›Sich 500 Jahre hinstellen und den Kapitalismus kritisieren?‹

Über Münteferings Wahlkampfmanöver und die Perspektiven der Kapitalismuskritik.

Von "unermesslichen" Managergehältern hat SPD-Chef Franz Müntefering Mitte April gesprochen und von Finanzinvestoren, die keinen Gedanken verschwenden an Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, wenn sie wie Heuschreckenschwärme mit kurzfristigem Profitinteresse Firmen aufkaufen und weiterverkaufen. Über die sich seitdem daran anschließende Debatte sprach Christoph Jünke für die SoZ mit Georg Fülberth, dem linken politischen Kolumnisten und ehemaligen Marburger Professor für Politikwissenschaft. Im Kölner PapyRossa-Verlag ist soeben Georg Fülberths jüngstes Werk erschienen: G Strich - Kleine Geschichte des Kapitalismus.
Auf der politischen Linken waren auf Münteferings Aussagen hin wesentlich zwei Reaktionsformen zu beobachten. Zum einen die, die forderten, dass nun Taten den Worten zu folgen hätten. Zum anderen die, die in dem Ganzen nur eine große reaktionäre Lüge erkennen können. Wo steht ein so versierter Politik- und Kapitalismuskritiker wie du in dieser Diskussion?

Beide haben wohl Recht. Dass das Ganze ein Wahlkampfmanöver ist, ist offensichtlich. Wahrscheinlich handelt es sich dabei sogar um ein Nachwahlkampfmanöver, denn die SPD geht wohl davon aus, dass sie die Wahl in Nordrhein-Westfalen verlieren wird, und sie meint, dann auch den Bundestagswahlkampf 2006 mit dieser Kampagne bestreiten zu können. Sie kann dabei ja nur gewinnen. Wenn sie die Wahl gewinnt, stellt sie erneut den Kanzler, wenn sie verliert, kann sie sich neu positionieren für die Zeit nach der Wahl. Es ist also ein rein wahltaktisches Manöver.
Was Müntefering nun beklagt, hat ja seine eigene Partei angerichtet. Sie haben kräftig die Steuern gesenkt, haben damit Mittel freigesetzt, von denen sie annahmen, dass sie für Investitionen verwandt würden. Ein großer Teil dieser Mittel ist aber offensichtlich in sog. Hedgefonds gelandet. Finanzminister Eichel hat kaum, dass Lafontaine weg war, die Veräußerungsgewinne steuerfrei gemacht, hat also gerade das Phänomen gefördert, das nun beklagt wird. Das ist die normale Arbeitsteilung zwischen Regierung und Partei, wie wir sie von der SPD kennen. Früher war es der Brandt, heute ist es der Müntefering. Das ist ganz normale Public-Relations-Arbeit. Von reaktionär würde ich deswegen gar nicht reden. Müntefering macht seinen Job, die übliche Demagogie, die er sich leisten kann, weil außerhalb der SPD im Grunde niemand da ist, der diese Kritik wirklich mit Einfluss gegen die SPD selbst wenden könnte.
Als es noch eine sozialistische Alternative gab, sei es der "real existierende Sozialismus" oder zumindest eine potenzielle kommunistische Massenpartei, hätte die SPD wahrscheinlich nicht so argumentieren können, da sie dann hätte befürchten müssen, dass dies von dieser dann alternativ hätte aufgegriffen werden können. Die ganze Debatte ist deshalb also folgenlos, weil niemand außerhalb der SPD imstande ist, die Konsequenzen solcher Kritik zu ziehen. Von der SPD zu verlangen, dass sie solcherart Kapitalismuskritik Taten folgen lässt, wäre nun wirklich ziemlich blauäugig.

Aber warum können weder die Gewerkschaften noch Attac, weder die PDS noch die neue WASG von dieser Diskussion in dem Sinne profitieren, dass ihre eigenen Anliegen breiter diskutiert werden?

Das hängt wohl damit zusammen, dass diese Organisationen ihrerseits diskreditiert sind. Die Gewerkschaften haben sich in der Vergangenheit so sehr als Steigbügelhalter der SPD betätigt, dass ein Umschwenken auf eine grundsätzliche Kapitalismuskritik von Seiten der Gewerkschaften ebenso unglaubwürdig wäre, wie es nun bei Müntefering der Fall ist. Die PDS hat sich seit 1989/90 mittlerweile so in die Zivilgesellschaft verstrickt, dass eine konsequente Kapitalismuskritik auch für sie eine Kehrtwendung bedeuten würde. Und die WASG hat ja unter ihrem glorreichen Spitzenfunktionär Klaus Ernst von vornherein erklärt, dass sie von einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik nichts hält. Insofern sind diese drei Organisationen keine Kandidaten für eine entsprechend glaubwürdige Kapitalismuskritik.

Und was ist mit einer Bewegung wie attac, die doch genau das spezifisch thematisiert hat, wovon auch Müntefering sprach: die neoliberale Überhitzung des Kapitalismus?

Attac ist wahrscheinlich wirklich eine ziemlich aussichtsreiche Organisation, nur sind sie noch sehr am Anfang. Sie haben das große Plus gegenüber PDS, WASG und Gewerkschaften, dass sie im Grunde nicht links gestartet und rechts gelandet sind. Sie sind ja von Anfang an eher eine bürgerliche Bewegung gewesen, die sich allmählich nach links bewegt. Das braucht allerdings noch einige Zeit, weswegen man sie nicht überfordern sollte.

Dass Münteferings Worte solche Wellen geschlagen haben, zeigt einmal, wie du sagst, die Unfähigkeit, das Thema von links zu besetzen. Es zeigt aber andererseits doch auch den tief sitzenden Groll und Unmut in großen Teilen der Bevölkerung.

Der Herr fischt natürlich auch im Trüben. Kapitalismuskritik als Spekulantenkritik ist zunächst einmal ja gar keine Kapitalismuskritik. Die kommt in Deutschland eigentlich immer von rechts. Ich werde jetzt nicht sagen, dass das antisemitisch ist. Aber was sich da angesprochen fühlt durch Müntefering, ist jenes Ressentiment, das das schaffende dem raffenden Kapital vorzieht. Insofern wird er wahrscheinlich rechts viel besser verstanden als links. Was hat er denn anderes gemacht, als ein Jahr lang aufmerksam die Bild-Zeitung zu lesen. Und dort haben wir ja schon den doppelten Zorn gegen "Florida-Rolf" da unten und die Spekulanten da oben. So gesehen ist es also nicht sehr kreativ, was der Herr dort gemacht hat. Wer weiß, woher er das hat: auch der Regierungssprecher Anda kommt ja von Bild.

Aber ist es nicht so, dass viele zwar die Kritik Münteferings teilen, ihm aber nicht glauben oder wahlpolitisch folgen? Und ist dies kein Zeichen für eine weit verbreitete "linke" Haltung?

Die Kapitalismuskritik von Müntefering findet offensichtlich Anklang, eher rechts und in der Mitte als links, denn dort hat man erkannt, dass er ein Demagoge ist. Gerecht ist daran, dass die SPD nicht davon profitiert. Das ist schon gut und zeigt, dass das Volk gar nicht so blöd ist. Die eigentliche Kapitalismuskritik ist aber von Müntefering und von jenen, die ihm applaudiert haben, nur als Hohlform akzeptiert worden.
Kapitalismuskritik ist überhaupt eine ziemlich unsinnige Angelegenheit, wenn wir davon ausgehen müssen, dass es diese glorreiche Gesellschaftsformation noch 500 Jahre geben wird. Sollen wir uns jetzt 500 Jahre hinstellen und den Kapitalismus kritisieren? Das fände ich ziemlich langweilig. Viel interessanter wäre, wenn man weniger den Kapitalismus oder irgendeine Tierart lauthals anklagt, sondern danach fragt, wie innerhalb des Kapitalismus andere Varianten desselben gefunden werden, um eine Besserung zu erreichen. Kapitalverkehrskontrollen wären ja bspw. eine sinnvolle Angelegenheit, dann die Besteuerung von Veräußerungsgewinnen. Das könnte man ja machen, das hatten wir ja früher schon gehabt - das hat die SPD ja abgeschafft. Es sind also viele Einzelmaßnahmen möglich, um den Kapitalfluss zu verlangsamen.

Aber damit sind wir doch wieder bei dem von Müntefering thematisierten Problem, bei der Reregulierung.

Aber er hat ja nicht gefordert, die Steuererleichterungen, die die SPD seit 1998 eingeführt hat, wieder zurückzunehmen. Davon ist mir nichts bekannt. Er tritt auch nicht für eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes ein. Im Gegenteil: Der Steuersatz wird gerade jetzt, im selben Moment seiner Reden und Interviews, wieder gesenkt, Stichwort: Senkung der Erbschaftsteuer und weitgehende Steuerfreiheit bei der Vererbung von Betrieben. Ich sehe keinen einzigen konkreten Punkt bei ihm, es ist reine Public Relations, sonst nichts.

Was würdest du denn verstehen unter einer Linken, die ein solches Thema emanzipativ aufgreift?

Seit Jahren mache ich Reklame für ein einziges Buch. Und zwar für das Buch von Jörg Huffschmid, Politische Ökonomie der Finanzmärkte, der die Entwicklung seit 1973 sehr exakt beschreibt und tatsächlich eine sehr schöne Agenda hat für eine neue europäische Finanzarchitektur mit sehr viel Einzelmaßnahmen. Wenn man sich ernsthaft daran machen würde - er ist ja Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac -, das abzuarbeiten und bis auf die kommunale Ebene herunter zu brechen - da hätte die Linke alle Hände voll zu tun. Ich sitze ja im Kreistag Marburg-Biedenkopf und wir sind von morgens bis abends bspw. mit der sog. Bolkestein- Richtlinie beschäftigt, mit der Privatisierung unserer Kliniken, mit dem Verkauf der hiesigen Immobilien an internationale Immobilienfonds. Das ist unser Alltag und wenn es eine Linke gäbe - ich weiß nicht, ob ich es wünschen soll -, hätte sie sehr viel zu tun, sich bodennah mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.

Dort siehst du den Angelpunkt, von dem man zu einer antikapitalistischen Offensive käme?

"Angelpunkt" ist natürlich altes Denken. "Antikapitalistische Offensive" klingt mir viel zu militärisch. Man wird Abwehrkämpfe führen müssen und dafür gibt es viele Gelegenheiten. Die Kapitalismuskritik sollten wir dagegen den Theoretikern überlassen - und da hat ja der alte Marx schon das wesentlichste gesagt - und den Demagogen.

Der Kapitalismuskritiker Fülberth, der eigentlich gar kein Kapitalismuskritiker sein will, ist auch ein Kapitalismusanalytiker. Du hast soeben ein Buch veröffentlicht zur Theorie und Geschichte des Kapitalismus. Welches war dabei dein Erkenntnisinteresse und was ist dabei herausgekommen?

Ich hatte zunächst meine Aufgabe als hessischer Beamter wahrgenommen und über mehrere Semester eine Vorlesung zur Geschichte des Kapitalismus gehalten. Die Ergebnisse habe ich nun zusammengefasst und viel dabei gelernt - vor allem von Historikern, weniger von Soziologen und Politologen. Ich hab viel gelernt z.B. von dem Historiker Fernand Braudel, der mir der wichtigste zu sein scheint, der einen sehr frühen Kapitalismus beschrieben hat, den Kapitalismus des 15. bis 18.Jahrhunderts. Der sehr interessante Gedanke bei Braudel ist, dass wir unterscheiden müssen zwischen dem Kapitalismus als Betriebsweise und als Gesellschaftsordnung. Kapitalismus als Betriebsweise haben wir nicht nur in Europa, sondern bereits in China oder Japan gehabt. Auch das war nicht idyllisch, aber immerhin noch bremsbar. Seit der industriellen Revolution haben wir einen Kapitalismus als Gesellschaftssystem. Das unterscheidet Braudel und hält dies offensichtlich für sehr verhängnisvoll. Und hier würde ich ihm zustimmen.

Und hier siehst du auch einen aktuellen Bezug?

Braudel selbst ist ja schon zwanzig Jahre tot. Aber man kann ja mal Ansichten überprüfen, wie sie Elmar Altvater vertritt, ob es nicht sinnvoll und denkbar wäre, diesen Kapitalismus ein bisschen mehr wieder einzubetten in nichtkapitalistische Strukturen. Das ist zutiefst reformistisch und hat mit antikapitalistischer Offensive nichts zu tun, ist aber vielleicht das einzige, was gerade noch möglich ist.