologie nicht die ganze Bevölkerung betreffe, sondern nur der Konzertierung konflikthafter hegemonialer Ideen diene, trifft auf die gegenwärtigen türkischen Medien besonders zu. Die türkischen Medien schließen durch ihre selbst definierte primäre Definitionsmacht die Lücken zwischen den Mächtigen und helfen, existierende innere Konflikte zu überwinden, während sie das übrige, nur scheinbar vertretene Publikum de facto ausschließen und dieses gleichzeitig manipulativ beeinflussen. In dieser Eigenschaft nähern sie sich den amerikanischen Medien an (vgl. Alterman 2003: 268ff.).

Die folgende Tabelle bestätigt die bisher ausgeführten Thesen: Die türkischen Medien erwähnen anderthalb Jahre nach dem Beginn des zweiten Irakkrieges nur zwei der vier Parlamentsbeschlüsse in bezug auf die türkische Irakpolitik.

Die Zahl der Berichterstattungen beim ersten (6.2.2003) und dritten (20.3.2003) Parlamentsbeschluß erscheint zwar relativ hoch, ist jedoch allein auf das Ineinandergreifen der Kriegsvorbereitungen der USA mit der türkischen Irakpolitik beim ersten Beschluß zurückzuführen. Denn diese Berichte beziehen sich hauptsächlich auf die Verhandlungen der Türkei mit den USA sowie die Modernisierung der Luftwaffenbasen und Häfen für die Vorbereitung auf den Krieg in Zusammenarbeit mit den amerikanischen Experten. Auch die Kolumnen beschäftigten sich mit diesen Themen, wenngleich darin nicht unbedingt ähnliche Positionen bezogen wurden. Der dritte Beschluß überschnitt sich mit dem Tag des ersten Angriffs auf den Irak. Es wurde von Seiten der Presse hauptsächlich auf die Irakpolitik der neuen Erdoðan-Regierung fokussiert, wobei das Hauptargument sich auf die Unmöglichkeit einer passiven Haltung beim aktuellen Krieg bezog. Doch letztendlich wurde während der Berichterstattung über den vierten Parlamentsbeschluß nur noch der Beschluß vom 1. März als der einzige vorherige Beschluß erwähnt, während alle anderen ausgeblendet wurden.

Die meisten Presseberichte und Kolumnen lassen sich zum Parlamentsbeschluß vom 1. März finden. Die Tageszeitung Yeni Þafak, das inoffizielle Sprachrohr der AKP-Regierung, berief sich bei den Presseberichten fast ausschließlich auf Regierungserklärungen und hinterfragte deren rhetorische Widersprüche mit der Realität nicht, wogegen ihre beiden Kolumnisten die Position des damaligen Ministerpräsidenten Gül übernahmen und sich gegen eine Kriegsbeteiligung aussprachen. Diesen beiden Kolumnisten ist eine konsistente Haltung bei den darauffolgenden Beschlüssen zuzusprechen, da sie sich trotz des innerparteilichen Machtwechsels nicht auf die Kriegsbeteiligung einstellten. Die anderen Zeitungen, insbesondere deren Kolumnisten, sprachen sich offen für eine Kriegsbeteiligung der Türkei aus und propagierten diese Ansicht offensiv. Insbesondere die Kolumnisten bei Hürriyet haben trotz des Anteils von 94 Prozent Kriegsgegnern in der türkischen Bevölkerung (Kramer 2003b: 2) trotzig behauptet, das "gemeine Volk" könne manchmal die Interessen des Staates nicht erkennen. Das gleiche Argument wandte sie auch nach der Ablehnung des zweiten Beschlußantrages für das türkische Parlament an und behauptete, daß auch die formal demokratischen Entscheidungen nicht immer die richtigen sein müßten. Nach der Ablehnung des zweiten Beschlußantrages erhoben die Kolumnisten von Hürriyet sogar den Anspruch, die zu erwartenden kriegsbedingten wirtschaftlichen Verluste bei den Abgeordneten, die gegen diesen Antrag stimmten, und allen Kriegsgegnern einzufordern. Die Gründe der Kriegsbefürworter in der Presse19 überschnitten sich mit denen des Militärs und der traditionellen Staatsräson. Diese Gründe können unter drei Punkten zusammengefaßt werden:

1) Wir dürfen nicht aus der Machtkonstellation im Irak nach dem Krieg herausfallen. Ein neuer Kurdenstaat im Nordirak kann nur mit unserer aktiven Teilnahme an diesem Krieg verhindert werden.

2) Wir dürfen unseren wichtigsten strategischen Partner USA nicht im Stich lassen.

3) Eine Kriegsgegnerschaft hat eine neue Wirtschaftskrise zur Folge, da wir dadurch die Unterstützung der USA bei internationalen Geldgeberinstitutionen verlieren.

Beim vierten Parlamentsbeschluß vom 7.10. 2003 begrüßten Hürriyet, Milliyet und Radikal den Beschluß als Fortschritt in der Irakpolitik und interpretierten ihn als Abkehr von der fehlerhaften Entscheidung vom 1. März 2003. Zudem wurde die Führungsqualität des Ministerpräsidenten Erdoðan hervorgehoben und seine verbindliche Autorität gelobt.

Am interessantesten ist jedoch die Kommunikationssperre in bezug auf den geheimen Regierungsbeschluß vom 23. Juni 2003. Obwohl es einige wenige Presseberichte bei Hürriyet20 und Milliyet21 über diesen Beschluß gab, ist seine außerordentliche Bedeutung bei der Unterhöhlung der Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der Desinformationsstrategie untergegangen. Dieser "Mantel des Schweigens" (Peters 1994: 64) als Strategie dient noch heute dazu, die Thematisierung der Rechtswidrigkeit dieser Vorgehensweise öffentlich zu vermeiden. Somit kann festgehalten werden, daß die Medien in der untersuchten Phase abwechselnd als sekundäre und primäre Definitionsmacht agierten und die Staatspolitik mitgestalten durften und konnten.

Fazit

Sowohl in der europäischen als auch in der türkischen Öffentlichkeit herrscht bis heute die Meinung vor, die Türkei hätte sich am Irakkrieg nicht beteiligt. Wie in diesem Beitrag gezeigt, ist diese Annahme faktisch falsch. Einer der Gründe für diese weit verbreitete Vorstellung liegt darin, daß die Öffentlichkeit ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Ablehnung des Antrages vom 1. März 2003 zur Entsendung türkischer Truppen in den Irak und Stationierung amerikanischer Soldaten in der Türkei fokussierte. Daher gerieten die Entscheidungen der Regierung vor und nach diesem Antrag in den Hintergrund. Doch der geheime Regierungsbeschluß vom 23. Juni 2003 stellt den wichtigsten Beweis für die türkische Beteiligung am Irakkrieg dar. Daß dieser Beschluß in der Öffentlichkeit nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erlangte, ist der manipulativen Desinformationsstrategie der türkischen Medien und dem von ihnen vorangetriebenen "Mantel des Schweigens" zuzuschreiben. Mit dieser Strategie unterstützten sie die Regierung in ihren Bemühungen, den "Fehler der Ablehnung" wieder gutzumachen und im Rahmen der traditionellen türkischen Außenpolitik die Beziehungen zu den USA wieder zu normalisieren. Somit kann festgehalten werden, daß die türkischen Medien einen grundlegenden Struktur- und Funktionswandel als Folge der Globalisierung bereits vollzogen haben und ihre neue Funktion als primäre Definitionsmacht in der Politik explizit wahrnehmen.

Anmerkungen

1 Die AKP betrachtet sich als Schwesterpartei der europäischen christlich-demokratischen Parteien und definiert sich als konservativ-demokratische Partei. Manche politischen BeobachterInnen bezeichnen sie als eine "moderat-islamische" Partei (zitiert von Balibar 2004: 232). Im Hinblick auf ihre Sozial- und Wirtschafts-politik kann man die AKP den neoliberalen Rechtsparteien zuordnen (vgl. Keyder 2004: 71f.), wenngleich sie versucht, sich von den herkömmlichen islamischen Parteitraditionen zu lösen. So unterscheidet sie sich bspw. von der Saadet-Partisi (Glückseligkeitspartei) Erbakans, die noch immer ein staatsgefördertes Wirtschaftswachstum propagiert, welches die islamischen Sozialaspekte mit einbezieht.

2 Dieses Bemühen der Medien kann auf den Wunsch der Großbourgeoise in der wirtschaftlichen Hauptstadt Istanbul und des aufblühenden konservativ-islamischen Kapitals, der sog. "anatolischen Tiger", nach Stabilität zurückgeführt werden.

3 So meint z.B. Claus Leggewie, das Demokratisierungsvorhaben der Türkei sei im Rahmen des aktuellen Beitrittsprozesses in seiner Radikalität nur mit der Modernisierung Japans seit dem 19. Jahrhundert zu vergleichen (2004: 14).

4 Bis Anfang der 1980er Jahre gab es in der Türkei die Tradition eines editorialen Kommentators, der parallel zu den regulären Kommentatoren existierte. Seit Anfang der 1980er Jahre wurde dieser editoriale Kommentator durch Starkolumnisten ersetzt. Obwohl diese im Prinzip gelernte Journalisten sind, ist der berufliche Hintergrund keine Grundregel. Die Rolle dieser Starkolumnisten wird darin gesehen, daß sie aktuelle Themen im Sinne von Stuart Hall für das einfache Publikum vor-dekodieren und die Themen mit einer idiomatischen Ausdrucksweise (using a public idiom) übersetzen". Ihre hauptsächliche Rolle besteht jedoch in der "Vertretung der Volksstimme" (taking the public voice; Hall et al. 1978: 63).

5 Die nach dem 11. September 2001 von der Bush-Regierung angekündigte Nationale Sicherheitsstrategie gab bereits die Eckpunkte der neuen amerikanischen Sicherheitspolitik vor; vgl. The National Security Strategy of the United States of America", September 2002 (http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf).

6 Heinz Kramer meint dagegen, daß die Türkei sich kaum "um eine ernsthafte Konzertierung mit der EU und den wichtigsten EU-Mitgliedstaaten bemüht" hätte (Irak-Jour fixe, 9.04.2003).

7 Corriere della Sera vom 2.3.2003.

8 In diesem Zusammenhang wurde beim deutschen Generalbundesanwalt der Antrag gestellt, gegen Mitglieder der deutschen Regierung wegen ihrer Entscheidung, im Rahmen des NATO-Abkommens AWACS-Flugzeuge für den Schutz türkischer Staatsgrenzen einzusetzen, zu ermitteln. Der Antrag wurde als unbegründet abgewiesen; vgl. Juristenzeitung 2003/18, S. 908-911. Auch der Antrag der FDP auf eine einstweilige Verfügung beim Bundesverfassungsgericht mit der Begründung, daß es für den Einsatz der AWACS-Flugzeuge eines Parlamentsbeschlusses bedarf, wurde abgelehnt; vgl. BVerfGE, 2 BvQ 18/03 vom 25.03.2003. Abrufbar unter (http://www.bverfg.de/entscheidungen/qs20030325_2bvq001803.html).

9 Vgl. Milliyet, 19.2.2003.

10 Vgl. Radikal. 23.3.2003.

11 Ohne auf den Umfang des dritten Beschlusses einzugehen, berichteten die Zeitungen von einer "intensivierten Arbeit" in den südlichen Häfen der Türkei; vgl. Milliyet, 25.3.2003.

12 Äußerungen des Außenministers Abdullah Gül in einem Pressegespräch (Milliyet, 24.6.2003).

13 Stellvertretend für diese Meinung vgl. Radikal, 29.6.2003.

14 Milliyet, 15.5.2003.

15 Vgl. HabermasÂ’ Meinung, daß die UN auch nach dem offiziellen Ende des Irakkrieges ihre Funktion im internationalen Rechtssystem verteidigt hat (2004b: 146f.).

16 Gegen die verrückte Anwendung des Modells von "Cultural Studies" durch postkoloniale Theorien hat Hall beklagt, daß dadurch die Rolle der Ökonomie völlig ausgeblendet wurde (zitiert von Murdock 2004: 29).

17 Zum Begriff des Biopolitischen vgl. Agamben 2002; Deleuze 1993.

18 Eine ausführliche Inhalts- und quantitative Datenanalyse der Berichterstattung wird in der türkischen Veröffentlichung dieses Aufsatzes durchgeführt.

19 Die "Falken" der Presse wurden von der populären türkischen Rockband "Mor ve Ötesi" ironisch als Jongleure bezeichnet, die ihre Zuschauer - in diesem Fall die Finanzmärkte und die USA - immer im Auge behalten und auf ihre Wünsche einzugehen suchen.

20 Zwei Tage nach dem geheimen Regierungsbeschluß, am 25.6.2003, erschien ein einziger, kontextloser Bericht über den Beschluß; dieser wurde danach nie wieder erwähnt.

21 Obwohl die meisten Berichte im Juni 2003 in Milliyet erschienen sind, wurde im Januar 2004, als der ganze Inhalt dieses geheimen Beschlusses bekannt wurde, auf die vorherigen Berichte überhaupt nicht Bezug genommen.

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Dr. phil. habil. Ece Göztepe, Hochschuldozent an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara

Dr. jur. Aykut Çelebi, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster