Kleine Fluchten

Mit dem MP3-Player unterwegs

Knopf im Ohr: Audio-books statt Bücher?

Eine andere, hinsichtlich des "audible.de"-Angebots aktualisierte Version des Beitrags erschien als Medienkolumne in Neues Deutschland vom 25. Juli 2005.

Wir könnten uns kaum "vorstellen, daß eine Menschheit kommt ohne Buch und Buchdruck. Und doch ist es ganz sicher: In absehbarer Zeit wird das Buch altmodisch werden, so etwa wie heute das Pferdefuhrwerk und morgen die Eisenbahn altmodisch ist." So im "Prager Tagblatt" vom 1. Oktober 1932 Theodor Lessing. Seine Prophezeiung vor über siebzig Jahren: "Man wird redende und tönende Bücher, Lesefilme erfinden."

Bücherlesen war auch in Europa keine Selbstverständlichkeit. Italienliebhabern wird nicht nur von der Toskana-Linken augenzwinkernd gesagt, Mailand sei auf der Fahrt gen Süden die letzte Stadt, in der man noch Bücher lese.

"Das Lesen von Büchern war am Ende des 17. Jahrhunderts noch kein sehr verbreitetes Vergnügen", resumierte Arnold Hauser in seiner "Sozialgeschichte der Kunst und Literatur", und markierte die Wende: "der Besitz von Büchern ist ... in den Kreisen, die Jane Austen beschreibt, ebenso selbstverständlich, wie er in der Welt Fieldings überraschend gewesen wäre".

Ich entsinne mich noch des Kommentators im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeine", der einst - es muß Anfang der achtziger Jahre gewesen sein - sich darüber echauffierte, daß er im Frankfurter Grüneburgpark immer mehr Menschen sichtete, die mit Kopfhörern ihre Jogging-Runden zogen.

Jogging sagte man bereits für das, was im Herkunftsland ursprünglich anders hieß, nämlich so wie die Sportart, die sich seinerzeit insbesondere bei Frauen hierzulande zunehmender Beliebtheit erfreute und einen neuen Sportmodetrend mit "leg-warmers" und anderen überflüssigen Utensilien bescherte: Aerobics. - "Aerobics", so hieß der Originaltitel des 1968 in New York erschienenen Buchs, daß der US-Luftwaffenarzt Kenneth Cooper geschrieben hatte, um Übergewichtige wieder fit zu machen für die Einsätze des Weltgendarms. In Deutschland erschien das Werk seit August 1970 als Fischer-Taschenbuch in vielen Auflagen unter dem Titel "Lauftraining" und war die Geburtsurkunde der Jogging-Bewegung. Daß der Major der US Air Force aus dem Krankenhaus des Lackland Air Force Fliegerhorstes in Texas zu Zeiten, da noch der Vietnamkrieg tobte, am Anfang des Buches - mit Nennung des Dienstrangs - reihenweise US-Militärs Dank sagte, beeinträchtigte nicht den Erfolg des Buchs, dem - schließlich war nach Â’68 die Ära der Frauenemanzipation unaufhaltsam - der Autor bald ein zusammen mit seiner Frau Mildred Cooper verfaßtes Buch "Bewegungstraining für die Frau" nachschob.

Die Jogger hatten den Walkman für sich entdeckt, noch bevor Sony mit der gelben, wasser- und erschütterungsgeschützten "Sports"-Geräteversion die Läufer beglückte. Der FAZ-Journalist sah des bürgerliche Subjekt völlig in Vereinzelung und Abgeschlossenheit gegenüber Mitmenschen verschwinden. Und gewiß hatte es etwas Provozierendes, die ersten Walkman-Hörer in der U-Bahn neben sich sitzen zu sehen, die nun schon äußerlich das bisher nicht technisch begründete Tabu der Unansprechbarkeit zu signalisieren schienen. Der "Knopf im Ohr" war bis dahin Synonym für die legendären Steiff-Spielzeugfiguren gewesen. Allmählich erfuhr man, daß für das mitreisende Gegenüber weniger der Rückzug auf sich selbst, mehr die hemmungslose akustische Eingemeindung der Umwelt das Problem war. Über nicht schallisolierte Kopfhörer wurde man ungefragt, oft widerwillig Zeuge der musikalischen Vorlieben des Walkman-Nachbars. Verglichen mit den Blockbuster-Radios, die Zeitgenossen mit voll aufgedrehter Lautstärke mit sich schleppten, oder den Zigarettenschachtel-ähnlichen Transistorradios der sechziger Jahre waren die Walkmans allerdings Werkzeuge der Diskretion.

Nach Jahrzehnten des öffentlichen Hörens mit Knopf im Ohr, vom Walkman über den Discman (mein in den USA Anfang der neunziger Jahre erworbener Sony D-33 ist inzwischen an die Stereoanlage angeschlossen, denn er "schafft" noch die seltsamsten selbstgebrannten CD, denen sich neuere High-Tec-Sensibelchen verweigern) sind wir inzwischen bei den MP3-Playern angelangt. Die Phase der "Hörbuch"-CD habe ich übersprungen, reicht mir doch meine üppige Bibliothek richtiger Bücher, für deren Weiterwachsen ich inzwischen gelernt habe, per Amazon oder Ebay (für meine exotischen, im Amazon-Mainstream nicht aufgelisteten Titel) Platz zu schaffen.

Nun hat mich, kurz vor der Leipziger Buchmesse, der ich - als Nutzer der traditionellen, "richtigen" Bücher - meine Aufmerksamkeit widmete, ein Anbieter von "Hörbüchern" ködern können. Noch dazu unter dem sinnlosen Slogan "clever lesen". Denn Hören wird mir auch durch ach so kreative Werbeleute nicht zum "Lesen". Aber es war nicht nur mein Wunsch, wieder - Joschka Fischers Re-Adipositasierung vor Augen - mehr für die Fitneß zu tun und dabei die Zeit des langen Laufs zu mir selbst zu nutzen, es war auch nicht allein die verführerische Stimme der Frau Doktor aus München, es war meine Neugier, reinzuschnuppern in einen neuen Sektor, der auch in den Rezensionen der FAZ inzwischen unübersehbar ist. So bekam ich wenige Tage vor Beginn der Frühjahrs-Buchmesse von "audible.de" einen MP3-Player zur Probe geschickt (ich hatte mich gegen den Apple-"iPod" und den iriver-"H10", in dessen Fünf-Gigabyte-Speicher etwa 750 Stunden Gesprochenes Platz fände, für den Ein-Gigabyte-"MuVo" von Creative Labs entschieden), der mit einem Audiodateienpotpourri versehen war.

Die neusten Ausgaben von "Zeit", "Handelsblatt" und "Technology Review" oder von Hakan Nessers "Der Tote vom Strand", die auf das Gerät aufgespielt waren, erregten zwar nicht mein Interesse, erinnerten mich aber an die Zeit, als ich als Jurist für einem Behindertenverband arbeitete und sah, wie aufwendig es für die Minderheit Sehbehinderter damals war, an Informationen zu kommen, die inzwischen für die große Masse der Lesefaulen produziert werden.

Hier sei angemerkt, daß das Thema "Hören und Behinderung" durchaus virulent bleibt. "Ein Hörbuch ist nichts für Analphabeten, die zu dumm sind, selber zu lesen", meinte Elke Heidenreich in Ihrer ZDF-Sendung "Lesen" und hatte sofort die Sprecherin des Bundesbildungsministeriums, Sabine Braun im Genick: "Analphabeten als dumm zu etikettieren ist das Dümmste, was man machen kann.". Das ist politisch-medizinisch-pädagogisch inkorrekt, wenn auch die Hörbuchverlage versuchen, in ihrem Marketing das peinliche Blindenhörbücherei-Image zu vermeiden. Die Blindenhörbüchereien sind mit den Audiobooks nicht überflüssig geworden. Denn diese sind nicht nur teuer für Vielkonsumierende, sie sind auch textlich abgespeckt. In den Blindenhörbüchereien werden die Originalbücher textgenau aufgelesen. Die Verlage gestatten dies allerdings nur mit der Auflage, daß diese Hörbücher ausschließlich der kostenlosen Ausleihe an Blinde und Sehbehinderte dienen; sehr heikel in einer Zeit, in der das Audiobook-Format boomt.

Bei "audible.de" steht täglich eine zwanzigminütige Ausgabe des "Handelsblatt", wöchentlich "Die Zeit" in einer Länge zwischen sechzig und neunzig Minuten sowie monatlich eine rund anderthalb Stunden dauernde Ausgabe der "Technology Review" zum Download bereit.

Der anläßlich der Buchmesse von "audible.de" angebotene, knapp sechzigminütige "Audiowalk" durch Leipzig mit MP3-Player im Ohr, erschien schon interessanter, nicht nur weil darin Nikolaikirche-Pfarrer Christian Führer die Wende von 1989 anschaulich schilderte.

Auch den Beitrag über Zeitmanagement zu hören, während man gerade aufräumte, war attraktiv. Und wenn zwischendurch ein Telefonat oder die Postbotin kam, zeigte sich einer der Vorzüge des audible-Formats (keine mp3-Dateien!): man kann durch die Kapitel "blättern" und Lesezeichen setzen, d.h. in der markierten Audiodatei kann man später an derselben Stelle weiterhören, an der man aufgehört hat, auch wenn man zwischenzeitlich andere Dateien gehört hat. Das leistet mehr als die übliche Pausentaste. Auch sollen Sprachdateien so günstiger zu komprimieren sein als per mp3, und last but not least geht es selbstverständlich bei dieser Formatwahl auch um das Digital Rights Management.

Eine andere Spezifik von "audible": Nicht CD werden verkauft, sondern Hördateien per Internetportal zum Download auf den MP3-Player angeboten. Man kann also auch drei Uhr nachts sofort irgendeine obskure Hörgier befriedigen, sofern Internetzugang verfügbar. Und dies ist überdies rund dreißig Prozent billiger als der Kauf einer Hörbuch-CD. Schließt man einen Abonnementsvertrag, wird dieses Hören noch günstiger.

Gegründet wurde "Audible" 1995 von Donald Katz, dem Verfasser der Nike-Erfolgsstory "Just Do It". "Audible" war auch Erfinder des ersten MP3-Players, der heute im Smithsonian-Museum in Washington D.C. steht. Für den deutschen "Audible"-Ableger verantwortlich ist Arik Meyer, der es einst schaffte, für die Bertelsmänner den chinesischen Markt aufzurollen und in den Besitz einer Lizenz für den Aufbau eines nationalen Buchhandels dort zu kommen. Die deutsche "Audible GmbH" wurde Ende August letzten Jahres als Joint-Venture zwischen der USA-Mutter "Audible Inc.", Holtzbrinck sowie Random House (Bertelsmann) gegründet und ist seit dem letzten Nikolaustag mit dem Internet-Portal "audible.de" online.

Es sind Mainstream-Medien, die "audible.de" vertreibt, von Russendisko-Kaminsers "Schönhauser Allee" bis zu Catherine Millets "Das sexuelle Leben der Catherine M.". Wer zu den englischsprachigen Titeln zu wechseln vermag, kann sich auch William Clintons "My Life", gelesen von "Bill" Clinton selbst, anhören (in einer Datei statt sechs CD).

Das Download-Portal mutet einem in der Rubrik "Bildung und Wissen" all das zu, das man sich in der Rubrik "Ratgeber" beerdigt hoffte: "Weinsensorik" von Rolf Gast, "Motivation" von Belkis Stocker und natürlich - schließlich ist "audible.de" ein Bertelsmann-Unternehmen - "Menschlichkeit gewinnt" von Reinhard Mohn. Unter "Ratgeber" wird Derartiges dann um "Mensch bleiben" von Dietrich Grönemeyer, "Wenn Du es eilig hast, gehe langsam" von Lothar J. Seiwert oder eins der vielen Knigge-Benimmbücher ergänzt. So findet sich diejenigen, die meinten, mit MP3-Player vor den Zeitgeist-Oberflächlichkeiten fliehen zu können, in eben diesen öden, seichten Gefilden wieder. In anderen Rubriken findet man immerhin "Kassandra" von Christa Wolf , gelesen von Corinna Harfouch, Stefan Heym liest seine Geschichte vom "Ahasver, unter dem Titel "Verehrt und angespien" präsentiert die rote Sängerlegende Ernst Busch Balladen von Villon, ergänzt durch Texte von Jakob Michael Reinhold Lenz und Johann Wolfgang Goethe, und ein anderer DDR-Schatz birgt unter dem schlichten Titel "Tondokumente" das künstlerische Vermächtnis von Walter Felsenstein.

In der Rubrik "Kinder- und Jugendliteratur" harren von "Alice im Wunderland" über "Pinocchio" bis zu "Tom Sawyers" einige Klassiker des Herunterladens, und sogar "Pittiplatsch", der anno 1962 zu "Meister Nadelöhr" kam und sich auf Grund seiner Streiche zur beliebtesten Figur des DDR-Kinderfernsehens entwickelte, gewährt "audible.de" ein Come Back. Aber auch das Kinderangebot zeigt (noch?) riesige Lücken: daß Bibi Blocksberg und ihre Tina fehlen, ist zu verschmerzen, aber auch auf der Suche nach Werken von Astrid Lindgren oder Heinrich Hannover wird man hier nicht fündig.

Wohl dem, der Englisch versteht! Klickt man sich zu diesem "Audible"-Angebot durch, so wartet eine üppige Titelauflistung: Ungekürzt bekommt man sowohl von Sun Tzu die "Art of War" als auch AristotelesÂ’ Nikomachische Ethik. Die maßgeblichen "Neocons", die neokonservativen Vordenker der Bush-Administration kann man im Original rezipieren. Aber auch die gesamte Palette der Bush-Kriege-Kritiker ist präsent: "Chain of Command" von Seymour M. Hersh mit den zuerst im Magazin "The New Yorker" erschienen Enthüllungsstories, "Plan of Attack" von Bob Woodward
zum Irakkriegsvorhaben und "Against All Enemies" von Richard A. Clarke, der als Insider eine Zeitlang verfolgte, was hinter geschlossenen Türen im Weißen Haus vor sich ging. Sogar "Iraq and U.S. Policy", die Kritik des am MIT lehrenden Professor Noam Chomsky, "dem" USA-Dissidenten, enthält das Audiodateien-Programm. Merkwürdigerweise bekommt man über das englischsprachige "Audible"-Angebot sogar deutsche Klassiker wie das 12 Stunden lang von Preußen in die Welt ausstrahlende Buch "On War"
des Carl von Clausewitz, oder ein Werk von Franz Werfel. Da vermißt man noch Vieles im deutschen Audible-Angebot. Vielleicht auch, weil die großen Verlage, die ihre Literatur auch durch eigene CDs vermarkten, kein Interesse daran haben, sich durch Download-Audiobooks selbst Konkurrenz zu machen.

Aber wofür gibtÂ’s das Internet? Man kann über Tauschbörsen sich die seltsamsten Audiodateien fischen, selbstverständlich meine ich nur dasganzstrenglegale File-Sharing, und die Gegenöffentlichkeit bietet etwa von dem USA-Dissidenten Professor Noam Chomsky, völlig legal und gratis, -zig Vorträge zum Herunterladen an. Die Aktion "Laut gegen Nazis" nutzt ebenfalls mit Künstlern und anderen Prominenten das Medium des Hörbuches.

Im MP3-Player kondensieren sich zwei Trends der letzten Jahre: Beobachtbar ist einerseits eine Renaissance des Hörens durch eine Übersättigung mit ewiggleichen Bildern in all den vielen Fernsehkanälen; sodann gibt es eine Wendung zum Hören anstelle des Lesens, für das man sich keine Zeit mehr nehmen mag oder das als zu anstrengend empfunden wird. Radio statt Fernsehen, "Hörbuch" statt "richtigem" Buch.

Es war aufsehenerregend als in den neunziger Jahren die FAZ wieder anfing, täglich das Hörfunkprogramm zu veröffentlichen. Schon 1985 hatte in der alten Bundesrepublik im Nutzerverhalten das Radio erstmalig seit Jahrzehnten dem Fernsehen den Rang abgelaufen. Auch das Auftauchen einer neuen Zeitschrift für das Schallplattenhören Anfang dieses Jahres indiziert, daß es einen Bedarf am Hören gibt, der sich nicht gleichschalten läßt, sondern sogar differenziert. Obwohl diese Gleichschaltung mit den Rundfunkwellen, die quotensüchtige Programm-Macher zwecks "Durchhörbarkeit" mit den überall gleichen "Musikteppichen" ausstatten, versucht wird, um das gesprochene Wort unter ihnen zu ersticken oder wenigstens auf Comic-Strip-Niveau zu reduzieren. In den Anfängen war der Rundfunk alles andere als ein Instrument musikalischer Dauerberieselung, denn die Programmanteile sahen 1923 wie folgt aus: 56% Musik, 24% Vortrag, 14% Bericht, 5% Literatur,1% Morgenfeiern. Seit 1924 werden Hörspiele, "akustische Filme" (Rudolf Arnheim) gesendet, von Gottfried Benn, Bert Brecht, Arnold Bronnen oder Alfred Döblin. Noch 1954 geben 50% aller Rundfunkhörer an, sich für Hörspiele zu interessieren, 14%, hören sie sogar regelmäßig.

Kein Ver-Hören aus Ver-Sehen? Die Folterpraktiken der USA und Großbritanniens im Irak erfuhr die Öffentlichkeit über Bilder. Wobei es etwas typisch Britisch-Altmodisches gab: Während die USA-Krieger ihre Digitalfotos am eigenen PC abspeicherten und in die Welt mailten, flog der britische Folterskandal dadurch auf, daß einer den Film mit seinen Iraksouvenirs wie eh und je ins Geschäft zum Entwickeln gab. Aber auch im Internet, in dem neben Folterfotos die Gegenseite Enthauptungsvideos ("beheading of...") kursierten ließ, sind noch keine Audio-Dateien über Folterungen aufgetaucht. Vielleicht wird sich das auch noch ändern.

Bertolt Brecht flehte in einem Gedicht: "Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug / ... / Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein!" Ein Radio meinte er - heute sorgt man sich so um den MP3-Player, und inzwischen gibt es längst einen Schulterschluß zwischen Rundfunkanstalten und privaten Produzenten, bei denen Hörfunkereignisse nochmals auf CD konsumierbar werden. Ebenso möchte ich bei meinen kleinen Fluchten inzwischen dieses weiße Kästchen nimmer missen. Mit meinem digitalen Bücherregal im Westentaschenformat (in Ermangelung von Westen sind mir der mit dem "MuVo" gelieferte Klettverschluß-Armgurt und die 180-Grad-Display-Umschaltung wichtiger, die erlauben den Winzling auch beim Joggen oder einer Radtour lesen und bedienen zu können).

Offenbar gibt es ein weitverbreitetes Bedürfnis, Literatur nicht mehr (nur) mit dem Auge, sondern (auch) über das Ohr aufzunehmen. Seit Mitte der neunziger Jahre wächst der Hörbuchmarkt um rund zwölf Prozent jährlich. Und während der Buchmarkt stagnierte, stieg die Zahl verkaufter Hörbücher: Im ersten Quartal 2004 erreichten Hörbücher einen Zuwachs von 20,4 Prozent. Besonders hervorgetan haben sich hier die Kinder- und Jugendhörbücher mit einem Umsatzzuwachs von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum, ein Phänomen, das sicherlich dem Harry-Potter-Erfolg geschuldet ist. Aber auch der Romanhörbücher konnten legten um knapp 23 Prozent im Umsatz zu. Etwa 400 Firmen boten Anfang dieses Jahres hierzulande insgesamt - je nach Perspektive - nur bzw. schon 9000 Hörbücher für Erwachsene an (der Umsatz im Markt für Kinder ist in Euro doppelt so groß), dabei ist die CD mit siebzig Prozent Marktanteil das deutlich favorisierte Speichermedium. Aber, wie in so vielen anderen Bereichen, wird wohl auch hier in Deutschland zeitverzögert die Entwicklung beim großen Bruder USA nachgeholt: Dort entwickelt sich der Download-Markt rasant und man lauscht Audiobooks 4,4 Stunden pro Woche im Auto ("Audible"-Dateien können auch einmal auf CD gebrannt werden), zu Hause 3,6 Stunden, bei Sport und Arbeit je zwei Stunden und in öffentlichen Verkehrsmitteln 1,1 Stunden wöchentlich. In Deutschland gab es im vergangenen Jahr bei MP3-Playern - gegen den Trend bei HiFi-Produkten - eine Umsatzsteigerung von 175 Prozent auf 3,16 Millionen verkaufte Geräte.

Mag sein, daß dieses vereinzelte Zuhören zur Auflösung bisheriger gemeinschaftlicher Zusammenhänge paßt: Ausstieg aus allgemeinverbindlichen Tarifverträgen, Wechsel von der gesetzlichen in die private Krankenversicherung, Selbstbeteiligung statt Versicherungsleistung, freier statt angestellter Journalist, Cybersex von Singles statt Wohngemeinschaftsexperimenten usw. usf.

So düst der HartzIV-Gebeutelte nun vielleicht ans andere Ende der Republik, weil das inzwischen für die Arbeitsaufnahme "zumutbar" ist, und hört unterwegs das Ratgeber-Hörbuch "Simplify Your Life"; hat er den 1-Euro-Job ergattert, hört er auf der Rückfahrt Tips zu besserem "Zeitmanagement"; hat er wieder das Arbeits-Los gezogen, dann ist es wohltuend, auf dem Player einen Ordner mit beruhigenden Audiodateien parat zu haben, bis man das Er-Fahrene notieren kann. Und wer da grade erst kapiert hat, daß Blogs Internettagebücher sind, ist schon nicht mehr up to date, sondern out, denn inzwischen sattelte auch Wladimir Kaminer hierzulande auf den neuen Trend der Podcasts auf: vertonte, herunterladbare Blogs. So viel zu hören, so viele Gelegenheiten, sich selbst zu fesseln! Ersetzt der MP3-Player die Zwangsjacke? Oder wird er modisches Accessoire - als Ohranhänger (Foto: klicken!) gibtÂ’s ihn schon.

Friedrich Nietzsche ahnte nicht, daß den Buchdruck CD-Pressungen ersetzen könnten, als er prophezeite: "Noch ein Jahrhundert Buchdruck, und der Geist selber wird stinken."