Rede auf der Vollversammlung des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns gegen das herrschende Menschenbild der "Agenda 2010" kämpfen, lasst uns für eine andere, eine bessere, eine kommunistische Gesellschaft kämpfen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

als ich vor zwei Jahren zusammen mit Markus Struben die Geschäftsführung des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren übernommen habe, war zwar klar, dass die Studiengebührendebatte neuen Schwung bekommt - Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und andere Bundesländer bastelten an Plänen für Langzeitgebühren - aber dass die politische Kultur im Allgemeinen und damit auch die hochschulpolitische Kultur im Speziellen so schnell erodieren würde, war nicht abzusehen.

Die sozialdemokratische "Agenda 2010" ebenso wie der konservative "Bierdeckel-Populismus" eines Friedrich Merz haben zu einer Niveausenkung in politischen Debatten geführt, sowohl inhaltlich als auch, was den Umgang miteinander betrifft. Dies geht soweit, dass Menschen mit anderen Auffassungen öffentlich als "Totengräber" denunziert werden. In einer Anzeige, erschienen am 2. Oktober 2004 in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift "Auch wir sind das Volk" wird von gut verdienenden Kulturindustriellen wie Günter Grass genau dies denjenigen entgegengehalten, die gegen "Hartz IV" protestieren. Ohne ein einziges inhaltliches Argument heißt es über den "Standort Deutschland": "Der ist gepflastert mit den Grabsteinen verblichener Chancen. Totengräber sind in allen Parteien zu Hause" und weiter: "Nur Demagogen, die ihre Zukunft hinter sich haben, reden dem Volk nach dem Maul. Ihre Rezepte sind so simpel wie ihre Motive durchsichtig." Unterzeichnet ist der Text von Menschen, die nie direkt in den "Genuss" der Folgen von "Hartz IV" kommen werden, unter anderem von Peter Glotz, Marius Müller-Westernhagen, Günter Grass, Roland Berger, Dieter Hundt, Thomas Middelhoff, Michael Rogowski und Helmut Thoma. Nur wenige Wochen vorher hatte Franz Müntefering jene Genossin aus Köln, die in einem Brief den Rücktritt Schröders forderte, als "verrückt" bezeichnet. Wörtlich sagte er: "In einer Partei, die so groß ist wie wir, gibt es auch Leute, die ein bisschen verrückt sind." Damit denunziert er politische GegnerInnen und reduziert das politische Probleme auf ein pathologisches. Die Politik sei "alternativlos", heißt es, und der Abbau sozialer Errungenschaften, die über 100 Jahre erkämpft wurden, ist eine neue Volksreligion. Die vorgegaukelte Alternativlosigkeit soll diejenigen, die am Sinn der Reformen zweifeln, als AußenseiterInnen abstempeln. Dieser "Putsch von ganz oben", wie Arno Luik es im Stern nennt, diese TINA-Keule mit ihrer Behauptung: "There is no Alternative" trifft auch uns. So wurde ich bei einem Kongress der Bayerischen Rektorenkonferenz, an der unter anderem der hamburgische Wissenschaftssenator Jörg Dräger, der Präsident der TU München Wolfgang Hermann, Konrad Schily von der Privatuni Witten-Herdecke und Jürgen Kluge von McKinsey die herrschende Sicht referierten, von einer Journalistin als "Totalverweigerer" angekündigt. Dieser Umgang passte zwar so gar nicht zum Ambiente, fand die Tagung doch in nobelstem Umfeld und mit hochrangigen TeilnehmerInnen statt, macht aber deutlich: Der Druck auf uns steigt. Warum betone ich das hier und heute? Ich glaube, um diesem Druck standhalten zu können, müssen wir uns alle klar sein, wohin wir wollen. Wir müssen uns Visionen erkämpfen, zurückerkämpfen und die als richtig erkannten Ziele durchzusetzen versuchen. Und wir müssen uns dieses Drucks bewusst sein, um gezielt Politik machen zu können, ohne selbst zu MärtyrerInnen zu werden. Was aber sind diese Ziele, und wie können wir gemeinsam gegen den Druck angehen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich glaube, uns allen muss jeden Tag aufs Neue klar werden: Die Hochschule ist keine Insel und Bildungspolitik kein Selbstzweck. Eine sinnvolle hochschul- und forschungspolitische Positionierung und Perspektive kann uns nur gelingen, wenn wir unser Handeln in den gesamtgesellschaftlichen Kontext stellen, wenn wir unsere Ziele daran festmachen, was für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung notwendig und wünschenswert ist. Dies fängt bei scheinbar banalen Fragen wie der Frage nach der Qualität der Hochschulbildung an. Woran macht sich diese Qualität fest? Wenn man die Hochschule an sich betrachtet, dann könnte ein Ziel sein, die Menschen möglichst schnell zum Abschluss zu führen. Man kann das Ziel auch in einer optimalen Investition in das Humankapital im Sinne der späteren Verdienstmöglichkeiten sehen - und damit auch Studiengebühren legitimieren. Wer die Hochschule jedoch vom Erfolg des Einzelnen abhängig macht, wer gleichsam die Privatisierung des Wissens zum Zwecke der eigenen "Gewinnmaximierung" hervorhebt, der befindet sich mitten im gesellschaftspolitischen Mainstream der Individualisierung öffentlicher Leistungen und sozialer Risiken. Wer die Qualität der Hochschulen an der optimalen Zurichtung des Humankapitals zum Zwecke der Employability, d.h. der reinen Beschäftigungsfähigkeit durch das Kapital, festmacht, der steht mit seinem Bewusstsein auf der falschen Seite. Aufgabe progressiver Kräfte muss genau diese Überwindung der reinen Funktionalität der Hochschulen - sei es für die Kirche, sei es für den Staat oder sei es für die Wirtschaft - sein. So schreibt Wolf-Dieter Narr in einem in der Zeitschrift Forum Wissenschaft des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) dokumentierten Brief, dass sich in der Tradition von Sophokles/Sokrates über Kant/Humboldt bis zu Simone Weil und Adorno ein "primäres Ziel allen Lernens, allen Bildens und Ausbildens geradezu von selbst [ergibt]: die politisch gesellschaftlich begründete und Politik und Gesellschaft begründende Autonomie von jedem Kind und jedem Erwachsenen. Dieser Autonomie, individuell und sozial allgemein zugleich, kann man nur dienen, sie kann man nur, im Lernen unterstützt, erreichen und täglich neu erringen, wenn man um die enormen Anstrengungen der Autonomie weiß. Und sich dieser schweißtreibenden Anstrengung stellt. Aus freien Stücken. Zu freien Stücken. Zur ‚Ekstase des aufrechten GangsÂ’. Obwohl, gerade weil wir alle aus ‚krummem HolzÂ’ geschnitzt sind. Zu ihr gehört die intellektuell überaus voraussetzungs- und folgenreiche ‚Anstrengung des BegriffsÂ’. Mein Brief ist also ein Appell zum selbstbestimmten Verhalten." Was Narr fordert - und was wir alle fordern sollten - ist die unbedingt aufklärerische Funktion von Bildung, ist die unbedingt emanzipatorische Funktion von Bildung und, so würde ich ergänzen, ist die sich daraus ergebende kritische Funktion von Bildung. Damit aber ist die hochschulpolitische Debatte in eine gesamtgesellschaftliche Debatte überführt, gilt doch, dass Bildung den Menschen dazu befähigen muss, im besten Sinne als selbstbestimmtes Individuum in der Gesellschaft zu leben. Das Gesellschaftssystem muss dazu aber passen, dies gilt es zu erkämpfen, in der Hochschule und darüber hinaus. Wenn das Ziel der Bildung also der selbstständige Mensch ist, der soziale, d.h. gesellschaftliche, Verantwortung zu übernehmen bereit ist, wenn das das Ziel ist, dann muss sich Bildung und Hochschulbildung von einer affirmativen Fixierung auf den Arbeitsmarkt vollständig lösen. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist die Hochschule zwangsläufig auch ein hinführen zur reinen Beschäftigungsfähigkeit, muss doch die immer komplexer werdende Produktion aufrecht erhalten und gleichzeitig gewährleistet werden, dass die Menschen die Situation ihrer Ausbeutung nicht begreifen können, da sie in der Konkurrenz glauben, "eigenverantwortlich" zu handeln. Solange sie aber ausgebeutet werden, kann von einem autonomen Individuum die Rede nicht sein. Daher kann der von mir beschriebene Bildungsbegriff nur in einer klassenlosen Gesellschaft - dem Kommunismus - verwirklicht werden. Daher müssen hochschulpolitisch Aktive auf die Überwindung des Kapitalismus hinarbeiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
lasst mich einen weiteren Punkt betonen: Eine Hochschule mit dem Ziel, den Individuen die Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen zu ermöglichen, muss selbst demokratisch verfasst sein. Wenn wir uns darin einig sind, dass dem so ist, dann erübrigt sich die Frage nach Studiengebühren von selbst: Sie können in ihrer Steuerungsfunktion, in ihrer Selektivität und im Bildungsbegriff, den sie darstellen, nicht dem aufgeklärten, autonomen Individuum dienen. Wenn uns dies klar ist, dann sollten, dann müssen wir genau auf dieser Ebene gegen die BefürworterInnen der Studiengebühren von der taz bis zur Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) vorgehen, wir müssen, wie auf der vergangenen Vollversammlung beschlossen, den Kampf gegen Studiengebühren auf eine breitere Basis stellen. Dazu ist es zwingend erforderlich, sich an einem Gesellschaftsentwurf und einem Menschenbild zu orientieren, das dem gängigen "Agenda-2010"-Menschenbild widerspricht und das nicht auf plumpe Eigenverantwortungsrhetorik hereinfällt. Diese, so Arno Luik, "pathetisch positiv besetzten Stereotype" wie Eigenverantwortung, Eigeninitiative und Freiheit haben letztlich nur die Funktion, ich zitiere, "den Marsch zurück in die sozialdarwinistische Ordnung: ‚sorge für dich selbst!Â’" zu verschleiern. Auf diesem Weg wird der Druck seitens des Kapitals, der Konservativen und von Teilen der SozialdemokratInnen weiter zunehmen. Die Medien von der taz über die Süddeutsche bis zur FAZ werden Menschen, die sich nicht der herrschenden Meinung unterordnen, massiv angehen. Das wird meinen Nachfolgern in öffentlichen Debatten passieren, dass wird mir weiterhin so gehen, da ich politisch aktiv bleiben werde, und das wird allen hier im Raum so gehen, sobald sie offensiv das einfordern, was ich hier versucht habe zu beschreiben.
Kolleginnen und Kollegen! Diesem Druck konnte ich nur standhalten, weil ich von mir nahestehenden Personen und Organisationen unterstützt wurde. Deshalb möchte ich, dass der kommende KO sich der Verantwortung bewusst ist, die er gegenüber denjenigen hat, die permanent verbal attackiert werden, weil sie Richtiges vertreten. Wir müssen gemeinsam kämpfen, und gerade in Sachen Studiengebühren könnte sich die Debatte in naher Zukunft weiter verschärfen. Lasst uns gemeinsam für ein gebührenfreies Studium kämpfen, aber auch für eine Gesellschaft, die Bildung als das begreift, was sie ist, und Menschen aus allen Schichten den Zugang zur Bildung, zur Emanzipation gibt. Bildung ist ein Recht, kein Gnadenbrot und schon gar nicht eine Zurichtung von Humankapital.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns gegen das herrschende Menschenbild der "Agenda 2010" kämpfen, lasst uns für eine andere, eine bessere, eine kommunistische Gesellschaft kämpfen. Ich wünsche meinen Nachfolgern viel Erfolg und danke allen, die mich in den vergangenen Jahren im KO und darüber hinaus unterstützt haben.