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Foucaults Vorlesungen zur "Geschichte der Gouvernementalität"

in (19.07.2005)

"Wer am Kunstwort der Gouvernementalität festhalten will, sollte sich dazu durchringen, aus seiner Doppeldeutigkeit herauszutreten." Aus: Das Argument 261/2005

Die nun erstmals nahezu gleichzeitig auf französisch und deutsch veröffentlichten zwei Vorlesungsreihen am Collège de France 1977/78 und 1978/79[1] markieren ein wichtiges Bindeglied im Übergang zur Spätphase Foucaults, die sich grob vereinfacht dadurch auszeichnet, dass der Machtbegriff nun das Selbstverhältnis der Subjekte, ihre Art, sich und ihr Leben zu "führen", mit einbezieht. Während noch in Überwachen und Strafen (1975) eine subtile und zugleich omnipräsente Disziplinarmacht die Subjekte restlos durchformte, ohne dass ein Raum für Eigensinn und Widerstand zu erkennen wäre, wird Foucault 1982 im Zusammenhang mit der "Gouvernementalität" von einem "Führen der Führungen" (conduire des conduites) sprechen, in der sich Fremdsteuerung und alltägliche Selbst-Führung verbinden (vgl. DE II, Nr. 306, 1056 u. Nr. 340, 1401). Damit rückt er trotz seiner Gegnerschaft zum Ideologiebegriff in die Nähe eines Ansatzes, wie er nahezu gleichzeitig zu den Gouvernementalitäts-Vorlesungen vom Projekt Ideologietheorie ausgearbeitet wurde, das - im Gegensatz zu Althusser - zwischen "vertikaler" Fremdvergesellschaftung, "horizontaler" Selbstvergesellschaftung und "protoideologischem Material" analytisch unterschieden hat (vgl. PIT 1979, 180f, 183ff). Indem der späte Foucault zwischen institutionalisierter Herrschaft und flüssigen Machtbeziehungen differenziert, zwischen denen eine "gouvernementale" Führung von Selbstführungen vermitteln soll (DE II, Nr. 363, 1604), scheint er sich dem gramscianischen Thema der "Führung" (direzione), d.h. der Hegemonie anzunähern. Dass er die Unterscheidung zwischen Herrschaft und Macht nicht durchhalten wird, steht auf einem anderem Blatt.[2] An den Vorlesungen sind jedenfalls die tastenden Schritte in Richtung auf ein neues theoretisches Paradigma zu beobachten - Foucault selbst vergleicht sich mit einem Krebs, der sich seitwärts bewegt (II, 116).
Tatsächlich ist die Gedankenführung alles andere als geradlinig. Angekündigt wird eingangs eine Untersuchung zur "Bio-Macht" (I, 15), die Foucault 1976 im ersten Sexualitätsband als eine neuzeitliche Machttechnologie der demographisch-statistischen Bevölkerungsregulierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts definiert hatte.[3] Diesen Machttyp handelt er nun in den ersten drei Vorlesungen unter dem Begriff der "Sicherheitsdispositive" ab, denen er zutraut, dass sie die ganze Gesellschaft in eine "Sicherheitsgesellschaft" verwandeln könnten (26). Foucaults erstes Beispiel bewegt sich unmittelbar im Bereich der "Bio-Politik": bei den Impfkampagnen gegen die Pocken im 18. Jahrhundert habe man sich weder auf den Ausschluss der Kranken (wie bei der Lepra) noch auf ein disziplinäres Kontrollnetz (wie bei der Pest) gestützt, sondern sei daran gegangen, mithilfe differenzierter Risikostatistiken die gesamte Bevölkerung nach Morbiditäts- und Mortalitätskoeffizienten zu erfassen (25ff, 90ff, 95f). Das zweite Beispiel ist eine Städteplanung, die den Raum nicht mehr hierarchisch aufteile, sondern "Milieus" erzeuge, die eine maximale Zirkulation von Menschen und Waren ermöglichen (40ff, 52). Das dritte Beispiel stammt aus dem Bereich liberaler Wirtschaftspolitik: Während der Merkantilismus die Nahrungsmittelknappheit wegen der Gefahr städtischer Hungerrevolten disziplinarisch zu verhindern versuchte, arbeite das durch die politische Ökonomie ins Werk gesetzte Sicherheitsdispositiv "im Element dieser Wirklichkeit selbst": das Hortungsverbot wird aufgehoben, Preisanstieg zugelassen, der Nahrungsmangel zur "Schimäre" erklärt bzw. längerfristig durch eine Politik des laissez faire aufgehoben (63ff) - und schließlich könne es auch von Vorteil sein, wenn Leute an Hunger sterben (69). Im Gegensatz zur Disziplin, die alles zu regeln versuche, behandle die "Sicherheit" die Dinge auf der Ebene ihrer "Natur" und sei damit in der Lage, immer neue Elemente zu integrieren, immer weitläufigere Kreisläufe zu organisieren (73ff). Man stütze sich nun positiv auf die "Begierde" - gemeint ist die des bürgerlichen Privategoismus, den Foucault nicht thematisiert -, die in gewissen Grenzen und Verbindungen ein Kollektivinteresse sowie einen allgemeinen Nutzen für die Bevölkerung hervorbringe (111f). Diese werde seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr von der Achse Souverän-Untertan her gedacht, sondern als "technisch-politisches Objekt einer Verwaltung oder einer Regierung" (107f).
Die Beispiele ließen sich zusammenfassen zum Modell einer gesellschaftlichen Steuerung, die nicht mehr durch ideologische Unterstellung unter übergeordnete Autoritäten erfolgt, sondern zum einen durch die statistische Erfassung und Regulierung der Bevölkerung, zum anderen durch eine spezifische Anordnung privategoistischer "Begierden" und Interessen. Beide Bestimmungen schließt Foucault zusammen, wenn er meint, die liberale (Zirkulations-)Freiheit sei "nur das Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven" (I, 78). Vom Zusammenhang mit der wirklichen Explosion bürgerlicher Warenzirkulation ist hierbei konsequent abgesehen. Es ist auch nicht recht klar, welche gesellschaftliche Konstellationen ein solches Modell abbilden soll. Man könnte z.B. einwenden, dass die von Foucault angeführte räumliche Ermöglichung von Zirkulationen auch schon für die Anlage antiker und mittelalterlicher Handelsplätze zutrifft. Dass Foucault sie einer disziplinären Hierarchisierung des Raums entgegensetzt, ist auch für das 18. Jahrhundert schwer nachvollziehbar, da die Marktplätze in räumliche Hierarchien eingebaut sind und selbst auch in einem "hierarchischen" Verhältnis zum Land und zu den proletarischen Unterstädten stehen. Natürlich weiß auch Foucault, dass der Liberalismus nicht zuletzt in der "Form des Imperialismus" aufgetreten ist (II, 42), aber er lässt unberücksichtigt, dass dieser mit neuen Apparaten und Technologien der Massenbeeinflussung an einer Intensivierung ideologischer Unterordnung gearbeitet hat. Ideologietheoretisch ließe sich argumentieren, dass sich gerade die bürgerliche Vereinzelung privategoistischer Subjekte einer ideologischen Vergesellschaftung von oben im Namen unhinterfragbarer Instanzen und Werte entgegenstreckt, statt einen Gegentyp zu konstituieren.
Schon dieser erste Anlauf lässt Eigentümlichkeiten der Methode erkennen, die sich durch die Vorlesungen insgesamt ziehen. Zum einen erzeugt Foucault eine Serie von Begriffen, die schwellenlos ineinander übergehen: Biomacht, Sicherheit, Bevölkerung, Regierung, Liberalismus - jeder Term enthält die Bestimmungen der anderen gleich mit. Auf der anderen Seite werden Aspekte ideologischer Vergesellschaftung künstlich voneinander abgetrennt und entgegengesetzt, die gerade durch ihre Kombinationen wirksam sind. "Das Gesetz verbietet, die Disziplin schreibt vor"; bei den Sicherheitsdispositiven gehe es dagegen nicht mehr um ein "Gehorsamsverhältnis", sondern darum, "die Elemente der Realität wechselseitig in Gang zu setzen" (76, 101). Poulantzas hat hierzu kritisch angemerkt, dass das "Gesetz" keineswegs nur negativ verbietet, sondern auch vorschreibt, was zu tun ist, und "positive" ideologische Haltungen erzeugt (1978, 74f). Dies entspricht u.a. auch dem Sprachgebrauch des Aristoteles, bei dem nomos auch das "ungeschriebene Gesetz" bezeichnet und die Tugend als Habitusform hervorbringt. Und umgekehrt kann auch eine liberale, den "Realitäten" des Marktes Rechnung tragende Wirtschaftspolitik keineswegs auf die Unterordnung der Subjekte unter "Gesetz" und Disziplin verzichten.
Foucault scheint das im Auge zu haben, wenn er von einem "Dreieck" spricht, in dem die unterschiedlichen Machtdiagramme gleichzeitig wirksam sind (I, 161; vgl. 22f).
Dies widerspricht allerdings der eigenen Darstellung, in der die Machttypen Souveränität, Disziplin und Sicherheit als eine zeitliche Abfolge beschrieben sind. Beide Eigentümlichkeiten, das Verfließen der Begriffe wie die künstliche Durchtrennung funktionaler Zusammenhänge, hängen mit einer Abstraktion zusammmen, die seine Untersuchung immer wieder ins Geistesgeschichtliche abgleiten lässt: wegen des Abgrenzungszwangs gegenüber Marxismus und Ideologiekritik wird systematisch ausgeklammert, was der Machttypologie ein konkretes historisches Profil geben könnte: die Hegemoniegewinnung des modernen Bürgertums.
Stattdessen praktiziert Foucault ein Verfahren, das für seine theoretische Produktionsweise typisch ist, nämlich die Erfindung eines neuen Begriffs, mit dem er seine Darstellung wieder aufnehmen und leicht verschoben fortsetzen kann: Nachdem er in der 3. Vorlesung im Zusammenhang mit der statistischen Erfassung der Bevölkerung eher nebenbei von der "gouvernementalen Praxis des 18. Jahrhunderts" gesprochen hat (108), erhebt er den Term in der 4. Vorlesung zum Zentralbegriff und erklärt, er hätte der Vorlesungsreihe lieber den Titel einer "Geschichte der ›Gouvernementalität‹" geben sollen (162). In der Sekundärliteratur hat man den Neologismus gewöhnlich aus der Zusammensetzung von "gouvernement" und "mentalité" zu erklären versucht (z.B. Bröckling u.a. 2000, 8), was man im Deutschen etwa als Regierungs-Mentalität oder Regierungs-Gesinnung wiedergeben könnte. Dieser Herleitung widerspricht nun der Herausgeber Sennelart und erklärt, es handele sich nicht um eine Mentalität, sondern um eine Substantivierung des Adjektivs gouvernemental, wie musicalité aus musical (I, 564, Anm. 125). Wenn das zutrifft, wofür Sennelart allerdings keine philologischen Argumente anführt, fragt sich umso mehr, wozu der Aufwand gut sein soll, das vom Substantiv gouvernement abgeleitete Adjektiv gouvernemental (regierungsmäßig) durch Anhängen von -ité wieder in ein Substantiv zu verwandeln: Der Begriffszauber verfliegt, wenn man das geheimnisvolle Fremdwort in das deutsche Wort Regierungsmäßigkeit übersetzt.
Foucaults "theoretischer Theatercoup" (Sennelart, I, 551) verdeckt, dass das Wort die verschiedensten Bedeutungen enthält: auf allgemeinster Ebene soll es die Art und Weise bezeichnen, "in der man das Verhalten der Menschen steuert" (II, 261), mithin jenes "Führen der Führungen", das sich durch seinen konsensualen Anteil von bloßer Herrschaftsausübung unterscheiden lässt (vgl. I, 173f, 182, 281). Auf einer zweiten Ebene bezeichnet es eine zunächst "orientalische", dann jüdisch-christliche "Kraftlinie", die das "gesamte Abendland" durchzieht und zur Vorrangstellung des Machttyps ›Regierung‹ geführt hat (I, 162). Gemeint ist das "Pastorat" als eine Führungskonzeption, die sich im Gegensatz zur griechisch-römischen Antike als Verhältnis von Hirte und Herde artikuliert und die Foucault als Anfangsstadium und Kristallisationspunkt der Gouvernementalität bezeichnet (241f). Auf einer dritten Ebene lässt Foucault die "politische ›Gouvernementalität‹" (521) im 16. Jahrhundert bei Reformation, Gegenreformation und dem Übergang zu großen Territorialstaaten beginnen. Hierbei interessiert ihn, dass die antike Vorstellung einer Regierung der Polis mit der christlichen Hirten-Vorstellung verschmilzt, das christliche Pastorat sich säkularisiert und weit ins Alltagsleben hinein wirkt. Die unter dieser Überschrift behandelten Führungskonzeptionen - Merkantilismus, Kameralistik, Staatsräson, "Polizeywissenschaft" und Physiokraten - seien allerdings noch durch die Übermacht der "Souveränitätsmacht" blockiert (153f), die Regierungskunst könne "ihre eigene Dimension nicht finden" (155). Diese Staats-Fixierung werde erst Mitte des 18. Jahrhunderts durch die "liberale Regierungskunst" überwunden, die in Foucaults Darstellung die "moderne gouvernementale Vernunft" einleitet (II, 25, 40ff).
Erst bei diesem (vierten) engeren Begriff kann Foucault zufolge das Problem der Regierung außerhalb des juridischen Rahmens der Souveränität gedacht werden (I, 156), was er als Anbruch eines neuen Zeitalters deutet: "Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität, die im 18. Jahrhundert entdeckt wurde." (164) Freilich deckt auch diese Begriffsverwendung immer noch eine komplexe Epoche ab, die neben dem Liberalismus z.B. den Konservatismus, den Faschismus, den Staatssozialismus, die Sozialdemokratie umfasste, und es fragt sich, wie die "Gouvernementalitäts-Studien" beanspruchen können, mit dieser Kategorie den analytischen Schlüssel zum Verständnis des Neoliberalismus gefunden zu haben.
Es ist, als versuchte Foucault in immer neuen Anläufen, sich der Geschichte anzunähern, ohne jemals bei historischer oder sozialwissenschaftlicher Konkretion anzukommen. Dabei schillert nicht nur die Ausdehnung des Begriffs, sondern auch die Realitätsebene, auf die er sich beziehen soll. Während die Souveränitätsmacht noch bei Machiavelli auf das Territorium bezogen sei und ihren Zweck zirkulär in sich selbst habe, richte sich das Gouvernement auf den "Komplex" zwischen Menschen und Dingen, d.h. auf Menschen in ihren Verwicklungen mit Dingen, mit Reichtümern, Bodenschätzen, Nahrungsmitteln usw. (I, 145ff). Eine solche Bestimmung ist freilich zur Kennzeichnung einer modernen, "ökonomischen" Gouvernementalität ungeeignet, denn Menschen waren immer mit "Dingen" verwickelt, und alle Herrschaft wie auch Hegemonie musste sich auf irgendeine Weise auf diesen Zusammenhang, z.B. auf die Verfügung über ökonomische Ressourcen und Arbeitskräfte, beziehen. Will Foucault wirklich sagen, eine solche Verfügungsmacht sei eine neuzeitliche Erfindung, während es vorher nur ums Territorium als solches und um selbstzweckhafte Machtsteigerung gegangen wäre? Er weicht solchen Fragen aus, indem er die Realitätsebene wechselt: Gouvernementalität bezeichne nicht die Art und Weise, "in der die Regierenden wirklich regiert haben" (II, 14), sondern ziele auf die zugrundeliegenden Rationalisierungen. Es geht also nicht um wirkliche Führungspraxen, sondern nur um bestimmte Denkweisen in der Ratgeberliteratur, die es vorher so nicht gegeben hat. Diese Beschränkung könnte methodisch durchaus gerechtfertigt werden, steht aber in Widerspruch zu Foucaults Definition von Gouvernementalität, wonach es um die "Gesamtheit" (ensemble) der Institutionen, Vorgänge und Reflektionen geht, mit der die Bevölkerung mithilfe eines "ökonomischen" Wissens geführt wird (I, 162). Das Geflecht von Institutionen, Praxen und Deutungsformen - das wäre in der Tat ein ideologietheoretisches Forschungsprogramm. Das Angekündigte wird nicht eingelöst: von Foucault erhält man Speisekarten, aber selten etwas zu essen.
Bob Jessop hat Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität als Rückkehr zur Makroanalyse, zum Thema der strategischen Kodifizierung von Machttechnologien in einem relativ einheitlichen Herrschaftsmuster und schließlich als Anzeichen einer Konvergenz mit PoulantzasÂ’ Analyse des kapitalistischen Staates interpretiert (2004, 100ff). Ein solcher Versöhnungsversuch zwischen Foucault und einem seiner scharfsinnigsten Kritiker[4] übersieht die Einseitigkeit, mit der Foucault den bürgerlichen Staat von seinen Herrschaftsfunktionen gereinigt hat: in Wirklichkeit sei der Staat "nur eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit, eine mystifizierte Abstraktion", "Typus der Gouvernementalität" bzw. "beweglicher Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten" (I, 163f, 360; II, 115). Aber als bloßer Effekt und "regulative Idee der gouvernementalen Vernunft" (I, 415), die selbst wiederum nur an Texten abgelesen werden kann, hat der Staat seine materiellen Konstitutionsbedingungen wie z.B. die private Verfügung über Produktionsmittel, die patriarchalischen Geschlechterverhältnisse oder die Trennung von Hand- und Kopfarbeit eingebüßt. Während Gramsci das Verhältnis von Führung und Herrschaft, Hegemonie und Zwang, società civile und società politica erfassen will, während Althusser darauf hinweist, dass die ideologischen Apparate unter dem "Schutzschild" des repressiven Staatsapparats arbeiten (vgl. Gramsci, Gef, H. 6, §88 u. §155; Althusser, ISA 124), hat sich bei Foucault die herrschaftliche Einrahmung hegemonialer Praxen rätselhaft verflüchtigt.
Das heißt weder, dass die von ihm behandelten Themen irrelevant wären, noch dass er sie auf uninteressante Weise behandeln würde. Im Gegenteil. Neuartig gegenüber Überwachen und Strafen (1975) sowie dem Willen zum Wissen (1976) ist z.B. ein Gespür für feine Widerstandslinien: Revolten der Verhaltensführung (conduite), die sich als ein Anders-geführt-werden-Wollen artikulieren (I, 282); die Askese als paradoxe Widerstandsform gegen das christliche Pastorat, da in ihr das Gehorsamsprinzip durch eine extreme Selbst-Beherrschung überboten und zugleich ersetzt wird (297ff); religiöse Gemeinschaften, die die Autorität des "Hirten" durch ein allgemeines Priestertum in Frage stellen (302ff); die Mystik, die dem christlichen Geständniszwang durch eine unmittelbare Kommunikation zwischen Gott und Seele zu entgehen versucht (307ff); die Eschatologie, die den Pastor entwertet, da die Zeit sich von selbst vollendet (310f). Auf solche Widerstandsformen reagieren die Kirchen "in Form der permanenten Verwendung taktischer Elemente" und gewährleisten so die "Reintegration des Gegen-Verhaltens ins Innere eines religiösen Pastorats" (312, 333) - eine hegemoniale Strategie also, die Gramsci mit dem Begriff der "passiven Revolution" zu theorisieren versuchte.[5] In dem Maße, in dem Foucault sich für die eigenständige Dimension der Selbst-Führung interessiert, öffnet sich der Blick für das widersprüchliche Funktionieren ideologischer Kämpfe, bei denen dieselben Instanzen und Werte antagonistisch reklamiert werden.[6]
Freilich ist Foucaults groß angelegte Metaerzählung einer pastoral-gouvernementalen "Kraftlinie" des Abendlands philologisch auf wackligem Terrain errichtet. Dass dem griechischen Denken die Hirtenmetapher zur Bezeichnung der Staatsmänner "vollkommen fremd" sei (193), wird schon durch die von ihm selbst angeführten Gegenbeispiele fragwürdig: in der Ilias wird der König 44 mal, in der Odyssee 12 mal als Hirte angesprochen (202; vgl. 229f, Anm. 1). Die Pythagoreer, die Foucault zur "Grenztradition" herabsetzt, leiten vom Hirten (nomeus) das Gesetz (nomos) und Zeus als Gott-Hirten (nomios) ab (203f). Bei Platon wird die gute Regierung im Kritias, den Nomoi und in der Politeia als Hirte aufgefasst (206f). Während Foucault die "orientalische" Figur des Hirten-Führers dem griechischen Steuermann entgegensetzt, der nicht die Seeleute, sondern das Schiff steuere (184), kann man z.B. im Reallexikon für Antike und Christentum nachlesen, dass bei Hesiod, Aischylos, Sophokles und Euripides der Titel Hirte "auch auf militärische Führer, z.B. Befehlshaber von Schiffen, ausgedehnt" wurde (Engemann 1991, 580).
Foucaults Schlüsseltext ist Platons Politikos, bei dem die Hirten-Analogie als unzureichend zurückgewiesen wird, zum einen weil nur ein Gott wirklich Hirte sein könne, zum anderen weil die Staatskunst eher durch die Tätigkeit eines Webers zu erfassen sei, der die unterschiedlichen Menschen zu einer Gemeinschaft verbindet (261e-283b u. 311; vgl. I, 209ff). Das ist richtig beobachtet, belegt aber keineswegs, dass "das griechische Denken" an der Staatsmann-Hirten-Analogie nicht beteiligt ist (217), sondern weist vielmehr darauf hin, dass Platon sich hier kritisch mit einem geläufigen Topos auseinandersetzt. Als Gegenmodell zum Alten Testament ist der Politikos hier ohnehin nicht zu gebrauchen, da beide darin übereinstimmen, die Hirtenfunktion einem Gott (Kronos bzw. Jahwe) zukommen zu lassen. Foucaults Herleitung des Pastorats ist selbst eine orientalistische Konstruktion. Ein Stück Sozialgeschichte hätte ihm zeigen können, dass die Kleinviehzucht und damit die Figur des Hirten im gesamten Mittelmeerraum und nicht nur im "Orient" verbreitet war. Es ist, als wollte er mithilfe des Pastorats die nietzschesche Idee eines jüdisch-christlichen Sklavenaufstands in der Moral noch einmal nachspielen.
Streckenweise übernimmt Foucault überholte und zudem anti-judaistische Plattitüden aus der herrschenden Theologie. Jeder wisse, dass das Christentum im Gegensatz zur jüdischen Religion keine "Gesetzesreligion" sei, sondern nur eine Unterwerfungsbeziehung zwischen einzelnen Individuen organisiere (254f): Die "strikt individuelle Beziehung [...] ist [...] geradezu das Prinzip des christlichen Gehorsams." (255) Hier ist jeder Impuls einer ideologiekritischen Dekonstruktion verlorengegangen. Zum einen hat sich die Gesetzeskritik des Paulus und der Evangelien nicht so sehr gegen die religiösen Gesetze des Judentums (Reinheitsgebote, Sabbathruhe usw.) gerichtet, sondern v.a. gegen den nomos des Römischen Reiches und der hellenistischen Städte, in den das jüdische "Gesetz" freilich auch (wenngleich prekär) integriert war (vgl. Taubes 1995, 36f). Die Problematik Gesetzlichkeit-Gesetzeskritik kann man also in der Gegenüberstellung christlich-jüdisch nicht hinreichend erfassen, sondern muss das Verhältnis zur römischen Imperialmacht mit einbeziehen. In diesem Rahmen zeigt sich zum anderen, dass "das Christentum" mitnichten gesetzeskritisch geblieben ist, sondern mit seinem Aufstieg zur Staatsreligion sehr wohl an der Unterordnung der Völker unter die Staatsgesetze gearbeitet hat. Auch die protestantischen Reformationen haben nach ihrer gesetzeskritischen Aufbruchphase ihre Kirchen in ideologische Apparate der fürstlichen Territorialstaaten transformiert. Und schließlich übersieht Foucaults Unterstellung einer "strikt individuellen" Beziehung die z.B. von Max Weber analysierte Herausbildung eines "Amtscharismas", bei dem die Hirtenfunktion gerade nicht durch den (fehlbaren) individuellen Kleriker sondern durch die (unfehlbare) Kircheninstitution ausgeübt wird (vgl. WuG 144, 693).
Wenn Foucault die Gouvernementalität als Vorgang definiert, in dem der Staat "sich nach und nach ›gouvernementalisiert‹ hat" (I, 163), ist dies streng genommen tautologisch. Das Gemeinte ließe sich dahingehend re-interpretieren, dass es bei der frühabsolutistischen Herausbildung fürstlicher Territorialstaaten erforderlich wurde, "eigene", d.h. von der katholischen Kirche unabhängige ideologische Kompetenzen, Führungsfähigkeiten und entsprechende Intellektuelle auszubilden. Von hier aus gesehen ist es fragwürdig, dass Foucault den Übergang zur "politischen Gouvernementalität" erst bei der anti-machiavellistischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert beginnen lässt (exemplarisch bei einer Schrift von de la Perrière von 1555). Gegenüber der neuen Regierungskunst, die auf eine Pluralität von Führungen orientiere, markiere Machiavelli "das Ende eines Zeitalters", dem es zirkulär um die Stärkung des Fürsten, seiner Souveränitätsmacht und seines Territoriums ging (100f, 141ff, 149, 452f). Dass der Principe sich auf Machterhaltung und -erweiterung des Fürsten bezieht, liegt u.a. am Thema der Schrift (und am Adressaten), aber trotz und in der personifizierten Form werden auch differenzierte Konstituenten institutioneller Führung abgehandelt, die man eher unter die Regierungskunst der "Staatsräson" einreihen müsste (vgl. Kap. 19). Dies hat Gramsci im Sinn, wenn er aus Machiavellis Fürst-Mythos die Aufgabenstellung der "Schaffung eines popular-nationalen Kollektivwillens" herausliest (vgl. H. 13, §1, 1537ff). Unausgewertet bleibt das Hauptwerk der Discorsi, in denen der Konsens mit dem Volk ein prominentes Thema ist und die Republik wegen ihrer differenzierten Auslese von Führungsqualitäten gelobt wird (z.B. 3. Buch, Kap. 9).
Foucaults Ausführungen zur Gouvernementalität laufen schließlich auf den Liberalismus zu, den er weder als "Theorie" noch als "Ideologie", sondern als "Weise des Tuns" behandeln möchte (II, 436). Allerdings tut er dies nicht, sondern interessiert sich ausschließlich dafür, dass sich der Liberalismus als kritisches Instrument gegenüber zuviel Regierung sowie als deren Selbstbegrenzung versteht (ebd., 40ff, 438, 441). Das entspricht unmittelbar dem Selbstbild des Liberalismus, der sich gerne in Opposition zu staatlicher und politischer Reglementierung sieht und dabei verdrängt, dass er in der wirklichen Geschichte v.a. als ein harter "Besitzindividualismus" (Macpherson) aufgetreten ist, dem es um die (auch gewaltsame und disziplinäre) Absicherung ungleicher Eigentumsverhältnisse ging. In Foucaults Darstellung, die in der Literatur weithin wegen ihrer Überwindung der "Ideologiekritik" gelobt wird, wird nicht mehr nach der ideologischen Funktionsweise des Liberalismus im Ensemble bürgerlicher Herrschaft gefragt. Die sog. "Gouvernementalitäts-Studien" werden diese Tendenz zur unkritisch-einfühlenden Nacherzählung beerben und auf ihre Darstellungen des gegenwärtigen Neoliberalismus übertragen.[7]
Dabei wäre das phänomenologische Nachzeichnen von Führungskonzepten ein durchaus wichtiger Schritt im Rahmen einer "immanten Kritik", die man mit Adorno als "Konfrontation dessen, als was eine Gesellschaft auftritt und was sie ist", verstehen könnte ("Einleitung zum Positivismusstreit", GS 8, 347). Dies hätte zur Voraussetzung, die Beschreibung eines solchen Selbstverständnisses nicht fürs Ganze zu erklären und zur Überwindung von Ideologiekritik und Ideologietheorie aufzublasen. Das tut Foucault, wenn er seine "Gouvernementalität" (wie zuvor schon die "Disziplin") dazu benutzt, um den Ideologiebegriff auszuhebeln (z.B. 312). Er beansprucht das gesamte Terrain einer Ideologietheorie und umgeht es zugleich, indem er die Texte aus ihren Zusammenhängen mit der Herrschaft, ihren ideologischen Apparaten und Funktionsweisen herausbricht.
Wer am Kunstwort der Gouvernementalität festhalten will, sollte sich dazu durchringen, aus dieser Doppeldeutigkeit herauszutreten: entweder man verwendet es als Synonym für einen materialistischen Begriff des Ideologischen, mit dem dann auch wirklich das Ensemble der ideologischen Mächte, Rituale und Praxen zu untersuchen wäre, oder man gebraucht es in einem bescheideneren Sinn, der auch dem tatsächlichen forschungspraktischen Einsatz bei Foucault entspricht, nämlich als Führungsstrategie, soweit und wie sie in Texten reflektiert wird: "reflexives Prisma" (I, 399) eines hegemonialen Projekts und seiner Führungsprinzipien.

Literatur

Adorno, Theodor, Gesammelte Schriften, 20 Bde., hgg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M 1973ff (zit. GS)
Althusser, Louis, Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg-Berlin 1977 (zit. ISA)
Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann u. Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M 2000
Burchell, Graham, Colin Gordon u. Peter Miller (Hg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality, Chicago 1991
Engemann, J., Art. "Hirt", in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 15, Stuttgart 1991, Sp. 577-607
Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (1976), Frankfurt/M 1983 (zit. WzW)
ders., In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-76, Frankfurt/M 1999 (zit. VdG)
ders., Dits et écrits 1954-1988, 2 Bde., Paris 2001 (zit. DE)
ders., Geschichte der Gouvernementalität, Band I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hgg. v. Michel Sennelart, aus dem Franz. von C. Brede-Konersmann u.
J. Schröder, Frankfurt/M, 2004 (zit. I)
ders., Geschichte der Gouvernementalität, Band II: Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hgg. v. Michel Sennelart, aus dem Franz. von J. Schröder, Frankfurt/M 2004 (zit. II)
Gordon, Colin, "Governmental Rationality: An Introduction", in: Burchell, G. u.a. (Hg.) 1991, 1-51
Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, hgg. v. Klaus Bochmann u. W.F. Haug, Hamburg 1991ff (zit. Gef)
Haug, Wolfgang Fritz, Elemente einer Theorie des Ideologischen, Hamburg-Berlin 1993
Jessop, Bob, "Pouvoir et stratégies chez Poulantzas et Foucault", in: Actuel Marx 36, 2004, 89-108
Langemeyer, Ines, "Subjektivität und kollektive Erfahrung. Subjektivierung als Machtinstrument im Produktionsprozess", in: Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik 46, 24. Jg., 2004, 65-78
Lemke, Thomas, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997
Müller, Cathren, "Neoliberalismus als Selbstführung. Anmerkungen zu den ›Governmentality Studies‹", in: Das Argument 249, 45. Jg., H. 1, 2003, 98-106
Poulantzas, Nicos, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, sozialistische Demokratie, Hamburg 1978
Projekt Ideologietheorie, Theorien über Ideologie, Hamburg-Berlin 1979 (zit. PIT)
Rehmann, Jan, Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion, Hamburg 2004
ders., "Herrschaft und Subjektion im Neoliberalismus - Die uneingelösten Versprechen des späten Foucault und der ›Gouvernementalitäts-Studien‹", in: Ch. Kaindl (Hg.), Neoliberalismus und Subjekt, Marburg 2005, i.E.
Taubes, Jakob, Die politische Theologie des Paulus, München 1995
Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1921), 5. Aufl., hgg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1980 (zit. WuG)

1 Bisher lagen nur einige Teilstücke veröffentlicht vor: die Zusammenfassungen der Vorlesungsreihen (in DE II, Nr. 255 u. 274), die 4. Vorlesung aus der ersten Vorlesungsreihe vom 1. Februar 1978, in der der Begriff der Gouvernementalität eingeführt wurde, und Auszüge aus der Vorlesung vom 31. Januar 1979 zur "Staatsphobie" (deutsch in Bröckling u.a. 2000, 41ff, 68ff). Für alles andere musste man sich auf die Darstellungen derjenigen verlassen, die die Manuskripte und Tonbänder im Pariser Foucault-Archiv studierten (englisch zuerst Colin Gordon 1991, deutsch v.a. Lemke 1997).
2 Dafür steht z.B. seine Bemerkung, die Unterscheidung zwischen Herrschaftsmacht und kollektiver Handlungsmacht sei lediglich "verbal" (DE II, Nr. 341, 1408). Zudem unterscheidet der späte Foucault Macht und Herrschaft meist nicht analytisch, sondern quantitativ nach Ausdehnung (ebd., 1062, 1529).
3 Vgl. WzW 166f; ähnlich auch in der Vorlesungsreihe Zur Verteidigung der Gesellschaft von 1975/76 (VdG 279ff).
4 Zur Auswertung von PoulantzasÂ’ Kritik an Foucaults Machtbegriff vgl. Rehmann 2004, 177f.
5 Vgl. Gef, H. 1, §150; H. 8, §36; H. 10.II, §41 u. §61; H. 13, §27; H. 15, §59.
6 Zum Begriff der "antagonistischen Reklamation des Gemeinwesens" vgl. Haug 1993, 84.
7 Zur Kritik vgl. Müller 2003, Langemeyer 2004, Rehmann 2005.

Aus: Das Argument 261, 47. Jg., 2005, H. 3, 361-69