Kämpferische Stimmung und blinde Flecke

Bemerkenswert kämpferisch gab sich die WASG auf ihrem Sonderparteitag am 3.Juli in Kassel. Nichts sei wirkungsmächtiger, so Oskar Lafontaine in seinem "Impulsreferat" vor über 300 Delegierten, "als eine Idee, deren Zeit gekommen ist". Auch wenn die neue Linkspartei aus WASG, PDS und anderen noch nicht gegründet oder im Bundestag vertreten sei, bei den Menschen sei die "einzige glaubwürdige Kraft, die dem Sozialabbau in dieser Republik Widerstand leistet" bereits angekommen.
Mit Verve entfaltete der alle überstrahlende Lafontaine das sozialpolitische Programm der WASG, dessen Mitglied und Spitzenkandidat er seit kurzem ist. Eine lohnpolitische Offensive forderte Lafontaine und eine Umkehr bei der Steuer- und Finanzpolitik, die Schluss machen müsse mit der Umverteilung von unten nach oben und stattdessen von oben nach unten umverteile. Ausführlicher skizzierte er eine Reform der sozialen Versicherungssysteme, die statt Kahlschlag und Leistungskürzungen auf die Besteuerung der Reichen, auf Mindestlöhne und eine Bürgerversicherung setzt, die alle gesellschaftlichen Gruppen nach solidarischen Prinzipien einbeziehe. Eine Partei der Rentner, Arbeitnehmer und Erwerbslosen wolle man sein, aber auch die kleinen Mittelständler ansprechen, die zu den Opfern der herrschenden Politik und damit zur Klientel der WASG gehörten.
Einmal mehr zu kurz kamen hierbei andere gesellschaftspolitische Fragen. Ausgerechnet die junge Vertreterin des PDS-Vorstands wies die Versammlung auf einen gemeinsamen Aufruf linker Gruppen und Individuen hin, die der neuen Linkspartei ihre Sympathie versicherten, aber darauf hinwiesen, dass die Thematisierung der sozialen Frage nicht auf Kosten der Migranten geschehen dürfe.
Auch die Geschlechterpolitik brandete kurz und heftig auf, als Widerstände gegen eine quotierte Redeliste deutlich hörbar wurden. Dass die WASG noch immer eine überwiegend männliche ist (22% der Mitgliedschaft sind weiblich) und die diesbezüglichen Versäumnisse der deutschen Gewerkschaftsbewegung weiter transportiert, war ebenso deutlich, wie die Tatsache, dass sie diese Tradition wohl kaum länger wird aufrechterhalten können.
Lafontaine verteidigte in seiner Rede zwar seine umstrittene Benutzung des Begriffs "Fremdarbeiter", machte allerdings überdeutlich, dass er damit nicht die Arbeitsmigranten als Lohndrücker attackieren wollte. Die Lohndrücker sind für ihn die Unternehmer, die Menschen auf diese Weise ausbeuten und gegeneinander ausspielen. Immer wieder griff er deswegen die Unternehmer und ihre Apologeten an. Und erneut plädierte er für die endgültige Abschaffung des noch immer vorherrschenden alten Bluts- und Abstammungsrecht in der Staatsbürgerfrage und wetterte gegen völkerrechtswidrige Angriffskriege.
Gegen die in der WASG massiv geäußerten Vorbehalte gegen die PDS wandte er zu Recht ein, dass man die PDS nicht an ihrer Vergangenheit messen dürfe, sondern sich mit ihrer heutigen politischen Programmatik und Praxis auseinandersetzen müsse. Gerade hier jedoch wurde auch der blinde Fleck dieser Auseinandersetzung überdeutlich. Denn daran, dass die PDS die letzte Partei auf Länderebene ist, die den Neoliberalismus der SPD (in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern) nicht nur toleriert, sondern aktiv mitbetreibt, wurde fast gar keine Kritik geübt.
Das über die Verhandlungen mit der PDS Bericht erstattende WASG-Vorstandsmitglied Thomas Händel ging sogar so weit, wahrheitswidrig zu behaupten, dass eine gemeinsame, gleichberechtigte Wahlpartei an nicht zu überwindenden rechtlichen Fragen gescheitert sei, während bspw. der an diesen Verhandlungen beteiligte Jurist Detlef Hensche in der linken Presse offen erklärt hat, dass dieses Projekt vor allem am politischen Widerstand der PDS-Führung gescheitert sei.
Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der PDS und ihrer Politik findet bisher also kaum statt. Genau hieraus zieht allerdings jene Minderheit einen Gutteil ihrer Resonanz, die auch in Kassel massiv gegen die "SED-PDS" und den "Egomanen" Lafontaine zu Felde zog. Dass einer ihrer Vertreter in einer längeren Gegenrede lauthals gegen "die Linken" und "die Sozialisten" wetterte und nach dem alten Motto "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn" behauptete, es gäbe keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, zeigte aber auch, wes Geistes Kind dort agiert.
Ein weiteres Strukturmanko der jungen Partei wurde hier abermals deutlich. Man lässt sich von den herrschenden "Sachzwängen" des Bundestagswahlkampfs offensichtlich so einschüchtern, dass unter dem Diktat vermeintlich fehlender Zeit keine richtige Diskussionskultur in der Partei wie auf ihren Parteitagen aufkommen kann. Auch hieraus speist sich mancher Unmut an der Basis.
Und so ging man nach kurzer heftiger Debatte wieder auseinander. Beschlossen hatte man ein Wahlmanifest, dass "die Erhaltung und die grundlegende Erneuerung des Sozialstaats" ebenso fordert, wie es dem Kapitalismus "soziale und ökologische Schranken setzen und die Macht des Kapitals zurückdrängen" möchte: "An einer Regierung im Bund werden wir uns nur dann beteiligen, wenn dies zu einem grundlegenden Politikwechsel in Richtung unserer Forderungen führt. Wir werden uns nicht an einer Regierung beteiligen oder sie tolerieren, die Sozialabbau betreibt."
Und beschlossen hatte man bis dahin auch, dass die Mehrheit der WASG-Delegierten die gemeinsame Wahlkandidatur auf den offenen Listen der umbenannten PDS unterstützt und dass eine Mitgliederurabstimmung dies absegnen soll.
Perspektivisch will man eine neue politische Partei, "die für alle politischen Strömungen und Tendenzen der demokratischen Linken offen ist" und vor und nach den Bundestagswahlen auf gemeinsamen, und für andere offenen Foren die Perspektiven einer zukünftig gemeinsamen Politik ausloten.