Wahlsieg der Frente Amplio

Der Ausgang der Wahl in Uruguay und seine politischen Perspektiven.

Der Jubel war unbeschreiblich. Hunderttausende strömten am 31.Oktober in der Hauptstadt Montevideo auf die Straßen, auch in der Provinz wurde die ganze Nacht gefeiert und getanzt. Sie alle feierten den Wahlsieg von Tabaré Vázquez, dem Kandidaten der Frente Amplio, dem es 33 Jahre nach Gründung dieser "Breiten Front" gelungen ist, die Linke in Uruguay an die Macht zu bringen.

Auch wenn Uruguay mit seinen 3 Millionen Einwohnern - umringt von den wirtschaftlich wie regionalpolitisch starken Nachbarn Brasilien und Argentinien - nur ein vergleichsweise unbedeutendes Land in Lateinamerika ist, ist dieser Erfolg der Linken durchaus exemplarisch. Es ist zugleich der Wahlsieg einer politischen Partei und einer sozialen Bewegung, die sich in mehr als drei Jahrzehnten trotz Militärdiktatur und zermürbender Wirtschaftskrise nicht gespalten hat. Ihr vollständiger Name - Frente Amplio - Encuentro Progresista - Nueva Mayoría (FA-EP-NM) - zeigt, dass es im Gegenteil gelungen ist, immer mehr Sektoren und Strömungen auch aus der politischen Mitte einzubeziehen.
Das Bündnis, das mittlerweile von Kommunisten und Ex-Guerilleros bis hin zu Sozialdemokraten und fortschrittlichen Liberalen reicht, hatte genug langen Atem, um die Sprossen der parlamentarischen Macht zu erklimmen.
In der Hauptstadt, in der fast die Hälfte der Einwohner lebt, regiert die Frente bereits seit mehreren Legislaturperioden. Beharrlich wurde der Einflussbereich weiter ausgebaut, ausgehend von Stadtteilgruppen und Basisbewegungen bis hin in die abgelegenen, zumeist erzkonservativen Gegenden im Inneren das kleinen Landes. Bei jeder Wahl gewann die Frente beträchtlich Stimmen hinzu und drohte, das seit über hundert Jahren etablierte Zweiparteiensystem zweier konservativ-liberaler Traditionsparteien zu zerstören.
Ende 2004 war es soweit: absolute Mehrheit für die Frente, so dass Vázquez bereits im ersten Wahlgang zum Präsidenten gekürt wurde. Die bis dato regierende Colorado-Partei stürzte auf blamable 10% ab, und sogar im Kongress konnte das Mitte-Links-Bündnis eine Mehrheit erringen: 53 von 100 Sitzen im Abgeordnetenhaus und 16 von 30 Senatssitze.
Die Erwartungen an die neue Regierung sind groß. Ginge es nach den Wählern, soll sie in der kommenden Legislaturperiode all das gerade biegen, was ihre konservativen Vorgängerinnen und insbesondere der letzte Präsident Jorge Batlle falsch gemacht haben.
An erster Stelle steht dabei die wirtschaftliche Lage: Einst galt Uruguay als die Schweiz Südamerikas, in der es keine Slumgürtel rund um die Städte, eine starke Mittelschicht und ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gab. Dieser Luxus wurde in über einem Jahrzehnt neoliberaler Politik aufgegeben, schlimmer noch, seit 1999 geriet das Land in den Strudel des ökonomischen Zusammenbruchs des südlichen Nachbars Argentinien.
Der Anteil der Armen stieg auf über 40%, Devisenflucht und Inflation erstickten die zuvor relativ gesunde Wirtschaft. Im Jahr 2002 wurden schließlich auch nördlich des Rio de la Plata Bankkonten eingefroren, und den Uruguayern wurde schmerzlich bewusst, dass auch ihr relativer Wohlstand dem Dogma des Liberalismus und den Vorgaben von Weltwährungsfonds und Weltbank geopfert worden war.

Vom Schoßhund der USAÂ…
Nicht nur die wirtschaftlich missliche Lage trieb die Wähler der Frente zu. Das marode Zweiparteiensystem aus Colorados und Blancos war schon seit längerem in einem Netz aus Korruption, Ideenlosigkeit und Klientelismus gefangen.
Unbeirrt hielt Präsident Batlle an seinem konservativen Regierungskurs fest und nahm schlicht nicht zur Kenntnis, dass um ihn herum ein neuer Wind wehte: In Brasilien kam mit dem Ex-Gewerkschafter Lula eine Mitte-Links-Regierung an die Macht, und auch in Argentinien und Paraguay wurden Präsidenten gewählt, die zumindest ihrem Programm nach für Aufbruch und eine sozial ausgerichtete Politik standen.
Während alle Nachbarstaaten eher auf eine regionale Wirtschaftsintegration in Rahmen des Gemeinsamen Südamerikanischen Marktes Mercosur setzen und die hegemoniale Rolle der USA immer wieder in Frage stellen, machte Batlle Uruguay zum treuesten Vasallen Washingtons in der Region. So begrüßte er die panamerikanische Wirtschaftszone ALCA und unterwarf sich bereitwillig jedem Diktat des IWF. Außenpolitisch führte diese Haltung zum Eklat, als er sich bereit erklärte, für die USA eine Resolution zur Verurteilung Kubas bei der UN- Menschenrechtskommission einzubringen. Kuba brach prompt alle Beziehungen zu Uruguay ab, und Batlle erntete in der eigenen Bevölkerung nur Unmut oder Kopfschütteln.
Wahlsieger Tabaré Vázquez kündigte nun an, er werde die Beziehungen zu Kuba wieder aufnehmen. Dies dürfte allerdings der leichteste Schritt für die neue Regierung sein. Ob sie den hochgesteckten Erwartungen auch in anderen Bereichen genügen wird, ist eher zu bezweifeln. Zwar verfügt die Frente Amplio im Gegensatz zur PT in Brasilien über eine parlamentarische Mehrheit und ist somit nicht auf strapaziöse Allianzen mit bürgerlichen Kräften angewiesen.
Dennoch ist davon auszugehen, dass der Spielraum für Veränderungen sehr eng sein wird. Wirkliche Veränderungen in der Wirtschafts- oder Sozialpolitik sind gegen Unternehmerinteressen und die Einflussnahme des Auslands nur schwer zu realisieren. Das Beispiel Venezuelas zeigt, dass solche Kurswechsel mit handfesten Drohungen und Boykottmaßnahmen einhergehen. Und weil Uruguay im Gegensatz zu Venezuela nicht über große Erdölvorkommen verfügt, führt an der Erfüllung des ruinösen Schuldendienstes und internationalem Wohlbetragen kaum ein Weg vorbei.
Die enge Nachbarschaft zu Brasilien und Argentinien wird zumindest den außenpolitischen Diskurs verändern und Uruguay zu einem Fürsprecher des Mercosur und regionaler Kooperation machen. Aber insbesondere Lula macht in Brasilien gerade vor, was für viele Frente-Wähler in Uruguay ein Alptraum ist. Statt wie im Wahlkampf angekündigt auf nachhaltige soziale Veränderungen zu drängen und langfristig eine nicht an neoliberalen Vorstellungen orientierte Wirtschaftpolitik einzuleiten, setzt Lula zur Verzweiflung der Mehrheit seiner Anhänger auf das Gegenteil: Liberale Kontinuität im Ökonomischen, und nichts als schöne Worte im Sozialen. Immer mehr prominente Unterstützer und Basisbewegungen, mittlerweile auch die einflussreiche Landlosenbewegung, sagen sich nach zwei Jahren Amtszeit von Lula los und beginnen, ihn wie einst seine konservativen oder sozialdemokratischen Vorgänger zu bekämpfen.

Â…zur pragmatischen Suche nach neuen Wegen
So ist derzeit die spannendste Frage in Uruguay, welche Richtung die Frente-Regierung einschlagen wird. Wird ein Wandel zumindest versucht oder obsiegen die Sachzwänge gleich über den fortschrittlichen Diskurs? Schon jetzt zeichnet sich ab, dass innerhalb der Frente Amplio zwei Strömungen das Sagen haben werden. Zum einen die MPP, die zahlenmäßig stärkste Gruppe, die von dem charismatischen Pepe Mujica angeführt wird. Ihr gehören viele ehemalige Stadtguerilleros der Tupamaros sowie andere gestandene Linkskräfte an. Voraussichtlich werden Mujica und Fernando Huidobro, ein weiterer Tupamaro-Gründer, das Industrie- und das Verteidigungsministerium besetzen.
Die andere starke Gruppe innerhalb der Frente ist die Asamblea Uruguay, die einen eher gemäßigten Kurs verfolgt. Wichtigster Repräsentant dieser Strömung ist der designierte Wirtschaftsminister Danilo Astori, der bereits ankündigte, keine radikalen Änderungen in der Wirtschaftspolitik vornehmen zu wollen. "Investoren dürfen nicht verschreckt werden", so das Credo von Astori, der auch nicht ausschließt, sich am Beispiel Brasiliens zu orientieren.
Auch Präsident Vázquez gehört eher den weniger radikalen Kräften an, so dass davon auszugehen ist, dass vorerst ein pragmatischer Kurs ohne große Risiken oder großes internationales Aufsehen eingeschlagen wird.
Damit dürfte der zukünftige Präsident auch der Stimmung der Mehrheit im Land entsprechen, die angesichts ungekannt heftiger Wirtschaftsprobleme im Alltag keine große Lust auf Experimente hat. Deswegen verzeihen viele der Frente auch ihre indifferente Haltung zur Frage der Aufarbeitung der Geschichte der Diktaturzeit.
Seit eine Volksabstimmung die strafrechtliche Verfolgung der Täter in Uniform abgelehnt hat, sind es fast ausschließlich die Angehörigengruppen, die dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung setzen. Juristisch konnten sie bisher kaum Erfolge verzeichnen, und aus dem Regierungsprogramm der Frente geht nicht hervor, dass sie bei diesem immer noch heiklen Thema eine Vorreiterrolle einnehmen will.
Ihre Gelassenheit und ihren Optimismus lassen sich viele Uruguayer dabei nicht von den bevorstehenden Politquerelen "ihrer" Frente nehmen. Sie haben vielmehr das Selbstbewusstsein, selbst die Wurzeln für diesen politischen Wandel gesetzt zu haben, und bauen darauf, dass diese Basis stabil genug ist, auch eine parlamentarische Machtübernahme zu bestehen. Raúl Zibechi von der uruguayischen Wochenzeitung Brecha beschreibt in einem Beitrag für den Info-Dienst Alai, wie dem Wahlsieg der Linken eine tiefe Verankerung dieser Politikrichtung vorausging:
"Die Linke hat die kulturelle Vorherrschaft lange vor ihrem Wahlsieg errungen. Die staatliche Universität und das Theater sind seit über einem halben Jahrhundert Hochburg einer Linken der Mittelschichten. In der 60er Jahren hatte die Kultur der Linken bereits die Vorherrschaft unter den Akademikern. Allmählich setzte sich ein linkes Grundgefühl mehrheitlich in Bereichen wie Volksmusik, Karneval und den wichtigsten Veranstaltungen mit Massenpublikum durch. Selbst einige Fußballstars verbergen ihre Vorliebe für die Frente Amplio nicht. Das Bürgermeisteramt in Montevideo, seit 1990 unter Kontrolle der Frente, trug zur Vertiefung ihrer kulturellen und sozialen Hegemonie bei, ohne die die Linke keine Chance auf die Regierungsübernahme hätte. Worin aber besteht diese Hegemonie? Darin, dass die zentralen von der Frente verkörperten Ideen (Sozialstaat, aufrichtige Regierung, nationale Souveränität, soziale Gerechtigkeit u.a.) Teil des ›gesunden Menschenverstands‹ der Bevölkerung in Uruguay zu Beginn des 21.Jahrhunderts geworden sind."
Ein Beispiel für das ausgeprägte politische und demokratische Bewusstsein in Uruguay ist eine Volksbefragung, die auf Initiative von Basisgruppen ebenfalls am 31.Oktober durchgeführt wurde. Über 60% der Wahlberechtigten stimmten dafür, dass die Versorgung mit Trinkwasser als Menschenrecht anerkannt wird, dass die Wasserwirtschaft nicht privatisiert werden darf und dass dieser Grundsatz sogar in die Verfassung aufgenommen wird. Ein Vorgang, der in der EU und überall dort, wo neoliberale Dogmen noch den Diskurs bestimmen, undenkbar ist.
Es war allerdings nicht das erste Mal, das die Uruguayer per Volksabstimmung Privatisierungsvorhaben der verschiedenen konservativen Regierungen stoppten. Und auch der Regierung von Tabaré Vázquez dürfte bewusst sein, das der Wahlsieg kein Blankoscheck sein wird, sondern ein Vertrauensvorschuss, der auf die eine oder andre Art eingelöst werden muss.

Andreas Behn