Der ''Fall'' Terri Schiavo

Sterben heute: biopolitisch und medientauglich

Ob Mitteilungen über den Tod Prominenter, gewaltsame Tode in Krimis oder anonymes Sterben in Kriegsgebieten: Sterben ist ein Top-Thema der Medien.

Rezensionen über den oskargekürten Film "Das Meer in mir" füllen Zeitungsseiten und Kulturmagazine. Die Geschichte ist nicht frei erfunden. Sie folgt den Aufzeichnungen des 55-jährigen, querschnittgelähmten Ramón Sampedro, der sich vor laufender Kamera das Leben nimmt. Genau mit dieser Szene endet der Film. Und auch der juristische und familiäre Streit um die 41-jährige US-Amerikanerin Terri Schiavo hat für einen Monat die Weltöffentlichkeit beschäftigt. Knapp zwei Wochen nachdem juristisch legitimiert die Magensonde entfernt wurde, ist Terri Schiavo nach 15 Jahren im Wachkoma verhungert und verdurstet. Ihr öffentlich inszeniertes Leben und Sterben ist weniger eine private Tragödie, als vielmehr ein "Fall", der politische, juristische und bioethische Akteure mobilisiert. Seit Jahren ist die vorsorgliche Planung des eigenen Sterbens in Form von Patientenverfügungen auch hierzulande Thema in Talkshows und Internetportalen. Der Bundestag, eine Gutachter-Kommission zur "Autonomie am Lebensende" und die Justizministerin suchen nach einer kompromissfähigen juristischen Form, um die Einstellung der Basisversorgung wie Ernährung und Flüssigkeit und die Begrenzung der ärztlichen Behandlung bei Schwerstkranken, aber eben keineswegs Sterbenden, zu ermöglichen. In dieser Zeit ist Terri Schiavo "gestorben worden", exemplarisch und mediengestützt. Ihr Leben und Sterben ist eine Art Arena geworden, in der die "Politisierung des nackten Lebens" (Giorgio Agamben) ausgetragen wird.

Inszenierung einer Lebensrettung

Seit bereits sieben Jahren haben sich zahllose Richter in sechs verschiedenen Bezirken, das Parlament von Florida und der Gouverneur Jeb Bush mit der Frage beschäftigt, ob die künstliche Zufuhr von Wasser und Nahrung über eine Magensonde bei Terri Schiavo eingestellt werden darf. Der Ehemann, Michael Schiavo, behauptete in zahllosen Verhandlungen, dass seine Frau weder Gefühle habe, noch willensfähig sei, aber in jungen Jahren mehrfach bekundet habe, in einem solchen Zustand nicht am Leben erhalten zu werden wollen. Die involvierten Gerichte haben diese Auffassung regelmäßig bestätigt, unterstützt von medizinischen Gutachtern. Die Eltern der Patientin waren jedoch gegenteiliger Meinung. Sie haben mehrfach vergeblich versucht, die Vormundschaft des Schwiegersohns gütlich und gerichtlich zu beenden. Ebenso vergeblich haben sie versucht, über Berufungsinstanzen und den Obersten Gerichtshof die Versorgung ihrer Tochter sicherzustellen. Die mediale Dramaturgie spitzte sich zu, als der Richter George Greer Mitte März anordnete, die Magensonde entfernen zu lassen. Ein Eilantrag beim Berufungsgericht Atlanta wurde abgelehnt. George Bush brachte schließlich ein Eilgesetz "für das Leben" ein, das vom Kongress verabschiedet und vom eigens angereisten Präsidenten unterzeichnet wurde. Das Gesetz ebnete den Eltern einen neuen Weg zu einem Bundesgericht, welches aber die Wiederaufnahme der Ernährung endgültig ablehnte. Diese Inszenierung einer eiligen Lebensrettung war jedoch weniger für die verhungernde Terri Schiavo gemacht. Sie folgte anderen politischen Kalkülen. Die "Kultur des Lebens", die allen voran Präsident George Bush, Floridas Gouverneur Jeb Bush, das führende republikanische Kongressmitglied Tom deLay und sein Kollege Bill First im Senat beschwören, gilt der "christlichen Rechten", die in Sachen Ethik und Moral die Diskurshoheit erringen will. Der "Kulturkampf" zwischen konservativer und liberaler Politik wurde dieses Mal nicht am Beispiel der Abtreibungspraxis, der Homoehe oder der Evolutiontheorie im Schulunterricht ausgetragen, sondern am Beispiel Terri Schiavo. CNN, Fox News und andere Sender potenzierten den "Fall" zum nationalen und internationalen Drama. Zeitungen wie die New York Times oder die Washington Post und Dutzend andere kritisierten die Kongressinitiative als Angriff auf die Gewaltenteilung und das "Selbstbestimmungsrecht" des Individuums. Tatsächlich wurde mit dem Eilgesetz mehr intendiert als eine weitere symbolische Schlacht um christliche Werte. Die Zuständigkeit der Justiz und der Bundesstaaten sollte in die Knie gezwungen werden. Senat und Kongress sind republikanisch dominiert, die Bundesstaaten und die Justiz jedoch nicht. Für weitere innenpolitische Projekte, beispielsweise die fortlaufende Privatisierung der rudimentären sozialen Sicherung, käme Bush und seinen Mannen geschwächte Bundesstaaten und ihre Gerichtsbarkeit zu pass. Davon abgesehen: Schon heute haben 46 Millionen US-Bürger keine Krankenversicherungen. Sie brauchen sich um die Frage von Behandlungen heilbarer Krankheiten und aufwendiger Pflege ohnehin keine Gedanken machen. Die "Kultur des Lebens" fegt neoliberal über sie hinweg

Fragwürdige Polarisierungen

Die Eltern Mary und Bob Schindler wollten, das ihre Tochter weiter lebt und sie begründeten dies mit ihrem katholischen Glauben und einer entsprechenden Erziehung ihrer Tochter. Was Terri Schiavo in ihrer Lebenssituation hätte wollen können, erklärt sich dadurch nicht. Aber eine Koalition aus religiösen Führungskräften, Lebensschutzorganisationen und republikanischen Politikern heftete sich an die hoffende und kämpfende Familie. Ein Video der Wachkoma-Patientin im Fernsehen und in eigenen Internetportalen wurde endlos reproduziert. Die Botschaft: Die Verteidigung einer hilflosen Wachkoma-Patientin ist republikanisch und christlich. Als Gegenspieler trat der Ehemann Michael Schiavo auf, der seit sieben Jahren dafür plädiert hatte, seiner Frau ein "Recht zu sterben" zu gewähren. Er wird als säkular orientiert vorgestellt. Regelmäßig in Auftrag gegebene Umfragen von Sendeanstalten haben Mehrheiten für sein Anliegen geschaffen, das allerdings als höchstpersönlicher Todeswunsch der Ehefrau präsentiert wurde. Liberale Richter, erklärte Gegner der republikanischen Politik à la Bush und sozialistische Aktivisten verstärkten diese Sicht. Besser könnte die Inszenierung nicht mal in einer Doku-Soap oder einem Theaterstück sein. Jede Verunreinigung dieser für das Führungspersonal der antagonistischen Fraktionen vorteilhaften Polarität wurde vermieden. Tatsächlich aber unterstützten auch viele behindertenpolitischen Gruppen, dass Terri Schiavo weiter ernährt wird. Auch der eher links angesiedelte Bürgerrechtler Jesse Jackson setzte sich in diesem Sinne für die Wachkoma-Patientin ein. Und viele, die ebenso entscheiden würden, wie ihr Ehemann, sind Kirchgänger und Republikaner. Auch der vermeintlich objektiv "aussichtslose" Zustand von Terri Schiavo war tatsächlich alles andere als eindeutig. Zweifel diesbezüglich hatten nicht nur die hoffenden Eltern. Auch neurologische Fachgutachten bestätigten, dass Frau Schiavo als "minimal bewusst" und deshalb als "schwerstbehindert" einzuschätzen sei. Gerichtlich wurde jedoch nicht zugelassen, dass diese Diagnose mit neuen bildgebenden Verfahren überprüft wurde. Und auch die Gutachter, die für das Bundesgericht in Florida diagnostizierten, waren sich nicht einig. Von fünf bestellten Experten votierten nur drei dafür, dass sich die Patientin im dauerhaften, irreversiblen Wachkoma befinde. Das Gericht hielt sich schlicht an die Expertenmehrheit. Zusätzlich nutzten Bioethiker die Gunst der Stunde, um ihre Kriterien des "Personenseins" zu verbreiten. Diese sollen, sagte Bill Allen von der Universität in Florida im Fernsehen, mindestens an "Bewusstsein" gekoppelt sein. Der exponierte britische Bioethiker John Harris meint sowieso seit langem, dass solche "Nicht-Personen" wie Terri Schiavo getötet werden können, "weil der Tod sie nicht um etwas berauben kann, was sie wertschätzen. Wenn sie nicht wünschen können zu leben, dann kann dieser Wunsch auch nicht frustriert werden durch ihre Tötung." Von da aus ist es nicht weit, öffentlich über die Organgabe von WachkomapatientInnen zu reden. Erst neulich befürwortete Bill Allen diesen Vorschlag, der schon 1997 von international namhaften Bioethikern in der Zeitschrift Lancet diskutiert wurde. Was Terri Schiavo wirklich gewollt haben könnte, wird unbeantwortbar bleiben; ebenso, ob sie in ihrem Leben als Wachkomapatientin etwas empfunden hat. Auch über die Gründe für die Zerwürfnisse in ihrem sozialen Umfeld kann nur spekuliert werden. Unbeantwortbare Fragen haben aber weder in den Medien noch in der Politik einen Platz. Sterbenmachen erfordert Vereindeutigung. Nur dann haben die Expertenkollektive und politischen Akteure ein freies Feld, um die eigenen Interessen und Ideologien gesellschaftlich zu stabilisieren.

Mit Patientenverfügung wäre das nicht passiert?

Die Frage, ob die Existenz von Wachkoma-PatientInnen gesellschaftlich überhaupt disponibel sein darf, spielt - anders als die so genannte "Patientenverfügung" - in der bundesdeutschen Debatte keine zentrale Rolle. Aber: Diese Menschen sterben gerade nicht in absehbarer Zeit. Wenn sie nicht mehr ernährt werden, ist das kein passives Sterbenlassen sondern ein aktives Be-Handeln, das zum Tode führt. Terri Schiavo hatte keine Patientenverfügung und wurde deshalb als hilflose Patientin gezeigt, die den jeweiligen Zuschreibungen schutzlos ausgeliefert war. Damit wird nahegelegt: Um den weithin demonstrierten Interessen oder Zuschreibungen von Angehörigen zu entgehen, wenn man nicht mehr selbst für sich sprechen kann, ist die Patientenverfügung als eine Art Konservierung der souveränen Willensperson der einzige Ausweg. So bringt es die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben den Bild-LeserInnen bei: "Terri Schiavo: Dramatisches Gezerre um eine Wachkoma-Patientin. Was hätte sie selbst gewollt? Man weiß es nicht. Terri hatte keine Patientenverfügung. Warten Sie nicht, bis es zu spät ist. Sorgen Sie rechtzeitig vor. Wir sagen Ihnen wie." Aber ist in gesunden - oder zumindest entscheidungsfähigen - Tagen überhaupt vorstellbar, was in einer möglichen Situation des Wachkomas empfunden und gewollt wird? Eignet sich das nicht verallgemeinerbare Los von Terri Schiavo als Orientierung, um den Umgang mit bewusstseingetrübten und schwerstpflegebedürftigen Menschen verbindlich zu regeln? Wann beginnt die Zeit, in der Therapien für behandelbare Begleiterkrankungen und künstliche Ernährung nicht mehr selbstverständlich sind? Allein beim Wachkoma? Wenn dessen Dauerhaftigkeit zu 90% oder zu 70% sicher ist? Oder bereits bei Prognosestellung? Wenn der Familienetat erschöpft ist oder wenn die neuen Fallpauschalen ausgereizt sind und der Krankenhausetat seinen Tribut fordert? Dass auch schriftliche Willensbekundungen interpretationsoffen sind für Mutmaßungen und Interessen vieler, ist kein Thema - ebenso wenig wie die sozialen Folgen von Patientenverfügungen, die "Lebenswert-Urteile" über ganze Patientengruppen - im Wachkoma, mit Demenz oder nach Schlaganfall - provozieren und zur Selbstentwertung anleiten. Das zum Mythos geronnene Sterben von Terri Schiavo vereindeutigt das intersubjektive Todesverständnis in Richtung Verfahrenssicherheit für die beteiligten Institutionen und Akteure sowie in Richtung souveräner Willensentscheidung für die betroffenen Individuen. Dieses Todesverständnis ist angefüllt mit sozialen Disziplinierungsmaßnahmen, die vor allem eine sozialverträgliche Bekümmernis um die letzten Dinge meinen, jedoch in Gestalt des Todes als letzter Waffe individueller Autonomie angeboten werden, als "Generator von Individualität". Der "Fall Schiavo" ist kein Novum. Rechtsanwalt Wolfgang Putz will 30-40 PatientInnen im Wachkoma zum Hungertod verholfen haben. Seit einigen Jahren hat die Bundesärztekammer mit ihren Grundsätzen zur Sterbebegleitung diesem Vorgehen eine berufsethische Fassung verliehen. Die politischen Initiativen von Justizministerium und Bundestag favorisieren diese Praxis auch für Kranke, deren Leiden nicht unumkehrbar ist. Was zählt, ist der "Patientenwille". Zeitgleich zeigt der erwähnte Film "Das Meer in mir", was Menschen mit schwersten Behinderungen wollen: legal und assistiert sterben. Das Publikum findet den Todeswunsch verständlich und möchte "auch nicht so leben". So verdorrt die Phantasie, wie man auch mit schweren Einschränkungen leben könnte. Ein solcher Wunsch wird zunehmend begründungspflichtig. Das Drama um Terri Schiavo wird schließlich auch verhandelbar machen, ob eine tödliche Injektion nicht akzeptabler und "humaner" ist, als innerhalb von zwei Wochen auf vermutetes Verlangen zu verhungern und zu verdursten. Erika Feyerabend ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 494/15.4.2005