Wann ist der Mensch ein Mensch?

Leo Kofler: Vom aufklärerischen zum sozialistischen Humanismus. - Ernest Mandel: Von der entfremdeten Arbeit zur schöpferischen Praxis.

Leo Kofler Vom aufklärerischen zum sozialistischen Humanismus (1951)

Der Staatsbürger, dem das öffentliche Interesse vorangeht, und der Bürger als auf sich gestelltes Individuum, dem die Befriedigung des egoistischen Interesses alles ist, waren für die bürgerlich-revolutionären Denker der Aufklärung noch nicht im Verhältnis des Widerspruchs zueinander stehende Begriffe. Zwar kommt die Unterscheidung zwischen dem citoyen und dem bourgeois im 18.Jahrhundert schon vor - z.B. bei Rousseau - aber sie steht zumeist ganz in Übereinstimmung mit der harmonistischen Vorstellung, dass gerade das Ausleben der egoistischen Motive der Individuen die Grundlage für das Sichdurchsetzen jenes "Naturgesetzes" bilde, dessen Ergebnis die gesellschaftliche Harmonie sein müsse. In dieser Vorstellungsweise lag sowohl die Stärke als auch die Schwäche des aufklärerischen Humanismus der Zeit der Enzyklopädie.

Im Gegensatz zur feudalen Welt, in der die Beziehung zwischen den Individuen und Klassen eine ständisch-gebundene war und die gegenseitigen Verpflichtungen auf einem, allerdings durch ein "traditionelles Recht" beschönigten Zwangsverhältnis beruhte, agiert in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum als völlig freier Vertragspartner, dessen Freiheit aus seiner Eigenschaft resultiert, Warenbesitzer wie jeder andere auch zu sein. Es ist hierbei völlig gleichgültig, ob die Waren, die das um seine Existenz besorgte Individuum anzubieten hat, Schuhe, Geistesprodukte oder die bloße Arbeitskraft sind. Das bürgerliche Recht hat sich dieser Tatsache voll angepasst und eine Form entwickelt, die sowohl individualistisch als auch freiheitlich in dem Sinne ist, dass es sich in die Belange des freien Vertragsabschlusses, wie er millionenfach "auf dem Markte" zustande kommt, nicht einmischt. Aber diese Respektierung der Freiheit schließt auch die Anerkennung der Gleichheit der Individuen in sich. Das bürgerliche Recht ist daher individualistisch, freiheitlich und gleichheitlich in einem. Die bürgerliche Demokratie ist die politische Inkarnation der kapitalistischen Warenstruktur und ihres Rechtsausdrucks.

Solange die bürgerliche Revolution gegen die feudale Gesellschaft noch nicht vollzogen war, traten vor allem die französischen Aufklärer des 18.Jahrhunderts für die staatliche Anerkennung des bürgerlichen Rechts und für die Einführung der Demokratie ein. Beides erschien ihnen als die unerlässliche Garantie für die unumschränkte Handlungsfreiheit des Individuums, die wiederum jenen Ausgleich der Interessen, und das bedeutet für sie die aus der Gegensätzlichkeit der Interessen herauswachsende gesellschaftliche Harmonie, zur Folge haben würde, wie sie dann notwendigerweise allen (!) Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen müsse. Die aufklärerischen Humanisten dachten hierbei keineswegs einseitig ökonomistisch. Zwar lag ihnen das wirtschaftliche Wohl nicht zuletzt auch der Besitzlosen, die ihrer Meinung nach durch die künftige freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft zu Eigentum kommen würden, sehr am Herzen. Was sie aber noch mehr bewegte und als revolutionäre Individualisten bewegen musste, war ihr Traum, dass auf der Grundlage der wirtschaftlichen Harmonisierung der Gesellschaft sich der Mensch nicht nur der Freiheit und des Wohlstandes erfreuen, sondern darüber hinaus und unter Ausnützung dieser Gegebenheiten seine individuellen Kräfte und Anlagen in ungeahnter Weise zur Entfaltung bringen werde. Es ging also letzten Endes den großen Humanisten und Enzyklopädisten der Aufklärungszeit um die Wiederherstellung der im Laufe der Geschichte zerstörten menschlichen Individualität, um die Entwicklung dessen, was sie "Persönlichkeit" nannten.

Ihre optimistische Vorstellung von der künftigen Entwicklung des Menschengeschlechts litt aber vornehmlich daran, dass sie sich zum kapitalistischen Eigentum, das sich vor ihren Augen entfaltete und dessen Bewunderer sie verständlicherweise als Verteidiger des bürgerlichen Aufstiegs gegen den feudalen Verfall sein mussten, völlig unkritisch verhielten. Ihre Idee von der künftigen Teilnahme aller Menschen am wirtschaftlichen Wohlstande der Gesellschaft war daher abstrakt und unbestimmt. Ebenso wie sie in der Arbeitsteilung nur die reichtumsvermehrende Kraft erkannten, aber ihre unmenschliche, weil die Totalität der Persönlichkeit zerstörende und den Menschen deformierende Wirkung übersahen, genau so übersahen sie im gesamten die in der Entwicklung des kapitalistischen Betriebs liegenden, für die große Masse der Arbeitenden verhängnisvollen Folgen. Sie sahen nur die formale Gleichheit des in der Form des "freien Vertrags" über sich selbst verfügenden Individuums (des Warenbesitzers), aber nicht, dass "die Republik des Marktes die Despotie der Fabrik deckt" (Paschukanis). Dieses Sichabfinden mit den unmenschlichen Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung stand in einem offenbaren Widerspruch zu den optimistisch-humanistischen Vorstellungen, die die Aufklärer um den Menschen woben.

Das wunderbare Menschenbild, das die bürgerlichen Humanisten malten, zerschellte nach der Revolution an den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die bürgerliche Klasse, längst einem einseitig- praktizistischen Egoismus verfallen, hat es verstanden, auch die Masse der bürgerlichen Ideologen in ihre Niederungen zu ziehen. Über das 18.Jahrhundert wird als über das "vernünftlerische", "unhistorische" und im "Aufkläricht" versinkende Zeitalter gehöhnt, um sich desto besser gegen dessen Humanismus abschirmen zu können.

Das Erbe des alten bürgerlichen Humanismus hat nicht das heutige Bürgertum, sondern der wissenschaftliche Sozialismus und seine politische Verkörperung, die sozialistische Bewegung angetreten. Wir unterstreichen diese Behauptung gegen die stalinistischen Verfälscher der sozialistischen Lehre, die eine solche Kontinuität zwischen dem alten bürgerlichen und modernen sozialistischen Humanismus verleugnen. So scharf in theoretisch-methodischer Beziehung der "alte Materialismus" durch Marx kritisiert wird, so wahr ist es doch, dass das Menschenbild, das er geprägt hat, in die Grundvorstellung des marxistischen Sozialismus übergegangen ist.

Hier sei nur darauf hingewiesen, dass der Marxismus sich keineswegs mit der Lösung des ökonomischen Problems allein, wie vielfach angenommen wird, begnügt, sondern diese Lösung nur als allgemeine, wenn auch unerlässliche Voraussetzung für die "Verwirklichung des Menschen" betrachtet. Wenn Marx z.B. an John Bellers (einem Quäker des ausgehenden 17.Jahrhunderts) lobt, er habe bereits den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Erziehung in kritischer Weise erkannt, wenn er mit Engels die verheerende Wirkung der Arbeitsteilung im kapitalistischen Betrieb immer wieder schärfstens kritisiert, und wenn er in völliger Übereinstimmung mit Schiller im Kapital vom Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte als Ausdruck des Zusichkommens des Menschen und der Wiederherstellung seiner "Totalität" spricht, so wird es klar, dass es hierbei um nichts anderes als um die Freiheit und Befreiung der allseitig entwicklungsfähigen menschlichen Individualität, um das Menschsein des Menschen im höchsten und besten Sinne, geht.

Marx sagt einmal, dass unsere Gesellschaft eine Klasse von Menschen hervorgebracht hat, "welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann". Damit hat er nicht minder den großen bürgerlichen Aufklärern der Vergangenheit aus dem Herzen gesprochen. Er hat aber auch nachgewiesen, dass nur "innerhalb der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen, worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist", das über die Jahrhunderte hinweg wirkende große humanistische Ideal verwirklicht werden kann.

Ernest Mandel - Von der entfremdeten Arbeit zur schöpferischen Praxis (1962)

Das Ziel des Sozialismus kann nicht die Vermenschlichung der Arbeit sein, genauso wenig wie sein Ziel die Verbesserung der Löhne oder die Besserstellung der Arbeiterklasse sein kann. Das alles sind nur Übergangsstufen, Notbehelfe, Halbheiten. Eine moderne Fabrik stellt niemals eine "normale" oder "humane" Umgebung für den Menschen dar, mag die Arbeitszeit auch noch so herabgesetzt, mögen die Räume und die Maschinen noch so sehr den Bedürfnissen des Menschen angepasst werden. Der Prozess der Vermenschlichung des Menschen wird erst vollendet sein, wenn die Arbeit abgestorben ist und der schöpferischen Praxis Platz gemacht hat, die einzig darauf ausgerichtet ist, universell entwickelte Menschen hervorzubringen.

Lange Zeit wurde der homo faber, der Werkzeuge produzierende Mensch, als der wirkliche Schöpfer der Zivilisation und der menschlichen Kultur angesehen. Der holländische Historiker Huizinga dagegen hat ohne Bedenken einen dieser Tradition entgegengesetzten Weg eingeschlagen, als er im homo ludens, im spielenden Menschen, den wahren Schöpfer der Kultur sah.

Der Marxismus, der durch die gesamte gegenwärtige Anthropologie und zum Großteil auch durch die freudsche Psychologie eine glänzende Bestätigung erfahren hat, erlaubt es, diese beiden Auffassungen, die zwei grundlegende Aspekte der Menschheitsgeschichte widerspiegeln, zu vereinen. Ursprünglich war der Mensch homo faber und homo ludens zugleich. Der homo faber hat weder die nötigen Hilfsquellen noch die Muße zum Spiel, zur freien Schöpfung und zur spontanen, uneigennützigen Anwendung seiner Fähigkeit, also zu dem, was gerade das Merkmal der menschlichen Praxis ist. Der homo ludens dagegen wird immer mehr durch die privilegierten, d.h. die besitzenden und die von diesen unterhaltenden Klassen verkörpert. Aus eben diesem Grund wird er zum Opfer einer besonderen Entfremdung. Sein Spiel verwandelt sich immer mehr und mehr in ein trauriges Spiel und bleibt dies selbst in den großen Jahrhunderten des gesellschaftlichen Optimismus (bspw. dem 16. und dem 19.Jahrhundert). Vom Zwang der Routinearbeit befreit und zurückgekehrt in den Schoß der Gemeinschaft, wird der sozialistische Mensch wieder zum homo faber und zum homo ludens zugleich. Er verwandelt sich zunehmend in den homo ludens, doch ist er gleichzeitig auch homo faber. Bereits heute bemüht man sich, in bestimmte Arbeiten ein Moment des "Spiels", ins Spiel aber ein Moment "ernsthafter Arbeit" einzuführen. Die Abschaffung der Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes bedeutet gleichzeitig einen neuen Aufschwung der wichtigsten Produktivkraft: der schöpferischen Kraft des Menschen. Die materielle Uneigennützigkeit wird durch eine schöpferische Spontaneität gekrönt, in der sich das Spiel des Kindes, der Elan des Künstlers und das Heureka des Gelehrten vereinen.

Für die Bourgeoisie ist Besitz gleichbedeutend mit Freiheit. In einer "atomistischen" Gesellschaft von Warenbesitzern ist diese Definition auch weitgehend richtig. Allein der (ausreichende) Besitz befreit die Individuen von dem Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können, von der Verdammung zur Zwangsarbeit. Aus diesem Grund setzen sich sowohl bürgerliche Philanthropen als auch Demagogen für das Hirngespinst der "Entproletarisierung" durch "Eigentumsstreuung" ein.

Vulgärmarxisten haben einen berühmten, auch von Engels aufgegriffenen Satz Hegels, demzufolge Freiheit "Einsicht in die Notwendigkeit" ist, aus seinem Zusammenhang gerissen und in einem Sinne interpretiert, dass der sozialistische Mensch genau den gleichen "ehernen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten" ausgesetzt sei wie der Mensch im Kapitalismus - mit dem einzigen Unterschied, dass sich der sozialistische Mensch dieser Gesetze bewusst sei und versuche, sie "zu seinen Gunsten auszunützen". Diese positivistische Variante des Marxismus hat nichts gemein mit der wirklichen humanistischen Tradition von Marx und Engels, mit der Kühnheit ihrer Analyse und der Tiefe ihres in die Zukunft gerichteten Blicks. Marx und Engels haben mehr als einmal wiederholt, dass das Reich der Freiheit dort beginnt, wo das der Notwendigkeit endet. Selbst in der sozialistischen Gesellschaft bleibt die Fabrikarbeit eine traurige Notwendigkeit; die wirkliche Freiheit entfaltet sich nur in den Mußestunden. In dem Maße, wie die Arbeit im traditionellen Sinn des Wortes abstirbt, wird sie durch eine schöpferische Praxis universell entwickelter und gesellschaftlich integrierter Persönlichkeiten ersetzt. Je mehr sich der Mensch von seinen Bedürfnissen befreit, indem er sie befriedigt, desto mehr "weicht das Reich der Notwendigkeit dem Reich der Freiheit".

Die menschliche Freiheit ist weder ein "freiwillig gutgeheißener" Zwang noch die Summe instinktiver und schrankenloser Handlungen, die das Individuum erniedrigen würden. Sie ist die Selbstverwirklichung des Menschen, die nichts anderes darstellt als ein ewiges Werden und Vergehen, eine fortwährende Bereicherung all dessen, was menschlich ist, eine universelle Entwicklung aller menschlichen Fähigkeiten und Anlagen. Sie ist weder die absolute Ruhe noch das "vollkommene Glück"; sie ist vielmehr, nach Jahrtausenden menschenunwürdiger Konflikte, der Beginn des wirklichen "menschlichen Dramas". Sie ist eine Hymne zum Ruhme des Menschen, gesungen von Menschen, die sich ihrer Grenzen bewusst sind und aus diesem Bewusstsein den Mut schöpfen, sie zu überwinden.

Der Text von Leo Kofler erschien zuerst unter dem Titel "Der aufklärerische und der sozialistische Humanismus" in: Aufklärung, Heft 5, 1951. Ungekürzt auf www.leo-kofler.de.

Der Beitrag von Ernest Mandel ist ein Auszug aus dem Kapitel "Grenzen des Menschen?" der Marxistischen Wirtschaftstheorie (1962 im französischen Original, 1968 auf deutsch erschienen). Zum 10.Todestag erscheint dieser Tage im Neuen ISP Verlag ein Reprint des dicken Klassikers.