Der Funken der Hoffnung im Vergangenen. In Erinnerung an den Herbst 1989

Der heimliche Index der Geschichte

Die folgende "Erzählung" von Geschichte ist bewusst parteiisch. Sie erinnert nicht, was "in Wirklichkeit" gewesen ist, sondern sieht sich Walter Benjamins Forderung nach einer historisch-materialistischen Geschichtsschreibung verpflichtet, die sich nicht vom Konformismus überwältigen lässt, sich nicht in die Sieger "einfühlt"1, sondern versucht, "im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen". Es geht immer um die Befreiung, es geht um das "Messianische" in der Gegenwart, es geht darum, "das Kontinuum der Geschichte" aufzusprengen2 und die Chancen für eine soziale und demokratische Transformation, für eine Emanzipation von Kapitaldominanz, Patriarchat und imperialer Herrschaft freizusetzen. Noch einmal Walter Benjamin: "Die jeweils Lebenden erblicken sich im Mittag der Geschichte. Sie sind gehalten, der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten. Der Historiker ist der Herold, welcher die Abgeschiedenen zu Tische lädt."3

Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, Geschichten wie die folgenden zu erzählen. Der Abstand zu 1989 beträgt schon fünfzehn Jahre. Wie lang dies ist, verdeutlicht der Umstand, dass fünfzehn Jahre nach der Novemberrevolution von 1918 die Macht in Deutschland durch die herrschenden Eliten schon fast ein Jahr an Hitler und die NSDAP übergeben worden war. Und fünfzehn Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges, 1960, standen die neuen Probleme der Nachkriegsordnung im Zentrum, die in der Kuba-Krise und dem Bau der Berliner Mauer mühsam gebändigt wurden. Es wäre zu hoffen, dass der historische Abstand mehr Souveränität erlaubt, als dies unmittelbar nach 1989 möglich war, in Zeiten, da die Geschichte des Staatssozialismus Hauptwaffe politischer Kämpfe war. Jetzt könnte es auch möglich sein, jenen "heimlichen Index" aufzuspüren, durch den diese Vergangenheit "auf die Erlösung verwiesen wird"4.

Das Ende

Das Ende wirft Licht auf das Ganze. Es ist Vollendung und Abbruch. Mit dem Ende zu beginnen, heißt, Bilanz zu ziehen. Anfänge sind voller Unklarheit. Es können nur Prognosen mit einem bestimmten Grad an Wahrscheinlichkeit getroffen werden. Sie stehen im Morgenlicht großer gespannter Erwartungen. Vor jedem Ende kann es immer noch den Glauben auf Chancen geben zur Veränderung, die das Ende verhindert. Anfänge können die Unschuld von Beginnen in Anspruch nehmen, die aber nicht mit Verantwortungslosigkeit verwechselt werden darf. Das Ende spricht immer auch von Schuld.

Jedes Ende hat viele Enden. Und viele Erzählungen passen zu einem Ende. Das Ende der DDR kann erzählt werden als Geschichte von wirtschaftlicher, ökologischer und politischer Stagnation und von Niedergang, die in Verzweiflung und Protest mündeten. Es kann auch von Wahlfälschungen und neuen Repressionen berichtet werden. Von politischen Gefangenen und vom Wirken der Staatssicherheit unter Führung der SED muss gesprochen werden, aber auch von einer sich formierenden kleinen Minderheit von Dissidenten. Der unendlichen Zahl von immer neuen Diskussionen um die Erneuerung der DDR in vielen Foren seit 1986, in Familien, Arbeitskollektiven und Nachbarschaftsgruppen wäre wieder aufzudecken. Der fast unbekannten Geschichte der Versuche, einen Machtwechsel in der DDR auch fünf nach zwölf noch zu organisieren, müsste erinnert werden. Es wäre über das letzte Jahr der DDR zwischen Erneuerungsversuchen und Beitritt zu erzählen.

Das Ende ist mit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" in Ungarn und der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 verbunden. Die erste Volksbewegung des Sommers 1989 war die Massenflucht vor allem junger Bürgerinnen und Bürger der DDR, oft mit ihren Familien, über Ungarn, die Tschechoslowakei oder Polen nach Westen. Der Massenexit vieler Einzelner bereitet die demokratische Volksbewegung der Vielen gemeinsam auf den Straßen von Leipzig, Dresden, Berlin und vielen anderen Städten vor.

Das Ende hat viele Enden. Und da ich wählen muss, was ich erzählen will, auch aus Zeitgründen, wähle ich die Geschichte vom Ende des sowjetischen Staatsparteisozialismus durch seine eigene Utopie.5 Der Geist holte den Leib ein, die Utopie des demokratischen Sozialismus griff nach der Diktatur des "realen Sozialismus". Das Ende, von dem ich erzählen will, ist die Geschichte von der "heroischen Illusion" der Perestrojka.6

Die durch Michail Gorbatschow repräsentierte Vision der Umgestaltung des sowjetischen Staatsparteisozialismus war die der Befreiung der unterdrückten gesellschaftlichen Kräfte in der Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, dem geistigen Leben und zwischen den Völkern der Sowjetunion vom diktatorischen Zentralismus. Diese Vision wurde auf die Weltgesellschaft ausgedehnt: Die Eindämmung von imperialer Vorherrschaft und Wettrüsten sollte Raum frei machen für eine solidarische Entwicklung in Frieden.

Diese Vision erweckte die kommunistische Utopie zu neuem Leben: die Beseitigung der Mächte des Privateigentums, eines bürokratischen Klassenstaats und der alten Klassengesellschaft sollten, so die Ursprungsvorstellungen, auf der Basis einer hohen Produktivkraftentwicklung Platz machen für eine "freie Entwicklung eines jeden als Bedingung der freien Entwicklung aller"7. Mit Gorbatschow wurde diese Vision plötzlich zur materiellen Gewalt der Umwälzung genau jenes Sozialismus, der in ihrem Namen errichtet wurde. Die über viele Jahrzehnte stillgestellten Maßstäbe, die emanzipative Bewegungen an einen Sozialismus anlegen, wurden zur normativen Grundlage der Politik.8 Wie Gorbatschow selbst schrieb: "Die Umgestaltung ist ein revolutionärer Prozess, denn es handelt sich um einen Sprung nach vorn in der Entwicklung des Sozialismus, bei der Durchsetzung seiner Wesensmerkmale."9

Im Ende erwiesen sich noch einmal gleichermaßen die Stärke wie die Schwäche dieser Utopie. In dem Augenblick, wo die realen Strukturen des Staatsparteisozialismus durch die Führung der herrschenden Kommunistischen Partei selbst an den Visionen des demokratischen Sozialismus gemessen und entsprechend umgestaltet wurden, konnten diese einem solchen Lichte nicht standhalten und verschwanden im Orkus der Geschichte. Das immer wieder begonnene Werk eines Protestes gegen den diktatorischen Sozialismus im Namen eines Sozialismus mit "menschlichem Gesicht" wurde dieses Mal tatsächlich vollendet. Rosa Luxemburgs Wort von der Untrennbarkeit von Sozialismus und Demokratie, eingefordert während der Gewerkschaftsdiskussion 1920/21 und dem Kronstädter Aufstand, in Bucharins Verfassungsentwurf für die Sowjetunion, in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968, in den vielen Bewegungen einer sozialistisch begründeten Dissidenz zum realen Sozialismus - jetzt wurde es eingelöst und löste seinerseits den Staatsparteisozialismus auf.

Dieses Ende ist ein Ende, das für eine faschistische Diktatur, so ähnlich manche Erscheinung war, undenkbar ist. Faschismus und Nationalsozialismus sind durch eine weitgehende Übereinstimmung von antihumanistischer Ideologie und gewaltgestützten Herrschaftsformen geprägt. Die Legitimation von Diktatur durch Rassenherrschaft, Führerkult, Volksgemeinschaft entspricht dem Wesen dieser Herrschaft. Sie steht ihrerseits nur in einem partiellen Konflikt zur kapitalistischen Wirtschaft. Dieser kann auch dadurch gelöst werden, dass sich faschistische Regime von oben reformieren, wenn die wirtschaftlich Herrschenden glauben, Kapitalismus auch ohne brutale Diktatur bewahren zu können, und die faschistischen Eliten diesem Druck nachgeben. Aber dieses Ende deckt dann nur auf, was schon vorher Tatsache war - die unheilige Nähe von entfesseltem Kapitalismus zum Faschismus. Faschismus war und ist der immer mögliche Ausweg der kapitalistischen Eliten in Zeiten, in denen ihre Herrschaft nicht mehr demokratisch aufrecht erhalten werden kann. Sie suchen dann ihr Heil bei der extremen Rechten. Ganz anders das Ende des sowjetischen Staatsparteisozialismus: Es löste die Bindung einer radikal humanistischen Vision an eine politische Diktatur und eine Zentralverwaltungswirtschaft auf und setzt sie frei für neue emanzipative Versuche von unten.

Die Schwäche der Politik Gorbatschows ist die Kehrseite ihrer Stärke. Die Utopie des demokratischen Sozialismus erwies sich in der Stunde der Wahrheit als "leer": Sie hatte keinen institutionellen Kern. Ihr lagen keine tragfähigen und nachhaltigen Vorstellungen über die zu schaffenden neuen gesellschaftlichen Verhältnisse, die die des Staatsparteisozialismus ablösen sollten, zugrunde, soweit sie über die von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie hinaus gehen oder zu diesen alternativ sein sollten. Zugleich konnte sie auch keinen neuen "historischen Block" konstituieren. Weder war sie mit der Vision einer dem Kapitalismus überlegenen Produktivität noch mit einer tragfähigen alternativen Interessenkoalition verbunden.10 Die Vision verlor deshalb ihre Ausstrahlungskraft im gleichen Maße, wie die Zerstörung des Staatsparteisozialismus voranschritt.

Die Demonstration vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin vollzog diese symbolische "Hin-Richtung" des Staatssozialismus, die 1985 in der Sowjetunion begonnen hatte, fünf Tage vor dem Ende der DDR als geschlossener Gesellschaft auf deutschem Boden in kürzester Form nach. Was bis Oktober 1989 in der DDR in die Nischen und die Gegengesellschaft verdrängt worden war, kam für einen kurzen Augenblick ans Tageslicht einer demokratischen Bühne, um dann - weitgehend unabgegolten - zu verschwinden.11

Drei Gruppen sprachen auf dieser Demonstration - sozialistische Intellektuelle als die eigentlichen Initiatoren, die Dissidenten und führende Vertreter der untergehenden Staatspartei. Ihr erreichter Konsens war die Unumkehrbarkeit der Demokratisierung, die im Oktober herbeidemonstriert und durch das Ausbleiben einer bewaffneten Unterdrückung dieser Demonstrationen von der SED akzeptiert worden war. Stefan Heym als einer der prägenden Intellektuellen eines demokratischen Sozialismus der DDR artikulierte noch einmal jene Vision, für die so viele von ihnen in diesem ihrem Land geblieben waren: "Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige - den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes!"12 Und Jan Josef Liefers forderte: "Die vorhandenen Strukturen, die immer wieder übernommenen prinzipiellen Strukturen lassen Erneuerung nicht zu. Deshalb müssen sie zerstört werden. Neue Strukturen müssen wir entwickeln, für einen demokratischen Sozialismus."13

Die Dissidenten, die sich entschlossen hatten, auf dieser Demonstration zu sprechen, stellten nicht den Sozialismus, sondern die Forderung nach einem demokratischen Staat unter Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt. Im Bewusstsein der Repressionen, denen Demonstranten noch knapp einen Monat vorher ausgesetzt waren, war es für sie das Wichtigste: "Wie schaffen wir die politischen Strukturen, die ein für allemal verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht."14 Die zentrale Forderung war die nach freien Wahlen, so Jens Reich, "die diesen Namen verdienen. Mit Auswahl zwischen Kandidaten und verschiedenen Programmen, mit geheimer Abstimmung und fehlerfreier Zusammenrechnung. Wir wollen nicht nur Papiertüten falten."15

Als der wichtigste Vertreter der SED sprach Günter Schabowski auf der Demonstration, oft unterbrochen durch Protestrufe. Für ihn als Noch-Mitglied im Politbüro der SED, der staatstragenden Partei, stand der Versuch im Vordergrund, "vertanes Vertrauen zurückzugewinnen "16. Noch einmal wurde die Ostbindung der DDR in den Vordergrund gestellt und der Schulterschluss zwischen Krenz und Gorbatschow als Basis einer Erneuerung gesehen.

Die politische Tagesordnung dieser DDR-Wende-Akteure erscheint vom Ergebnis her betrachtet als weltfremd: Keiner forderte die einfache Öffnung der Mauer, niemand sah die Vereinigung der beiden deutschen Staaten geschweige denn den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik als Ziel an. Die Blicke richteten sich immer noch nach Moskau und nicht nach Bonn oder Washington. Die Bürgerinnen und Bürger, mit dem Fall der Mauer vor die freie Entscheidung gestellt, eine selbständige andere DDR zu gestalten oder aber individuell das Land in Richtung Bundesrepublik zu verlassen bzw. kollektiv der Bundesrepublik beizutreten, entschieden sich mehrheitlich für das letztere.

Der Anfang

Auch vom Anfang soll erzählt werden. Wieder sind viele Anfänge möglich, die des Erinnerns wert sind. Jede und jeder hat seinen Anfang. Der meine sind die Zivilisationsbrüche, die den kommunistischen Revolutionen vorher gingen. Es sind die Anfänge, die die getroffenen Entscheidungen und gewählten Wege erhellen. Man geht sie auch deshalb, weil immer zurückgeblickt wird auf das Licht des Anfangs, das die Folgeschritte zu rechtfertigen scheint.

Die kommunistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts sind Kinder von Kriegen - Weltkriegen und nationalen Befreiungskriegen. Anders als die bürgerlichen Revolutionen in England, Frankreich, Deutschland oder Italien sind sie in langandauernden Kriegen geboren worden, die große Teil der Bevölkerung der jeweiligen Länder erfasst hatten. Es war, wie Eric Hobsbawm schrieb, ein "Katastrophenzeitalter": "Für die alte Welt ging alles schief: Weltkriege mündeten in Revolutionen und Zusammenbrüchen der Kolonialreiche, die bürgerlich-liberalen und demokratischen Rechts- und Verfassungsstaaten wichen in Blitzesschnelle, innerhalb von zwanzig Jahren, politischen Regimes, die man sich vor 1914 kaum hätte vorstellen können, wie Hitlers Deutschland und Stalins UdSSR."17

Die kommunistischen Revolutionen widersprachen in jeder Hinsicht den an den bürgerlichen Revolutionen geschulten Konzepten von Marx und Engels, was auch die heftigen Auseinandersetzungen zwischen "Revisionisten" und "orthodoxen Marxisten" erklärt, die beide gezwungen waren, nach neuen Wegen zu suchen. Von einem historischen Block, der gesellschaftlich mehrheitsfähig, überlegene Antworten zugleich auf die konkreten Probleme der jeweiligen Gesellschaften und auf den westlichen Kapitalismus insgesamt verfügte und diese umzusetzen versuchte, waren die Länder mit erfolgreichen Revolutionen alle weit entfernt. Die wichtigste Aufgabe, vor die sich die Akteure dieser Länder gestellt sahen, war nicht die Schaffung einer Ordnung, die über den Kapitalismus hinausging, sondern die Beendigung jener Katastrophen, die ihre Länder heimsuchten, das Ende der Barbarei von Krieg, Verelendung, Massenmord und Kolonialismus.

Die kommunistischen Revolutionen waren Strategien sozialistischer Akteure in einer Extremsituation. Sie wurden formuliert unter den Bedingungen des alltäglichen Zivilisationsbruchs. Sie setzten sich auseinander mit einem gesellschaftlichen Zustand, in dem die alltäglichste Grundlage von Normalität, das "Du sollst nicht töten!" außer Kraft gesetzt worden war. Wie einer derjenigen, die am Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht beteiligt war, später vor Gericht aussagen sollte: "Die Ereignisse dieses Abends spielten sich wie im Rausch ab. Wir hatten vier Jahre einander getötet, es kam auf einen mehr nicht an."18

Ein solcher Zivilisationsbruch, der nicht durch die Sozialisten und Kommunisten verursacht wurde, sondern durch kapitalistische, imperialistische, kolonialistische, militaristische und rassistische Eliten, konnte in den Augen von Zeitgenossen die Ausrufung eines Ausnahmezustands legitimieren, um ihn zu stoppen. Es schien berechtigt, den Zivilisationsbruch dadurch zu beenden, dass man selbst zu Mitteln griff, die mit den Normen der Zivilisation brachen. Es waren deshalb keine Bewegungen der Transformation über die Errungenschaften bisheriger Zivilisation hinaus, sondern vor allem gegen die allumfassende Barbarei. Es waren Anti-Revolutionen - gegen den Krieg, gegen den Kapitalismus, gegen die alten Eliten. Sie maßen sich daran, inwieweit sie dieses Dagegen erfolgreich durchsetzten.

Wer wollte jenen demokratische Rechte einräumen, die vorher selbst an Krieg oder Faschismus beteiligt waren? Hatten nicht fast alle deutschen Parlamentarier, auch die der Sozialdemokratie, den Kriegskrediten zugestimmt? War nicht die Mehrheit der russischen Parteien in der gleichen Zeit auf Kriegskurs gegangen? War nicht der Nationalsozialismus in Deutschland im Rahmen der Weimarer Verfassung an die Macht gekommen? Wieso sollte ein Volk, das in seiner übergroßen Mehrheit Hitler bis zum Ende die Treue gehalten hatte, demokratische Rechte erhalten? Hatten die chinesischen Nationalisten nicht mehr die Kommunisten als die Japaner bekämpft und die weitgehende Besetzung Chinas durch die japanischen Aggressoren nicht verhindern können? Erster und Zweiter Weltkrieg, das Völkermorden und die Völkermorde waren so entsetzlich gewesen, dass der Einsatz fast jedes Mittels geboten schien, um ein "Nie wieder!" zu sichern.19

Und auch wenn es heute verdrängt wurde und kaum noch zum Alltagsbewusstsein gehört: Nach 1918 und 1945 war klar, dass die großen Katastrophen aus einem unheiligen Bündnis von Kapitalismus mit Imperialismus, Kolonialismus und Rassismus sowie Militarismus hervorgegangen waren. Niemand hätte damals ernsthaft gegen den Krieg oder Faschismus sprechen können, ohne sich auch gegen den Kapitalismus (oder zumindest dessen "Auswüchse") zuwenden. Wie Max Horkheimer schrieb: "Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll vom Faschismus schweigen." Mit Blick auf Deutschland konnte dies auch heißen, dass die heimlich-unheimliche Kontinuität zwischen den Eliten des Hitlerregimes und Westdeutschlands blind machen konnte für die institutionellen Brüche und die Diskontinuität. Die Restauration des Kapitalismus und seiner herrschenden Klassen war gerade für offene Gegner des Faschismus, die größte Opfer gebracht hatten, schwer zu unterscheiden von der Frage, inwieweit damit auch die Möglichkeit zu einer erneuten Wendung zum Faschismus oder Militarismus offen gehalten wurde. Darüber wird später noch zu sprechen sein.

Die Schrecken der Zivilisationsbrüche einerseits und die Größe der kommunistischen Vision einer Gesellschaft, in der die Wurzeln von Krieg, Ausbeutung, Rassismus durch Gemeineigentum und Volksherrschaft beseitigt sein würden, andererseits waren es zusammen, die die Bereitschaft erzeugten, mit Rückblick auf die Katastrophen und im Vorausblick auf eine Große Freiheit auf Zeit zu Ausnahmemitteln zu greifen oder sie zumindest hinzunehmen. Wie Christa Wolf, die 1945 gerade 16 Jahre alt war, später sagen sollte: Marxismus und SED waren für mich genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war. Und ich wollte genau das Gegenteil. Ich wollte auf keinen Fall mehr etwas, was dem Vergangenen ähnlich sehen könnte. Ich glaube, das ist in meiner Generation häufig so gewesen. Das war der Ursprung dieser Bindung; das war auch der Grund, warum wir so lange an ihr festhielten, nicht gegen innere Widerstände; ich sah auch später noch keine Alternative dazu."20

Die Entscheidungen für den sowjetischen Kommunismus und Staatssozialismus waren oft Lebensentscheidungen, die aus den Erfahrungen tiefgreifender traumatischer Zivilisationsbrüche getroffen wurden. Durch den Kampf gegen die Barbarei und die dabei erbrachten Opfer wurde die Wahl eines kommunistischen Lebenswegs oft unwiderruflich, entzog sich jeder Kritik. Es waren Entscheidungen größerer Teile einer ganzen Generation, nicht selten damit verbunden, verantwortlich zu werden und in Verantwortung genommen zu werden. Der Aufstieg des Staatssozialismus war der Aufstieg neuer Gruppen in der Gesellschaft. Zugleich war es ein Leben im Widerspruch zwischen kommunistisch-emanzipativer Vision und Wirklichkeit.

Die Ablösung der Gründerväter des Staatssozialismus bzw. jener, die ihn im Großen Vaterländischen Krieg in einem Meer von Blut gegen den Hitlerfaschismus verteidigt hatten, war eine Bedingung seiner humanen Auflösung. Erst als eine neue Generation an die Macht kam, war er nicht mehr "heilig", konnte der Versuch unternommen werden, ihn gemäß seinen Idealen umzugestalten. Neue Richtungen konnten eingeschlagen werden im Namen der alten Vision.

Das Werden und das Vergehen

Das Ende des Staatssozialismus offenbarte noch einmal die humanistische Vision, der Anfang war geprägt durch den Willen, der Barbarei um fast jeden Preis Einhalt zu gebieten. Es ist dieser doppelte Zweck, der sich durch die Geschichte des Staatssozialismus hindurchzieht. Aber der Blick auf die Zwecke genügt genauso wenig wie auf die abgestorbene Form einer Gesellschaft, die zwischen 1989 und 1991 ihr Ende fand. Wie Hegel 1807 in seiner Vorrede zur "Phänomenologie des Geistes" schrieb: "Â… der Zweck für sich ist das unlebendige Allgemeine, wie die Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt, und das nackte Resultat ist der Leichnam, der sie hinter sich gelassen."21 Weder Zweck noch Resultat bilden die Wahrheit einer historischen Formation, wie er betonte, sondern beide nur in Einheit mit ihrer wirklichen Geschichte. Wer nur auf die Absichten blickt, verkennt den objektiven Gehalt eines historischen Prozesses, wer nur auf das nackte Ergebnis im Moment des Absterbens starrt, kann die Gründe des Entstehens und der Dauer großer sozialer Erscheinungen nicht begreifen.

Die Zwecke geschichtlicher Bewegungen werden objektive Wirklichkeit, wenn sie sich mit durchsetzungsmächtigen Mitteln verbünden können. In diesen Mitteln wird der Zweck konkret. Historischmaterialistische Analyse muss deshalb vor allem auch Analyse jener Mittel sein, die soziale Akteure einsetzen, um ihre Zwecke zu realisieren, denn: Wer die Freiheit will und dazu Diktatur sät, wird Diktatur ernten. Wer Krieg gegen den Terror führt, wird einen umfassenden Weltkrieg neuer Art auslösen. Wer die Arbeitslosigkeit bekämpft, indem er Armut der Arbeitslosen schafft, wird vor allem die Armut (anderer) hervorgebracht haben. Die Mittel, so Hegel, sind (auch) "der ausgeführte Zweck"22. Es muss sich immer erst historisch erweisen, ob tatsächlich die Mittel gegeben sind und genutzt werden, damit der Gegensatz von Sollen und Sein, von reiner Subjektivität und äußerlicher Objektivität überwunden werden kann.

Historisch waren Sozialistinnen und Sozialisten immer wieder über die Frage der Mittel gespalten. Die Sozialreformisten verzichteten um der Wirkungsfähigkeit im Gegebenen völlig darauf, die Frage nach Mitteln zu stellen, die über kapitaldominierte Gesellschaften noch hinausweisen. Wirtschaftsdemokratie wurde auf Mitbestimmung unter den Vorgaben von Profitdominanz verkürzt, politische Demokratie auf die bessere Verwirklichung der Imperative des Standorts der Kapitalverwertung. Die sozialen Grundrechte blieben damit bestenfalls Zugeständnisse des Kapitals auf Zeit.

Die anderen, die sich als Kommunisten unter Führung der sowjetischen III. Internationale konstituierten, setzten auf die Gewalt einer zentralistisch organisierten Kraft und auf die kommunistische Diktatur als dem machtvollen Mittel, um den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gegenüber bestehen zu können und der großen Vision einer freien und solidarischen Gesellschaft mit dieser geballten Kraft zum Durchbruch verhelfen zu können.

Eine dritte Gruppe von Sozialistinnen und Sozialisten konnte sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts niemals gegen die beiden anderen genannten Gruppen durchsetzen. Es waren jene, die mit der Sozialisierung und Demokratisierung auf sozialistische Weise ernst machen wollten, die nach einer positiven Überwindung der kapitaldominierten bürgerlichen Gesellschaften strebten und deren Politik auf die schrittweise Aneignung ökonomischer und politischer Macht durch die arbeitenden Klassen der Gesellschaft zielte. Sie wollten die zivilisatorischen Errungenschaften in den Dienst von sozialer Gerechtigkeit und Volksherrschaft stellen und dabei radikalisieren. Wie Rosa Luxemburg in Auseinandersetzung gleichermaßen mit den Sozialreformisten wie den Bolschewiki schrieb: "Wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit - nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen."23

Die Unfähigkeit der Sozialreformisten, die Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verhindern und den Gewalten eines entfesselten Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus sowie Faschismus wirksam zu begegnen, machte den Raum frei für eine kommunistische Alternative zu dieser Barbarei. Diese versprach, die machtvollsten Mittel einzusetzen, um die Gewalten dieser kapitalistischen Moderne und ihrer totalitären Vernichtungsmaschinerien zu stoppen - den organisierten und zentralisierten Machtapparat einer Diktatur mit kommunistischen Zielen. Die Fähigkeit des sowjetischen Parteikommunismus, der humanistischen Idee des Sozialismus und dem Kampf gegen die Barbarei derartige Mittel zur Verfügung zu stellen, war Bedingung seines frühen Erfolges und späteren Niedergangs.

Der Aufbau einer kommunistischen Einparteiendiktatur, die sich auf eine Zentralverwaltungswirtschaft stützt und durch die Ideologie des Marxismus-Leninismus legitimiert wird, schien der endlich gefundene Ausweg aus der Kapitulation des Sozialreformismus und der Wirkungsschwäche des demokratischen Sozialismus. Die Konzentration der gesamten politischen, wirtschaftlichen und geistigen Macht in einer Hand und die Unterordnung der Gesellschaft unter die dort gesetzten Ziele des Kampfes gegen äußere Bedrohung und innere Zersplitterung hat sich gegen viele andere Alternativen durchgesetzt, weil sie zugleich für viele überzeugend und von durchschlagender Effizienz bei der Machteroberung war. Nur: Die Unfähigkeit, sich produktiv von diesen Formen kommunistischer Macht zu trennen, wurde zur Ursache des Untergangs des sowjetischen Staatsparteisozialismus.

Der Staatsparteisozialismus bot eine Lösung an, wie die Kräfte der Moderne sozial und zivil zu bändigen seien, wie Anarchie und Zerstörung verhindert, wie Sicherheit und Stabilität gewährleistet werden könnten: durch die radikale Unterordnung aller gesellschaftlichen Kräfte unter ein Zentrum. Daraus sollten schrittweise die Bedingungen für die spätere freie Entwicklung aller und jedes Einzelnen erwachsen. Eine möglichst schnelle gleiche Teilhabe an den Rechten wie Pflichten des kommunistischen Aufbaus wurde angestrebt. Beides macht deutlich, dass der Staatsparteisozialismus keinesfalls einfach aus der Geschichte des Sozialismus als bloße "Abweichung " gestrichen werden darf. Er hatte durchaus sozialistische Merkmale und die Erinnerung an ihn als an einen sozialistischen Versuch muss bleiben. In ihm konnten Elemente der sozialistischen Vision Wirklichkeit werden. Eine hohe soziale Gleichheit und die Verantwortung der Gesellschaft für die Möglichkeit, Grundbedürfnisse nach Arbeit, persönlicher Zukunftssicherheit, Bildung oder Gesundheit gehören dazu. Es war auch ein Stück Zukunft in diesem Staatssozialismus.

Die Lösung, die der Staatsparteisozialismus für die Probleme moderner Gesellschaften fand, war jedoch eine, die eine der wichtigsten Grundmerkmale moderner Gesellschaften vernichtete, die Fähigkeit zur ständigen innovativen Umwandlung aller ihrer Grundlagen, von Marx im "Manifest" bezogen auf den Kapitalismus beschrieben. Durch die absolute Zentralisation der Verfügungsmacht wurden alle Betriebe und Unternehmen der Fähigkeit zu innovativer Erneuerung beraubt. Indem nur eine zentralisierte politische Kraft zugelassen war und jede selbständige Positionsbildung unter dem Verdikt des Fraktionsverbots stand, gab es kaum noch Möglichkeiten der rechtzeitigen realistischen Kursveränderungen. In der dominanten Tendenz gilt: Die Verabsolutierung des zentralistischen Staatseigentums führte zur Enteignung, die monolithische Macht der Partei zur Entmachtung, das Monopol auf die wahre Lehre zur öffentlichen Bewusstlosigkeit. Wirken im Staatssozialismus war immer auch der Versuch, diesen Tendenzen zu begegnen und Gegenkräfte zu stärken.

Moderne Gesellschaften ziehen ihr Erneuerungspotenzial aus der Freiheit und Selbständigkeit vieler sozialer Kräfte in Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit.24 Autonomie wirtschaftlicher, politischer und geistiger Subjekte sowie ihre Kooperation und ihr Wettbewerb sind die Bedingungen von Innovation und Effizienz. In der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und militärischen Konkurrenz von Staaten und Systemen überleben nur die, die diese Bedingungen bewahren. Zugleich können diese Bedingungen auch Ursache einer entfesselten Kapitaldominanz, von Diktatur, Militarismus und Rassismus werden und in Katastrophen schlimmsten Ausmaßes münden.

Der Staatsparteisozialismus löste das genannte Grundproblem moderner Gesellschaften wie Alexander der Große den gordischen Knoten - er zerschlug es. Aus der Kontrolle über die Entwicklungspotenziale moderner Gesellschaften wurde ihre Beseitigung. Die Stagnation und das Zurückbleiben der Sowjetunion gegenüber den USA, Westeuropa oder Japan waren die notwendige Konsequenz. Es blieb bei einer nachholenden Entwicklung, die nach Phasen extensiven Ausbaus schließlich scheiterte, da keine neuen Ressourcen gewonnen werden konnten.

Der Staatsparteisozialismus war nicht fähig, die westlichen kapitaldominierten Gesellschaften zu überwinden, da er ihnen gegenüber kein höheres Maß von freier Entwicklung der Einzelnen und auch kein höheres Maß der Verwandlung dieser Entwicklung in die solidarische Entwicklung aller zu ermöglichen vermochte.25 Ohne die Erfüllung dieser beiden Bedingungen aber ist Sozialismus kein bleibender Sozialismus. Nur ein moderner, auf Freiheit gegründeter Sozialismus ist ein überlebensfähiger Sozialismus. Es mag schwer oder unmöglich sein, den Tiger der Moderne zu reiten, aber wer ihn einfach umbringt, bleibt selbst auf der Strecke. Das Problem muss neu gestellt werden.

Die Tragödie des Staatsparteisozialismus geht aber über seine Unfähigkeit, die Gewalten der Moderne in überlegener Weise zu bändigen, hinaus. Mit dem Ziel der Unterdrückung des Kapitalismus und der politischen Gegner setzten die sowjetischen Kommunisten und ihre Nachfolger Kräfte frei, die ihrer eigenen, geschweige der gesellschaftlichen Kontrolle entglitten. Die Zentralisation der Macht in einer Partei, einer Parteispitze und letztlich bei einer Person führte zur Verfolgung, Einkerkerung und Vernichtung von Angehörigen "feindlicher Klassen" und schließlich zur Verfolgung und Vernichtung der bolschewistischen Partei und ihrer Kader bis hin zur gesamten Armeeführung und Wirtschaftsleitung. Niemand hat so viele Kommunisten umgebracht wie die Führungen der kommunistischen Staatsparteien selbst.

Der Horror von Bürgerkrieg, Hunger, Terror und Zwangsarbeit erwuchs (auch) aus der Eigenlogik jener Mittel, zu denen die Kommunisten griffen, um gegen die Barbarei zu kämpfen und die sozialistische Vision zu verwirklichen. Militarismus und imperiales Expansionsstreben verankerten sich im System. In den schlimmsten Zeiten des Stalinismus hatte der Staatsparteisozialismus Formen angenommen, die selbst einen fundamentalen Zivilisationsbruch darstellten.

Die mühsame Eindämmung dieser Gewalten führte niemals zur Durchsetzung der wichtigsten politischen Freiheiten. Unkontrollierte Überwachung und willkürliche Repression konnten erst im Herbst 1989 überwunden werden. Die zeitweilige Verwandlung des Staatsparteisozialismus in eine totalitäre Diktatur war eine objektive Möglichkeit, die in seinen Strukturen angelegt war. Es waren dieselben Strukturen, die einen Widerstand dagegen so schwer machten. Sie waren es aber auch, die es erlaubten, dass ein einzelner Führer, Gorbatschow, von oben herab die Selbstdemontage des Staatssozialismus einleiten konnte. Noch einmal wirkte die Allmacht im Zentrum des Systems - bei seiner Auflösung.

Rückblickend erscheint die Bilanz des Staatsparteisozialismus auf deutschem Boden ambivalent. Er war nicht auf Dauer zu stellen und hat doch Leistungen erbracht, von denen die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wünschen, sie wären dauerhaft gewesen. Eine Befragung von Personen, die 1989 sechzehn Jahre alt waren und nun einunddreißig Jahre sind, nach den Vorzügen von DDR und BRD im Vergleich, zeigt auf, dass die Erfahrung von Freiheitsgewinn, gewachsenen Möglichkeiten der Selbstbestimmung sowie - mit zunehmenden Einschränkungen - der höheren Achtung der Menschenwürde der Verlust an sozialer Sicherheit und zwischenmenschlicher Solidarität sowie der deutlich gesunkenen Einlösung der sozialen Grundrechte gegenüberstehen. Das Recht auf Arbeit wird zunehmend zur Bedingung von Freiheit angesehen.

Das Vergehen des Staatssozialismus hat unvollständig gelöste Aufgaben hinterlassen. Wir stehen am Beginn eines neuen Katastrophenzeitalters und neuer Barbarei und totaler Herrschaft, wenn es nicht gelingt, durch eine grundlegende Transformation einen Richtungswechsel einzuleiten. Die Überwindung der Kapitaldominanz und imperialer Herrschaft werden zur Bedingung, erneute Zivilisationsbrüche zu verhindern. Neue Bewegungen haben sich der alten Aufgabe gestellt, durch eine Umgestaltung der Gesellschaft Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu verwirklichen 26 und für jede und jeden den sicheren Zugang zu den fundamentalen Freiheitsgütern moderner Gesellschaften zu gewährleisten 27.

Worin noch niemand war: Heimat

Das Ende und der Anfang, das Werden und das Vergehen, das richtige Leben oder das falsche - von vielem kann heute, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Staatssozialismus, mit einem ersten historischen Abstand erzählt werden. Was 1989 zur Fußnote der Geschichte abgewertet wurde, als Unglücksfall und Zufälligkeit, erweist sich mir von heute gesehen und mit Blick auf Tendenzen neuer Barbarei und totaler Herrschaft als bleibendes Lehrstück der Geschichte. Deutlicher liegen wieder die Gründe der Entscheidung für diesen Sozialismus vor Augen und wichtiger wird es, die Lehren seiner Verkehrung in Diktatur und Stagnation nicht zu vergessen.

Fünfzehn Jahre danach hat aber auch Neues angefangen - wieder. Erneut wird eine andere Welt eingefordert. Und die alte Vision, die Ernst Bloch in die folgenden Worte fasste, beginnt neue Kraft zu werden: "Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt, sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."28

Michael Brie - Jg. 1954, Prof. Dr., Philosoph, stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg- Stiftung; zuletzt in UTOPIE kreativ: Welcher Marxismus und welche Politik? Heft 165/166 (Juli/August 2004)

Gekürzte Fassung eines Vortrages, der am 6. November 2004 im Haus der Geschichte Leipzig gehalten wurde. Der vollständige ist publiziert in: Klaus Kinner (Hg): Unabgegoltenes im Kommunismus. Der Funken Hoffnung im Vergangenen, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 2004.

1 Walter Benjamin: [Aus dem Passagen-Werk. Erkenntnistheoretisches. Theorie des Fortschritts], in: Ders.: Allegorien kultureller Erfahrung. Ausgewählte Schriften 1920 - 1940, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1984, S. 159.

2 Ebenda, S. 164.

3 Ebenda, S. 155.

4 Ebenda, S. 157.

5 Da die gewählte "Erzählung " auch von meinem eigenen Standpunkt keinesfalls die einzig mögliche ist, sei auf andere Publikationen von mir zum Staatsparteisozialismus und zur nachfolgenden Entwicklung verwiesen.

6 Zum Protokoll dieser Perestrojka-Geschichte aus der Sicht eines westlichen pluralen Marxisten vgl.: Wolfgang Fritz Haug: Gorbatschow. Versuch über den Zusammenhang seiner Gedanken, Hamburg: Argument Verlag 1989; Ders.: Das Perestrojka-Journal. Versuch beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen, Hamburg: Argument Verlag 1990. Dort heißt es: "›Perestrojka‹ Â… steht für das Projekt der Demokratisierung jenes Sozialismus, der sich unter Stalin zum befehlsadministrativen Parteienstaat gebildet hatte." Ebenda, S. 5.

7 Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, S. 482.

8 Vgl. dazu ausführlicher: Michael Brie: Michail Gorbatschow - Held der Demontage, in: Michael Brie; Dieter Klein: Der Engel der Geschichte, Berlin: Dietz- Verlag 1993, S. 281-303.

9 Michail Gorbatschow: Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt, Berlin: Dietz Verlag 1987, S. 59. Wie einer der engsten Berater später schreiben sollte: "Die überwältigende Mehrheit der sowjetischen Reformer und Dissidenten begann mit dem Glauben an die uralten Versprechen des Kommunismus - Gerechtigkeit, Befreiung von jeder Art der Unterdrückung und die Würde des Individuums Â… Als sie feststellten, dass das totalitäre Regime statt dessen den Thron bestiegen hatte, lag ihr erstes Ziel darin, das System zu zwingen, seinen Idealen und Versprechungen gerecht zu werden." Georgi Arbatow: Das System. Ein Leben im Zentrum der Sowjetpolitik, Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1993, S. 340.

10 "›Historisch progressiv‹ ist eine Klassenformation dank ihrer geschichtlichen Produktivität‹, d.h. der von ihr getragenen Expansivität eines konkreten politischökonomischen Regimes, dank dessen sie ›die ganze Gesellschaft vorantreibt, indem sie nicht nur den existenziellen Erfordernissen nachkommt, sondern ihre Führungskräfte durch eine fortwährende Inbesitznahme neuer industriell-produktiver Tätigkeitsbereiche erweitert‹ und so die glaubhafte Erwartung individueller ›Lebensperspektiven‹ speist". Wolfgang Fritz Haug: Hegemonie, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Hamburg: Argument Verlag 2004, Bd. 6/I, S. 14 f.

11 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Leipzig: Philipp Reclam jun. 1968, S. 235.

12 Annegret Hahn u. a. (Hg.): 4. November ‘89. Der Protest. Die Menschen. Die Reden, Berlin 1990, S. 165.

13 Ebenda, S. 123.

14 Ebenda, S. 133.

15 Ebenda, S. 145.

16 Ebenda, S. 156.

17 Eric Hobsbawm: Das Jahrhundert der Arbeiterbewegung, in: UTOPIE kreativ 109/110 (November/ Dezember 1999) (http://www.rosalux.de/cms/index.php?id=3931).

18 Zitiert in: Elisabeth Hannover-Drück, Heinrich Hannover (Hrsg.): Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Dokumentation eines politischen Verbrechens, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1979, S. 139.

19 1954 schrieb Bertolt Brecht in seinen "Notizen über die Zeit": "Einige Freiheiten hätte ich heute freilich nicht, wenn es mich nach ihnen verlangte. Ich kann zum Beispiel nicht in der Art wählen, wie es in ›zivilisierten Ländern üblich ist‹. Gerne würde ich sagen, warum es mich nicht danach verlangt. Die Art der Wahlen, wie wir sie in Deutschland hatten, kann nicht ganz gut gewesen sein. Zweimal während meines Lebens wählten die Deutschen in jener zivilisierten Weise, von der die Rede ist, den Krieg. Zweimal bestätigten sie durch ›freie Wahlen‹ Regierungen, die die verbrecherischen Kriege anzettelten und sie außerdem noch verloren. Von eigentlicher Freiheit konnte wohl nicht gesprochen werden: Sie besaßen nicht die Möglichkeiten, nach Einsicht in die Notwendigkeiten zu handeln. Gelegentlich habe ich auch einige jener Freiheiten genossen, welche die bürgerliche Gesellschaft in der Hoffnung gewährt, daß sie nicht sehr stören. Es war mit etwa erlaubt zu sagen, daß der Krieg zur Lebensweise der kapitalistischen Länder gehört und mitunter ihre Sterbensweise wird. Wie man weiß, habe ich dadurch Kriege nicht aufgehalten." Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd. II, Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1968, S. 227 f.

20 Zit. in: Jörg Magenau: Christa Wolf. Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2002, S. 43.

21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Berlin: Akademie Verlag 1967, S. 11.

22 Ders.: Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, Berlin: Akademie-Verlag 1975, S. 481.

23 Rosa Luxemburg: Die russische Revolution, in: Werke, Bd. 4, S. 363.

24 Als moderne Gesellschaften seien alle jene Gesellschaften bezeichnet, die strukturell die Prinzipien ständiger Erneuerung durch Innovation verankert haben.

25 Vgl. dazu ausführlich: Michael Brie: Der sowjetische Staatsparteisozialismus im Lichte der Marxschen Theorie "progressiver Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation", in: Ernstgert Kalbe, Wolfgang Geier, Holger Politt (Hrsg.): Aufstieg und Fall des Staatssozialismus: Ursachen und Wirkungen. III. Rosa- Luxemburg-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig, 19. 9. - 20. 9. 2003. Leipziger Jahrbücher: Osteuropa in Tradition und Wandel, Bd. 6, Leipzig 2004, S. 197-233.

26 Vgl. Jai Sen, Anita Anand, Arturo Escobar, Peter Waterman: Eine andere Welt - Das Weltsozialforum, Berlin: Karl Dietz Verlag 2004.

27 Vgl.: Parteiprogramm der PDS (2003).

28 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1985. Werke, Bd. 5, S. 1628.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 172 (Februar 2005), S. 101-112

 

Inhalt des Heftes:

VorSatz; Essay MICHAEL BRIE: Der Funken der Hoffnung im Vergangenen. In Erinnerung an den Herbst 1989; 15 Jahre PDS WOLFRAM ADOLPHI: PDS. Partei des Demokratischen Sozialismus Skizzen zu ihrer Geschichte; ROLF REISSIG: Linkssozialistische Politik in Regierungsverantwortung; Gesellschaft - Analysen & Alternativen ULRICH BUSCH: Ostdeutschland: Wirtschaftspolitische Optionen für 2005 bis 2019; In Memoriam Gundermann 50; MAX KOCH: "Noch nie war so viel Ideologie wie heute". Zu Sebastian Herkommers Buch: Metamorphosen der Ideologie; J. K. 100 JÖRG ROESLER: Der Relativlohn. Jürgen Kuczynskis Instrument zur Einschätzung der Lage der arbeitenden Klassen; WOLFGANG GIRNUS: Jürgen Kuczynski. Kolloquium zum 100. Geburtstag; Konferenzen & Veranstaltungen JAN REHMANN, MICHAELWUTTKE: "Eine epochale Leistung im Marxismus". Workshop zur Marxismusrezeption des Historisch-Kritischen Wörterbuches; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Roland Haug: Putins Welt. Russland auf dem Weg nach Westen (SWR Schriftenreihe Grundlagen 5) (HORST SCHÜTZLER); Peter von Oertzen: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, hrsgg. von Michael Buckmiller, Gregor Kritidis und Michael Vester (MICHAEL ROHR); Résistances - mouvements sociaux - alternatives utopiques. Hommage à Jean Mortier (JÖRG ROESLER); Günter Wirth: Auf dem "Turnierplatz" der geistigen Auseinandersetzungen. Arthur Liebert und die Kantgesellschaft (1918-1948/49) (KAI AGTHE); Isabel Maria Loureiro: Rosa Luxemburg. Os dilemas da acão revolucionária (HARALD HILDEBRAND); Mario Keßler: Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen 1889-1943 (STEFAN BOLLINGER); Heidi Behrens, Andreas Wagner (Hrsg.): Deutsche Teilung, Repression und Alltagsleben. Erinnerungsorte der DDR-Geschichte. Konzepte und Angebote zum historisch-politischen Lernen (HELMUT MEIER); Summaries